CC BY-NC-ND 4.0 · Gesundheitswesen 2024; 86(S 01): S1-S2
DOI: 10.1055/a-2189-0322
Editorial

Pflegebedürftigkeit im Alter – Implikationen für das Gesundheitswesen

Anna Pendergrass
1   Zentrum für Medizinische Versorgungsforschung, Bereich Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, Psychiatrische Universitätsklinik Erlangen
,
Elmar Gräßel
1   Zentrum für Medizinische Versorgungsforschung, Bereich Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, Psychiatrische Universitätsklinik Erlangen
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Liebe Kolleginnen und Kollegen,

liebe Leserinnen und Leser,

in Deutschland weisen knapp fünf Millionen Menschen einen Pflegegrad auf und gelten somit im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes als pflegebedürftig. Über 80 % davon werden zu Hause versorgt – der Großteil überwiegend durch An- und Zugehörige, die in diesem Editorial als Pflegende bezeichnet werden. In sechs für die Weiterentwicklung der Versorgungssituation und für die Politik bedeutsamen Beiträgen soll die häusliche Pflege beleuchtet werden. Dabei sind die Beiträge durch eine methodische und inhaltliche Vielfalt gekennzeichnet. Sie beruhen auf einer Sekundärdatenanalyse von Daten, die im Rahmen der von der G. u. I. Leifheit-Stiftung geförderten Studie „Benefits of Being a Caregiver“ („Zugewinne durch die Pflege“) erhoben wurden. Für diese Querschnittsstudie wurden zwischen Oktober 2019 und März 2020 insgesamt 5.000 Fragebögen von 50 Pflegegutachtenden des Medizinischen Diensts (MD) Bayern an pflegende An-und Zugehörige – repräsentativ für das Bundesland Bayern – verteilt. Die Befragten betreuten oder pflegten eine gesetzlich versicherte Person, die beim MD entweder einen Erstantrag oder einen Antrag auf Erhöhung des Pflegegrads nach Sozialgesetzbuch XI gestellt hatte.


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Die Beiträge konzentrieren sich auf drei relevante Themengebiete der häuslichen Pflege. Im ersten Abschnitt werden der aktuelle Pflegebedürftigkeitsbegriff und die Merkmale der Pflegegrade analysiert. Im zweiten Abschnitt werden die ambulanten Entlastungsangebote und ihre allgemeine Inanspruchnahme näher betrachtet. Vertieft werden in diesem Zusammenhang die Charakteristika der Nutzung des ambulanten Pflegedienstes und der Tagespflege. Im letzten Abschnitt geht es um die Zusammenhänge zwischen der häuslichen Pflege und der Erwerbstätigkeit der Pflegenden. Gerade im Hinblick auf die steigende Zahl der Pflegebedürftigen und den immer größer werdenden Fachkräftemangel in Deutschland sind wissenschaftlich fundierte Ergebnisse unerlässlich, um dieser Entwicklung sozialpolitisch wirksam entgegenwirken zu können.

Keck et al. beschreiben in ihrem Artikel die für die Pflegegrade charakteristische Angehörigen-, Pflege- und Versorgungssituation. Die Ergebnisse zeigen, dass der Bedarf von Menschen mit Demenz durch den aktuellen Pflegebedürftigkeitsbegriff und die Pflegegrade deutlich abgebildet wird. Gleichzeitig erweist sich der Zeitaufwand für die Unterstützung bei Aktivitäten des täglichen Lebens als ein ausschlaggebender Faktor für die Zuweisung des Grades der Pflegebedürftigkeit. Obwohl die Pflegegrade die steigende Belastung Pflegender abbilden, werden Entlastungsangebote insgesamt nur minderheitlich genutzt [1].

Scheerbaum et al. vertiefen die Ergebnisse von Keck et al. und vergleichen in einem ersten Überblick die gegenwärtige und die künftig beabsichtigte Inanspruchnahme von acht ambulanten Entlastungsangeboten für Pflegebedürftige und deren Pflegende. Es wird berichtet, dass zwei Fünftel der Pflegenden gegenwärtig keines der untersuchten ambulanten Entlastungs- bzw. Unterstützungsangebote nutzen. Jedoch möchte die Mehrheit dieser bisherigen Nicht-Nutzenden mindestens zwei der Angebote in Zukunft in Anspruch nehmen. Die Ergebnisse zeigen, dass zwischen der gegenwärtigen Inanspruchnahme der Nutzenden und der künftig beabsichtigten Inanspruchnahme der Nicht-Nutzenden bei allen Angeboten, bis auf den ambulanten Pflegedienst, eine deutliche Diskrepanz vorliegt. Dies legt nahe, dass in den nächsten Jahren auf Deutschland eine erhöhte Nachfrage nach ambulanten Entlastungsleistungen zukommen wird. Die Ergebnisse zeigen ferner, dass Pflegende von Pflegebedürftigen mit Demenz subjektiv und objektiv stärker belastet sind [2].

In einem weiteren Beitrag von Scheerbaum et al. werden die Charakteristika für die Nutzung des ambulanten Pflegedienstes unter die Lupe genommen, denn der ambulante Pflegedienst ist mit über 1 Mio. Nutzenden das am häufigsten genutzte Unterstützungs-/Entlastungsangebot in Deutschland. Es wird berichtet, dass Pflegende, die bisher keine Sachleistungen erhalten, bereits einen zukünftigen Bedarf nach Unterstützung seitens des ambulanten Pflegedienstes angeben. Etwa die Hälfte der Pflegenden, die in Zukunft die Nutzung beabsichtigt, pflegt eine Person ohne Pflegegrad beziehungsweise mit dem Pflegegrad 1. Dieser künftige Bedarf muss entsprechend gedeckt werden, indem ausreichend professionelle Pflegekräfte angeworben und ausgebildet werden [3].

In dem Beitrag von Bösl et al. wird das Nutzungsverhalten eines weiteren ambulanten Entlastungsangebots – der Tagespflege – genauer evaluiert. Gemäß der „Maßstäbe und Grundsätze zur Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalität in der teilstationären Pflege“ dient auch die Tagespflege der Förderung und Betreuung pflegebedürftiger Personen sowie der Entlastung Pflegender. Gemäß dem Pflegestärkungsgesetz I und II soll die Zahl derjenigen, die eine Tagespflege besuchen, gesteigert werden. In ihrem Beitrag zeigen Bösl et al. auf, dass Tagespflegeangebote derzeit häufig von Pflegenden, die einen Menschen mit Demenz oder mit einem hohen Pflegegrad versorgen, genutzt werden. Zwar schildern etwa ein Viertel der Befragten einen Wunsch nach zukünftiger Nutzung, insgesamt möchten jedoch zwei Drittel der Pflegenden weder gegenwärtig noch zukünftig eine Tagespflege in Anspruch nehmen. Es sollte daher überprüft werden, inwiefern die bestehenden Tagespflegekonzepte an eine zunehmende bzw. ausgeprägte Pflegebedürftigkeit der Besucher*innen angepasst werden müssen und wie die Tagespflegenutzung grundsätzlich weiter gefördert werden kann [4].

Gemäß dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend pflegen circa 2,5 Millionen Pflegende neben ihrer Erwerbstätigkeit pflegebedürftige An- und Zugehörige. Aufgrund der Mehrfachbelastungen erfahren die Pflegenden jedoch häufig negative Auswirkungen auf ihren Erwerbstätigkeitsstatus. Sie sehen sich mit der Erwerbstätigkeitsaufgabe oder einer Erwerbstätigkeitsreduzierung konfrontiert.

Scheuermann et al. berichten in ihrem ersten Artikel über das Risikoprofil, das mit einer pflegebedingten Beendigung der Erwerbstätigkeit assoziiert ist. Die Ergebnisse zeigen, dass jede*r neunte Pflegende die Erwerbstätigkeit pflegebedingt beendet hat. Ein für das Risikoprofil bedeutsamer Faktor war das weibliche Geschlecht der Pflegenden. Hochgerechnet auf die Gesamtpopulation der Pflegenden in Deutschland haben etwa 370.000 erwerbstätige Frauen ihre Erwerbstätigkeit aufgrund der häuslichen Pflege eines älteren Menschen beendet. Die Ergebnisse zeigen, dass ein bedürfnisgerechter Ausbau der Entlastungsangebote – insbesondere für weibliche erwerbstätige Pflegende – erforderlich ist, um eine bessere Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und häuslicher Pflege zu ermöglichen [5].

In ihrem zweiten Artikel berichten Scheuermann et al. über die mit einer pflegebedingten Reduktion der Erwerbstätigkeit assoziierten Faktoren und die arbeitsbezogenen Wünsche erwerbstätiger Pflegender. Die Ergebnisse zeigen, dass ungefähr ein Viertel der erwerbstätigen Pflegenden den Umfang ihrer Erwerbstätigkeit pflegebedingt reduziert hat, wobei deskriptiv eine kritische Schwelle für die pflegebedingte Reduktion bei 30 Arbeitsstunden identifiziert werden konnte. Auf Grundlage dieser Ergebnisse zeigt sich, dass die Unterstützungsangebote für erwerbstätige Pflegende vor allem auf eine Entlastung hinsichtlich des Pflegeaufwandes abzielen sollten. Darüber hinaus sollten wirksame Maßnahmen entwickelt werden, um in Vollzeit erwerbstätigen Pflegenden eine Reduktion auf 30 Arbeitsstunden – oder weniger – pro Woche zu ermöglichen [6].

Wie aus den Ergebnissen der Beiträge deutlich wird, war die Weiterentwicklung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs wichtig; dieser wird durch die Pflegegrade differenzierter als früher abgebildet. In dem Bereich der ambulanten Entlastungsangebote gibt es jedoch einen akuten Handlungsbedarf. So müssen diese Angebote in den nächsten Jahren massiv ausgebaut werden, um die häusliche Pflegesituation aufrecht zu erhalten. Gleichzeitig wird durch die Beiträge zum Thema Erwerbstätigkeit und Pflege deutlich, wie viele Pflegende aufgrund der Pflege in die Erwerbstätigkeitsreduzierung oder sogar zur Aufgabe ihrer Erwerbstätigkeit gezwungen werden. Dies führt nicht nur bei den direkt betroffenen Pflegenden eventuell zu persönlichen finanziellen Einbußen, sondern hat auch für den Wirtschaftsstandort Deutschland negative Auswirkungen, da Fachkräfte wegen der Pflege ihre Arbeitsstunden reduzieren oder ganz aufgeben.

Die Gastherausgeber bedanken sich ganz herzlich bei der G. u. I. Leifheit-Stiftung, bei der Reinhard Frank-Stiftung und bei der Universitätsbibliothek der FAU Erlangen-Nürnberg. Ohne deren finanzielle Unterstützung wäre das Erscheinen dieses Supplement-Heftes nicht möglich gewesen.

Eine anregende Lektüre wünschen Ihnen

Anna Pendergrass und Elmar Gräßel


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Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Dr. Anna Pendergrass
Zentrum für Medizinische Versorgungsforschung
Bereich Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie
Psychiatrische Universitätsklinik Erlangen
Schwabachanlage 6
91054 Erlangen

Publication History

Article published online:
23 February 2024

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