Z Sex Forsch 2016; 29(04): 331-334
DOI: 10.1055/s-0042-121632
40 Jahre Foucaults „Sexualität und Wahrheit“
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die Absage an das wahre Geschlecht und das Ende der Homosexualität

Stefan Hirschauer
a   Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Institut für Soziologie
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Publication Date:
22 February 2017 (online)

Der erste Band von Foucaults Geschichte der Sexualität erschien kurz vor Beginn meines Soziologiestudiums an der Universität Bielefeld, sein Autor starb kurz vor Ende dieses Studiums. In der Bielefelder Soziologie gab es damals – neben der Lehrtätigkeit von Norbert Elias – zwei avancierte Theorieangebote unter einem verwandten Label: den systemtheoretischen Konstruktivismus von Niklas Luhmann und den ethnomethodologischen Konstruktivismus von Karin Knorr Cetina. Was „Konstruktivismus“ aber überhaupt bedeuten kann, habe ich stattdessen in meinem Nebenfach, der Philosophie, verstanden. Dort lasen wir Foucaults Studien zur Wissensgeschichte – die „Ordnung der Dinge“ (1971) und die „Archäologie des Wissens“ (1973) –, seine Geschichte des Gefängnisses und der Klinik, und eben auch seine Studien zur Sexualität. Foucaults Konstruktivismus besagte, dass alle Dinge nur in einem zeitgenössischen Diskursuniversum eingeschlossen aufscheinen, aus dessen Textualität kein direkter Weg zu den Phänomenen führt. Dieses Immanenzprinzip der Diskursanalyse, das das Gewicht der Sprache voll zur Geltung brachte, war für uns Studierende verbunden mit einem gewaltigen Aha-Erlebnis: der kulturwis­senschaftlichen Erschließung von Gegenständen, die bislang den Lebenswissenschaften vorbehalten waren: Körper, Geisteskrankheit, Sexualität.

„Foucault“ – das stand für ein radikales und „wildes“ französisches Denken und für eine schriftstellerische Prosa jenseits der analytischen Klarheit und Systematik der deutschen Theoretiker mit Westbindung – Luhmann und Habermas –, die zeitgleich mit ihm die Schulbank gedrückt hatten. „Wild“ war unter anderem seine Platzierung zum Akt des Schreibens. In einem Interview kurz nach Erscheinen von „Sexualität und Wahrheit“ meinte er 1978: „Ich denke niemals völlig das Gleiche, weil meine Bücher für mich Erfahrungen sind… Eine Erfahrung ist etwas, aus dem man verändert hervorgeht. Wenn ich ein Buch schreiben sollte, um das mitzuteilen, was ich schon gedacht habe, ehe ich es zu schreiben begann, hätte ich niemals die Courage, es in Angriff zu nehmen. Ich schreibe nur, weil ich noch nicht genau weiß, was ich von dem halten soll, was mich so sehr beschäftigt. So dass das Buch ebenso mich verändert wie das, was ich denke. […] Ich bin ein Experimentator und kein Theoretiker. Als Theoretiker bezeichne ich jemanden, der ein allgemeines System errichtet, sei es ein deduktives oder ein analytisches, und es immer in der gleichen Weise auf unterschiedliche Bereiche anwendet. Das ist nicht mein Fall. Ich bin ein Experimentator in dem Sinne, dass ich schreibe, um mich selbst zu verändern und nicht mehr dasselbe zu denken wie zuvor“ (Foucault 1996: 24).

Was uns Studierende betraf, so veränderte dieses Schreiben, das mit Naturalismen und Essentialismen brach, unseren lebensweltlichen, von zeitgenössischen Diskursen imprägnierten Blick auf die Gesellschaft. Foucaults Historisierung der Sexualität und – in der zeitgleich von ihm herausgegebenen Autobiografie von Hercule Barbin – auch der Geschlechtszugehörigkeit, verschuf seinen LeserInnen ganz ähnlich wie Philippe Ariès mit seiner Geschichte der Kindheit einen ethnologisch-distanzierten Blick auf die eigene Gesellschaft. Die von ihm freigelegten „Episteme“ zeigten sich als ein Komplex von „Ethnotheorien“ (wie man in der Ethnologie sagte).

So eine historisch-kulturwissenschaftliche Sichtweise brach mit drei Annahmen unseres Alltagswissens: Erstens, dass die Frage nach den sozialen Entstehungsgründen, z. B. der Homosexualität, eine Frage nach den Biografien von Individuen zu sein hat, die durch besondere Identitäten charakterisiert sind. Foucault fragte stattdessen nach der Herkunft einer Kategorie wie der Homosexualität als Begriff, als Vorstellung, als medizinische Diagnose. Erst auf diese Weise ließ sich erkennen, dass eben unsere alltägliche Annahme, die abweichenden Phänomene ‚„wurzelten“ irgendwie in besonderen Individuen, erst durch die Denkvoraussetzungen medizinischen Wissens so selbstverständlich geworden sind.

Zweitens verlangt seine kulturwissenschaftliche Rekonstruktion von Phänomenen, dass wir sie überhaupt als historisch variabel wahrnehmen. Beiträge zur Medizingeschichte behaupteten bis dahin, dass es etwa Inter-, Homo- und Transsexualität immer schon überall gab. Wie ein seltenes Insekt oder ein neues Elementarteilchen seien sie in unserer Zeit nur endlich entdeckt worden, d. h. korrekt beschrieben und richtig von anderen Syndromen abgetrennt. Die Medizin beanspruchte also mit diagnostischen Kategorien geografische und historische Universalität. Die vielen Formen der Gender-Devianz in anderen Kulturen und Epochen werden unter Abstraktion von ihrem jeweiligen sozialen Kontext in einem Akt konzeptueller Kolonisierung kurzerhand mit den Konzepten unserer eigenen zeitgenössischen Kultur begriffen und ihnen subsumiert.

Foucault hatte dagegen in einem kurz vor „Sexualität und Wahrheit“ erschienenen Aufsatz zur Geschichts­wissenschaft als Genealogie programmatisch festgestellt, „dass es hinter allen Dingen etwas ganz anderes gibt. Nicht ihr wesenhaftes und zeitloses Geheimnis, sondern das Geheimnis, dass sie ohne Wesen sind oder dass ihr Wesen Stück für Stück aus Figuren, die ihm fremd waren, aufgebaut worden ist“ (Foucault 1974: 85 f.). Zum Zweck der Geschichtsschreibung meinte er: „Das tröstliche Spiel der Wiedererkennungen ist zu sprengen. Wissen bedeutet (auch) im historischen Bereich nicht ‚wiederfinden‘ und vor allem nicht ‚uns wiederfinden‘“ (ebd.: 97). Anstelle eines Ursprungs finden sich nur heterogene Anfänge und Abbrüche, Metamorphosen, Kontinuitäten und Wendepunkte, die einen Gegenstand für uns konstituiert haben: „Am historischen Anfang der Dinge findet man nicht die immer noch bewahrte Identität ihres Ursprungs, sondern die Unstimmigkeit des Anderen“ (ebd.: 86).

Dies war im Bereich der Sexualwissenschaft nicht nur eine Absage an die „Entdeckungsgeschichte“ des wissenschaftlichen Fortschritts, sondern auch an die „Befreiungsgeschichten“ der politischen Subkulturen. Was wir kulturwissenschaftlich tatsächlich finden, sind Verwandtschaftsverhältnisse, Metamorphosen und Abtretungen – etwa der Formel von der im falschen Körper gefangenen Seele von der „Homo“-‚ an die „Transsexualität“ (Hirschauer 2010). Zu verabschieden war eben auch eine dritte alltagsweltliche Annahme: dass es sich bei Inter-, Homo- und Transsexualität überhaupt um überhistorisch voneinander unterschiedene Phänomene handelt. Diese diagnostischen Kategorien bezeichnen heute – unter maßgeblichem Einfluss von Sigmund Freud – eigenständige Phänomene der körperlichen Konstitution, der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität. Aber ihre historisch junge Differenzierung verdeckt den eigentlich virulenten Umstand: dass sie alle einen gemeinsamen Bezugspunkt darin haben, die lebensweltlichen Routinen der Herstellung zweier Geschlechter zu irritieren.

Foucault selbst war in diesem Punkt allerdings nicht sehr klar. Bei Lektüre von „Sexualität und Wahrheit“ musste man sich beständig fragen, wie viel Geschlechterdifferenz im „Sex“ steckte. Natürlich ging es vordergründig um die Leiber, die sexuellen Praktiken und die Sexualwissenschaft, aber da war immer jene arbiträre Klassifikation namens „Gender“ im Spiel, die etwa zeitgleich mit Foucaults Buch ihren diskursiven Aufstieg nahm. Foucaults (1998) harsche Kritik der Idee eines „wahren Geschlechts“, mit der Ärzte des 19. Jahrhunderts Hercule Barbin in ihrem „happy Limbo“ behelligten, zeigte, dass er den Nexus sah. Aber erst Foucault folgende AutorInnen in den Gender Studies trieben den Gedanken voran: Judith Butler (1991) machte die Kulturalität der biologischen Geschlechterdifferenz explizit (sie verlor dabei aber Foucaults Materialität der Körper) und Thomas Laqueurs (1992) Geschichte der Anatomie zeigte eindrücklich die Historizität unserer Vorstellung von Zweigeschlechtlichkeit, einschließlich der irritierenden Einsicht, dass sich Geschlechtsorgane ohne eigenen Namen in Europa fast zweitausend Jahre nicht gut geschlechtlich differenzieren ließen. Nicht nur der Homosexuelle war eine seltsame „Spezies“ (Foucault 1977: 58), auch die „Frau“ des 19. Jahrhunderts war es, und viele der ihnen nachfolgenden Figuren.

Unabhängig von den Deviationen, die mein eigenes Nachdenken seit der Erstbegegnung mit ihm erfahren hat, bleibt Michel Foucault für mich in einer Hinsicht ein einzigartiges Modell: in der Beanspruchung einer leidenschaftlichen Distanz in der Zeitgenossenschaft, mit der er eine intellektuell unabhängige Autorschaft reklamierte: „Man frage mich nicht, wer ich bin, und man sage mir nicht, ich solle der Gleiche bleiben: das ist eine Moral des Personenstandes; sie beherrscht unsere Papiere. Sie soll uns frei lassen, wenn es sich darum handelt zu schreiben“ (1973: 30).

Ich fand und finde diese Haltung bis heute ermutigend, um auch mit Denkstilen des eigenen akademischen Milieus zu brechen. Ein Denken ohne die Bereitschaft zum „Verrat“ ist weder lernfähig noch innovativ. Die Erkämpfung des Ehe- und Adoptionsrechts durch Schwule und Lesben ist eine „Befreiung der Homosexuellen“? Nein, sie ist der entscheidende Schritt zu erfolgreichen Auflösung der „Homosexualität“ in geschlechtsgleiche Paarbeziehungen. Sie macht endlich kenntlich, was die „Homosexualität“ war: Ein „Homosexueller“ entstand, indem man die Geschlechtskomposition einer intimen Beziehung zur persönlichen Eigenschaft einer besonderen „sexuellen Identität“ verklärte (Hirschauer 2013).

Michel Foucault bleibt eine kulturwissenschaftliche Provokation für eine Sexualwissenschaft, die von klinischen Fächern dominiert wird, die mit einem wohlwollenden „ärztlichen Blick“ auf ihren Gegenstand schaut und ihn vermenscht. Foucaults Suchbewegungen gegen einen Strom, in dem in den 1970er-Jahren alle politisch Gutmeinenden ihre Sexualität „unterdrückt“ fanden, kann heute an einem neuen Gegenstand fortgesetzt werden: am „Recht auf Geschlechtsidentität“, an der kitschigen Psychisierung der Geschlechtszugehörigkeit. Warum sollten wir hier mehr als hundert Jahre nach dem „Geschlechtscharakter“ des 19. Jahrhunderts etwas für zutiefst subjektiv und menschlich halten, was wir im Falle der Rassenunterscheidung niemals in den Menschen suchen würden?