Z Sex Forsch 2016; 29(04): 310-313
DOI: 10.1055/s-0042-121622
40 Jahre Foucaults „Sexualität und Wahrheit“
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Brief an Michel

Robin Bauer
a   DHBW Stuttgart, Fakultät Sozialwesen
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Publication Date:
22 February 2017 (online)

Lieber Michel,

ich darf Dich doch Michel nennen? Schließlich gehören wir beide bestimmten sexuellen Subkulturen an, in denen das „Du“ unter Gleichgesinnten üblich ist.

Ich wollte Dir immer schon mal danken für die vielen Denkanstöße in „Sexualität und Wahrheit“ und nehme das 40-jährige Jubiläum dafür gerne als überfälligen Anlass. Als Queer- und Transgender-Theoretiker, der seinen Doktortitel durch eine Untersuchung über les-bi-trans-queere BDSM-Praktiken erworben hat, stehe ich in vielerlei Hinsicht in Deiner Schuld: Ohne dieses Werk wäre die Queer-Theorie womöglich gar nicht erst entstanden. Wo stünde die Queer-Theorie ohne Dein Machtverständnis, ohne Deine Analyse von Sexualität als diskursivem Effekt oder Deiner berühmten Historisierung und damit einhergehenden Relativierung der homosexuellen Identität, die sich in Deinem Satz zeigt: „Der Sodomit war ein Gestrauchelter, der Homosexuelle ist eine Spezies“ (Foucault 1977: 58).

Diese zugespitzte Formulierung hat mich begleitet, seit ich sie das erste Mal gelesen habe. Und sicherlich nicht ohne Ambivalenz, denn vielen Menschen, die nicht in die Vorgaben der heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit passen, ist wohl eine unterhinterfragbare Identität, die ein Zugehörigkeitsgefühl schaffen kann, und der damit häufig einhergehende Mythos, es habe „uns“ immer schon in derselben Form gegeben, ein Trost und kann sicherlich auch ermächtigende performative Effekte zeitigen. Nicht jede*r mag Dir in der Entthronung der sexuellen Identitäten begeistert folgen und so manche*n mag es enttäuschen, dass Du Dich in „Sexualität und Wahrheit“ nicht als schwul und pervers und „einer von uns“ outest. Angesichts Deiner scharfsinnigen und wegweisenden Kritik solcher Geständnisse als Technologien der Macht und Deiner theoretisch fundierten Skepsis gegenüber dem Konzept einer homosexuellen Identität wäre das aber wohl unpassend gewesen. Stattdessen hast Du versucht, konsequent die Komplizenschaft mit dem Sexualitätsdispositiv, also einer Definition der Individuen über bestimmte sexuelle Kategorisierungen, zu verweigern. Deine Analyse wurde dann auch begierig in der Queer-Theorie aufgegriffen, vor allem in ihrer Kritik an der Identitätspolitik.

Und doch werden mancher theoretische Diskurs sowie manche politische Intervention gerade heute so geführt, als hätte es „Sexualität und Wahrheit“ nie gegeben. Da wird für ein Recht auf Sexualität gefochten, was Deiner Meinung nach einer Kettung an das Sexualitätsdispositiv gleichkommt. Statt auf Körper und Lüste zu setzen, stehen Coming-Out, Identität, ja gar die Vorstellung klar definierbarer „sexueller Minderheiten“ im Mittelpunkt der Diskurse und Kämpfe. Dies macht nicht Halt bei LGBTI. Jüngst sollen selbst Polyamorie und BDSM keine Praxen oder lustvollen Experimente, sondern Identitäten sein, die dann ins Recht eingehen können. Aber gibt Dir das nicht letztlich sogar Recht? Der Erfolg des Sexualitätsdispositivs scheint in dieser Hinsicht ja fast ungebrochen, Deine Analyse nicht veraltet.

Da könnte man mit Daddy Foucault zurück zu den Wurzeln gehen und diese Art der Politik grundlegend in Frage stellen. Ich nenne Dich jetzt einfach mal Daddy Michel, einer schönen Tradition der schwulen BDSM-Kultur folgend, mit der gleichzeitig die „Szeneältesten“ gewürdigt und queere Wahlfamilien geschaffen werden können. Ich gehe mal davon aus, dass Du nichts dagegen hättest, als geistiger Vater queerer Transforscher*innen vereinnahmt zu werden. Denk aber daran, dass manche von uns Transmännern eine zweite Pubertät durchmachen und auch im Erwachsenenalter noch Gründe finden können, gegen Daddy zu rebellieren. Denn so sehr Du Dich für die Analysen der Macht interessiert hast, so seltsam unterbelichtet bleiben manche Aspekte dabei. Es gibt eben nicht ein Sexualitätsdispositiv, das auf alle gleich wirkt, sondern manche als Gruppe konstruierte Menschen unterstanden womöglich gar nicht dem Geständniszwang. „Geistig behinderten“ Menschen beispielsweise wurde häufig Sexualität gänzlich abgesprochen und die Fähigkeit, eine eigene sexuelle Wahrheit in einem Geständnis zu formulieren, sowieso. Wie müssten wir Deine Theorien modifizieren, um solche Fälle mitzudenken? Und was hieße das für sexuelle Politiken?

Trotz solcher Bedenken hinsichtlich der Generalisierbarkeit Deiner Theorien funktionieren einige Grundpfeiler von „Sexualität und Wahrheit“ bis heute für mich als Denkfiguren, die in vielerlei Kontexten den analytischen Blick schärfen können. Da wäre beispielsweise die Machttechnologie des Geständnisses. Noch heute fühle ich den Zwang zur Offenbarung einer vermeintlichen sexuellen Wahrheit in meinem Leben, sowohl privat als auch im akademischen und beruflichen Kontext. So haben sich schon Studierende bei Kolleg*innen beschwert, ich sei nicht „authentisch“, weil ich in der Lehre nicht öffentlich erklärt hatte, dass ich selbst trans* bin, sondern das Thema lediglich in der Rolle des wissenschaftlichen Experten erörtert hatte. Ich hatte ihnen offensichtlich eine elementare und relevante Wahrheit über mich verschwiegen. Jedoch in diesem Zusammenhang gleich eine Anmerkung zum Geständniszwang: Er trifft noch heute die in Deinen Worten „kleinen Perversen“ weitaus mehr als die (vermeintlichen) Verkörperungen der Norm, denn von meinen cis-Kolleg*innen wird ja standardmäßig nicht erwartet, dass sie sich erstmal erklären, ihre Geschlechtsidentität, ihre persönliche Biographie oder die Form ihrer Genitalien offenlegen, zumindest nicht in der Öffentlichkeit oder in ihrer professionellen Rolle. Der Geständniszwang für trans*, inter*, homo-/bisexuelle oder HIV-positive Individuen beschränkt sich ja nicht auf den klinischen oder therapeutischen Rahmen, sondern ist mehr oder weniger allgegenwärtig. Auch wenn es einen Trend zur Normalisierung bestimmter „Perversionen“ gibt, der jedoch das Sexualitätsdispositiv keineswegs in Frage stellt, sondern immer mehr vormals abweichende Praxen in Identitätsformen sexueller Minderheiten gießt.

Auch die Repressionshypothese spielt noch eine Rolle in diversen Diskursen und erreicht meinem beruflichen Alltag, wenn auch in abgewandelter Form. Heutige Studierende haben in der Regel wenig am Hut mit einer revolutionären Kritik der bürgerlichen Moral. Von der Befreiung der eigenen Sexualität ist kaum noch die Rede bei den jungen Menschen, die mir in der Lehre begegnen und den Trend, dass diese eher konservativer in ihren Einstellungen zur Sexualität werden als zu Deiner Zeit, kann ich nur bestätigen. Jedoch erleben Studierende der Sozialen Arbeit das Thema Sexualität zumindest in ihren Arbeitsfeldern als Tabu und als unterdrückt, vor allem in Einrichtungen, in denen mit Kindern, behinderten, alten und psychisch kranken Menschen gearbeitet wird. Den Grund hierfür sehen sie in der Regel im kirchlichen Träger oder in den religiösen Überzeugungen des Umfelds, vor allem Muslim*innen wird hier noch schneller als Christ*innen der undifferenzierte Pauschalvorwurf einer patriarchalen, homophoben und generell sexualfeindlichen Kultur gemacht, während „der Westen“ als aufgeklärter und fortschrittlicher gilt. Es scheint also, dass die Repressionsthese eine neue Konjunktur hat, die Repression aber anderen Gruppen als früher zugeschrieben wird: statt der Bourgeoisie wird nun verstärkt die Figur des religiösen Migranten zum Symbol der Unterdrückung „unserer“ Sexualität. Auch hier könnte man mit Dir fragen, ob die Sexualität beispielsweise in muslimisch-geprägten kulturellen Kontexten überhaupt unterdrückt wird oder ob die Macht hier nicht ebenso produktiv wirkt wie anderswo und auf welche Weise sich das äußert. Jedenfalls muss nach wie vor im Alltags- und manchem wissenschaftlichen Wissen schnell die Repressionsthese als Erklärungsmuster herhalten.

Obwohl in Deinem Werk zahlreiche weitere Denkanstöße zu finden sind, die bis heute inspirativ auf mich nachwirken, möchte ich abschließend noch einen Aspekt hervorheben: die dichte Verwobenheit von Sexualität und Macht (so hättest Du Dein Buch eigentlich auch nennen können: „Sexualität und Macht“!). Wie bereits gesagt, wir erfahren ja in „Sexualität und Wahrheit“ nichts über Deine eigenen sexuellen Praxen. Dennoch, eine meiner persönlichen Lieblingsvermutungen ist, dass Deine Theorien zur Allgegenwärtigkeit von Macht in der Sexualität eindeutig aus einer BDSM-Perspektive generiertes Wissen darstellen. Nicht nur spielt in vielen BDSM-Praxen die explizite, ja gar übertriebene Inszenierung von Macht eine elementare Rolle. Sondern das Spielen mit Macht im BDSM-Kontext bzw. die damit verbundenen Aushandlungspraxen dieser einvernehmlichen Machtverhältnisse scheinen auch den Effekt zu haben, dass der Blick für subtilere oder verleugnete Machtdynamiken in anderen sexuellen Interaktionen und Beziehungen geschärft wird. Oder wie ein*e Interviewpartner*in es ausdrückte: „[M]achtfreier Sex ist ja sowieso irgendwie Banane. Aber ich steh auch eher weniger auf Vanille-Sex, der mit dieser Idee des machtfreien Sexes spielt, oder sich darum nicht kümmert.“ Hier stellt sich natürlich nun die Frage: Hat diese Transgender Butch Dich gelesen und ist deswegen der Meinung, Sex ohne Macht gebe es gar nicht, und dass „machtfreier“ Sex ebenso eine performative Inszenierung, ein Spiel, sei wie beispielsweise ein Herrin-Sklave-Rollenspiel? Oder ist das einfach eine Sichtweise, die sich quasi schon zwangsläufig aus bestimmten BDSM-Erfahrungen aufzwängt und aus der Du dann eine elaborierte Theorie gemacht hast? Auf jeden Fall lassen sich die Aussagen meiner queeren BDSM-Interviewpartner*innen gut mit Deiner Theorie der immanenten Verwobenheit von Macht und Sexualität in Resonanz bringen. Die Frage ist nur, ob man sich damit unter BDSMler*innen auf einen gemeinsam artikulierten Erfahrungshorizont verständigt oder ob es sich hierbei um eine darüber hinausgehende Analyse handelt. Ich vermute beides. Was erkenntnistheoretisch gesehen dafür spräche, weiterhin unterjochtes Wissen und Mikropolitiken in die Sexualforschung einzubringen, um interessante Theorien zu spinnen.

In der Hoffnung, dass Deine Ideen also noch weitere Generationen von Sexualforscher*innen inspirieren mögen,

Dein Robin