Z Sex Forsch 2005; 18(1): 14-17
DOI: 10.1055/s-2005-836435
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Jenseits von Lüsternheit und Prüderie

S. Becker
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Publication Date:
14 April 2005 (online)

Angesichts der vielen proklamierten oder tatsächlichen sexuellen Revolutionen liegt die Annahme nahe, dass ein 100 Jahre alter Text über Sexualität uns heute nichts mehr zu sagen hat, überholt oder Allgemeingut geworden ist.

Natürlich mussten manche Aussagen der „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie” gegen den Strich gelesen, revidiert und ergänzt werden. Das gilt insbesondere für Freuds androzentrische (entsubjektivierende und entsexualisierende) Konzeption der sexuellen Entwicklung der Frau. Diese Dekonstruktion begann schon zu Freuds Lebzeiten und hat viele produktive Ergebnisse erbracht, zu denen auch die Reflexion der Gefahr von Gegen-Ideologien gehörte. Die neueren Erkenntnisse im Blick lassen sich in den „Drei Abhandlungen” hellsichtige und heute noch brauchbare Bemerkungen Freuds zur weiblichen Entwicklung finden: von den sexuellen Aspekten der Mutterliebe (inkl. der Erweckung der kindlichen Sexualität durch das, was wir seit Laplanche als „rätselhafte Botschaften” diskutieren) über klinische Beobachtungen wie die zur „scheinbaren” (weil nur partiellen) „sexuellen Anästhesie” bei Frauen bis hin zu seinen Einsichten über Weiblichkeit (auch) als Konstruktion, der innerhalb der Psychoanalyse erst viel später Ansätze zum Verständnis von Männlichkeit als Konstruktion gefolgt sind. Selbst die zunächst ärgerliche Aussage über das „unkultivierte Durchschnittsweib, bei dem die […] polymorph-perverse Veranlagung erhalten bleibt”, erweist sich bei genauerem Überdenken als nicht nur falsch: Sogar das kultivierte Durchschnittsweib zentriert seine Sexualität niemals derart auf ein Organ wie der Mann, sondern besetzt (mehr oder weniger) den ganzen Körper als ein Geschlechtsorgan.

Die „Drei Abhandlungen” enthalten aber auch vieles, was nicht nur damals revolutionär war, sondern meines Erachtens auch heute noch nichts von seiner Aktualität und Widerspenstigkeit verloren hat. Von diesen für mich zentralen Punkten will ich nur einige wenige herausgreifen:

Es gibt keine klare Grenze, sondern nur Übergänge zwischen dem Normalen/Gesunden und dem Pathologischen (Neurotischen/Perversen). Der anti-normative Charakter dieser Position, die sich wie ein roter Faden durch die „Drei Abhandlungen” zieht, besteht vor allem darin, dass sie die grundsätzliche Konflikthaftigkeit auch der „günstigsten” Entwicklung betont und die jeder „Normalität” inhärenten Abwehrbewegungen aufzeigt. Daran festzuhalten scheint mir in der heutigen Zeit (in der ein inflationärer Traumabegriff und Defektmodelle die Auffassung von psychischen Störungen dominieren und auch innerhalb der Psychoanalyse der Konflikt zunehmend an Bedeutung verliert) wichtiger denn je. Angesichts des heute auch innerhalb der Sexualwissenschaft zunehmend sich durchsetzenden kruden Biologismus mutet Freuds Modell der „Ergänzungsreihe” 1: S. 141 von „konstitutionellen” bis zu „akzidentellen” Faktoren geradezu dialektisch an. Alle Menschen sind „der gleichgeschlechtlichen Objektwahl fähig” und haben „dieselbe auch im Unbewussten vollzogen” 1: S. 44 *. Auch die heterosexuelle Objektwahl ist „im Sinne der Psychoanalyse” ein „der Aufklärung bedürftiges Problem und keine Selbstverständlichkeit, der eine im Grunde chemische Anziehung zu unterlegen ist”; „die Unabhängigkeit der Objektwahl vom Geschlecht des Objekts” sei das „Ursprüngliche, aus dem sich durch Einschränkung nach der einen oder anderen Seite der normale wie der Inversionstyp entwickeln” 1: S. 44. Zudem postuliert Freud ein „gewisses Maß von Unabhängigkeit” der sexuellen Orientierung von der „Mischung der Geschlechtscharaktere im Subjekt” 1: S. 45, wobei er davon ausgeht, dass „weder im psychologischen noch im biologische Sinne eine reine Männlichkeit oder Weiblichkeit gefunden wird” 1: S. 121. Diese komplexe Position stellt mehr Fragen, als sie beantwortet, und mit den offenen Fragen sind wir nach wie vor beschäftigt: Die Zusammenhänge zwischen sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität sind auch 100 Jahre später nicht aufgeklärt, die psychoanalytischen Diskussionen zu diesen Themen bewegen sich nach wie vor auf dünnem Eis. Die in den „Drei Abhandlungen” vorgelegte Konzeption des „zweizeitigen Ansatzes der Sexualentwicklung” 1: S. 135 bzw. der sexuellen Objektwahl finde ich (ungeachtet einzelner Kritikpunkte und ergänzt um wichtige Weiterentwicklungen und Präzisierungen) nach wie vor für das Verständnis der sexuellen Entwicklung sehr hilfreich. Die Wiederbelebung der infantilen Sexualfantasien in der Pubertät, insbesondere ihre Bedeutung für die sexuellen Fantasien in der Pubertät und für die definitive Organisation der Objektwahl (das heißt die Risiken und Chancen der Neubearbeitung der Fantasien über die Urszene und die Integration dieses Prozesses in das, was heute „zentrale Onaniefantasie” genannt wird) sowie die damit zusammenhängende Lösung der infantilen Bindung an die Primärobjekte stellen für mich nach wie vor entwicklungspsychologische Eckpunkte bzw. Knotenpunkte möglichen Scheiterns dar, die (nicht nur, aber besonders) für das Verständnis sexueller Störungen wichtige Orientierungen geben. Last but not least: Das Wichtigste in den „Drei Abhandlungen” ist für mich immer noch die Betonung der eigenständigen, spontanen infantilen Sexualität und das über Genitalität hinausgehende Konzept von Sexualität.

Entgegen der durch häufiges Wiederholen nicht wahrer werdenden Unterstellungen, Freud habe mit dem Aufgeben der „Verführungstheorie” die Tatsache sexueller Traumatisierungen in der Kindheit geleugnet, hat Freud nur die Überschätzung der sexuellen Traumatisierung in der Kindheit als ätiologischem Faktor der Neurosen revidiert. Freuds Anerkennung sexueller (auch: inzestuöser) kindlicher Wünsche gegenüber den Eltern impliziert weder eine Gleichsetzung mit dem realen Inzest[*] noch nimmt sie etwas zurück von der (gerade für die kindliche Sexualität) destruktiven Wirkung sexueller Traumatisierung. Trieb und Trauma sind keine sich gegenseitig ausschließenden Konzepte.

Seit vielen Jahren behandle ich PatientInnen, die in ihrer Kindheit sexuell traumatisiert wurden. Gleichzeitig bin ich immer wieder mit dem „Missbrauch des Missbrauchs” konfrontiert, wie er auch in Psychotherapien stattfindet. Damit meine ich vor allem PsychotherapeutInnen, die (mit suggestiven Methoden, gegenüber Kindern oft auch auf grob sexualisierende Weise) ihren PatientInnen einen sexuellen Missbrauch einzureden versuchen, aber auch solche, die Missbrauchsvorwürfe im Kontext eines Trennungskonflikts fraglos für begründet halten, die unbewusste Paardynamik übersehen und dann im schlechten Sinne parteilich sind.

In Psychotherapien mit in ihrer Kindheit sexuell traumatisierten PatientInnen geht es immer auch darum, den Spagat auszuhalten: einerseits sexuelle Traumatisierungen nicht zu übersehen und sie als Realität anzuerkennen (das heißt auch nicht durch vorschnelle Deutungen unbewusster Wünsche den PatientInnen eine mitverursachende Beteiligung anzulasten), andererseits die PatientInnen (retrospektiv: das Kind) nicht ihres triebhaften Potenzials zu berauben, indem man ihnen nur die Identität als Opfer zugesteht. Gerade das passiert aber häufig bei auf sexuellen Missbrauch spezialisierten „Opfer-Therapeutinnen”, wie ich aus mehreren Folge-Psychotherapien gelernt habe. Unter solchen Bedingungen kann die Thematisierung der starken emotional-libidinösen Bindung an den „Täter”-Vater vor dem sexuellen Missbrauch (und oft auch danach) ebenso wenig Thema in der Psychotherapie werden wie die Enttäuschung über das Fallen-gelassen-Werden vom Vater (z. B. zugunsten einer jüngeren Schwester). Ausgeschlossen ist ferner auch die Bearbeitung von Identifikationen mit dem Aggressor, die besonders für als beschämend erlebte Onaniefantasien von großer Bedeutung sind.

Der Diskurs über sexuellen Missbrauch hat uns gelehrt, dass die Anerkennung der kindlichen Sexualität heute ebenso wenig „selbstverständlich” ist, wie die „Drei Abhandlungen” in dieser Hinsicht „veraltet” sind. Auch die Forderung Freuds an „den Arzt”, „für seine eigene Person die Mischung von Lüsternheit und Prüderie überwunden” zu haben [2: 25], hat sich nicht erledigt.

  • 1 Freud S. Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905). Gesammelte Werke, Bd. 5. London: Imago, 1942; 27-145
  • 2 Freud S. Über Psychotherapie (1905). Gesammelte Werke, Bd. 5. London: Imago, 1942; 11-26

1 Die (implizit vorausgesetzte) komplementäre Aussage zu dieser Einsicht, nämlich dass auch alle Menschen die heterosexuelle Objektwahl im Unbewussten vollzogen haben, ist meines Erachtens in ihrer Bedeutung für nicht pathologisierende Konzeptionen homosexueller Entwicklungen bislang zu wenig reflektiert worden.

2 Karl Abraham (1907) dagegen kann man diesen Vorwurf berechtigterweise machen.