Z Sex Forsch 2016; 29(04): 340-343
DOI: 10.1055/s-0042-120068
40 Jahre Foucaults „Sexualität und Wahrheit“
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die Sexualordnung – vom Krieg her gedacht

Querdenken bei Michel Foucault
Rüdiger Lautmann
a   ehem. Institut für Soziologie, Universität Bremen
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Publication Date:
22 February 2017 (online)

Foucaults (1977) „Wille zum Wissen“ (WzW) hatte ich zunächst in Rezensionen zum Original wahrgenommen und in Stichworten dokumentiert; die deutsche Ausgabe erwarb ich kurz nach Erscheinen. Aus meinen kontinuierlichen Lektüreexzerpten, benutzt als Forschungsmemoir, kann ich heute rekonstruieren, wann und wie ich das Buch zur Hand genommen habe (im März 1978). Die sexualwissenschaftliche Bedeutung habe ich damals allerdings mit Zurückhaltung betrachtet; meine notierten Lesefrüchte bezogen sich auf die Kontroll- und Machtmechanismen. Für die Soziologie von Recht, Kriminalität und Devianz, in deren Rahmen ich mich in den 1970ern vornehmlich bewegte, hatte Michel Foucault sich bereits durch „Wahnsinn und Gesellschaft“ (1969) sowie „Überwachen und Strafen“ (1976) hervorgetan. Zu meinem speziellen Thema, der Stigmatisierung und Entdiskriminierung der Homosexualitäten, bot WzW nichts Neues – von einer Sexualrepression i. e. S. wollte es ja nichts hören. Mein dicker Sammelband über „Gesellschaft und Homosexualität“ (1977) war bereits druckfertig.

Der Gedanke des meistzitierten Satzes aus WzW, die Homosexuellen seien zu einer eigenen Spezies geworden, hatte sich bereits früher bei den britischen Soziolog_innen Mary McIntosh (1968) und Kenneth Plummer (1975) angefunden. Mit seinem erkennbaren Wunsch, alles ganz neu zu machen, stieß Foucault auf meine Skepsis, die nun allerdings eine gewisse Fachborniertheit verriet – damals glaubte die Soziologie, alles allein und selber analysieren zu können. Historische Sachverhalte wurden vernachlässigt, betrieb man doch „Gegenwartswissenschaft“ und hoffte, die gesellschaftliche Wirklichkeit mitgestalten zu können. Und für die philosophische Grundlegung bezogen wir uns auf den gerade überstandenen „Positivismusstreit“ zwischen Kritischem Rationalismus und Kritischer Theorie. Hinsichtlich Foucaults Lehrstuhldenomination einer „Geschichte der Denksysteme“ führten wir längst die gleiche Debatte in der Wissenssoziologie (klassisch: „Die soziale Konstruktion der Wirklichkeit“ von Peter L. Berger und Thomas Luckmann, dt. 1969). Die deutsche Soziologie sah keinen Bedarf für Foucaults Überlegungen; sie befreundete sich mit ihm erst allmählich und von ihren Rändern her. Wohlgemerkt: Das war damals. Heute nun verhält es sich völlig anders: Die Soziologie hat ihren Status als Leitwissenschaft verloren, Borniertheit kann sie sich nicht mehr leisten, für historische und denkhistorische Stoffe hat sie sich nachhaltig geöffnet.

Foucaults Taktik, überraschende Thesen aufzustellen und mit Neologismen zu garnieren, kann einem nicht besonders behagen, wenn man wissenschaftliches Erkennen als kumulativen Prozess versteht, wonach neue Einsichten in das vorhandene Gedankengebäude eingebaut werden. Unser Autor hingegen verschweigt seine Vorläufer (Nietzsche zum Beispiel) und nennt seine Rivalen kaum je beim Namen (Marx, Freud). Er will sie alle an Bedeutung übertreffen und hat dies auch geschafft, gemessen am ungeheuren Erfolg. Dazu dreht er hergebrachte Denkgewissheiten einfach um. Das Sexuelle werde unterdrückt? Eher hätten wir es mit „einer Ökonomie der Diskurse über den Sex“ zu tun (Foucault 1977: 21). Das Reden über das Sexuelle sei tabuiert? Nein, „um den Sex herum zündet eine diskursive Explosion“ (ebd.: 27). Die Natur regiere das Sexuelle? Andersherum bei Foucault: der Staat lenkt die Naturprozesse in geeignete Kanäle und übt so Bio-Macht aus. Macht komme von außen und von oben? Umgekehrt: sie kommt von innen und von unten, darin besteht die „Mikrophysik der Macht“. Herrschaft trenne die Elite von den Unterworfenen? Nein, Gouvernement und Mentalität verschmelzen zur gouvernementalité. All dies sind äußerst anregende Thesen, in kraftvoller Sprache formuliert und unter Verzicht auf besondere Referenzen überzeugend vorgebracht. Sie haben sich in viele der besten Köpfe eingepflanzt und gehören heute zum Kanon. Widerstand zwecklos.

So denke auch ich heute mit Foucault, ohne ihm verfallen zu sein. Statt ihn zu kritisieren, gehe ich mit ihm, soweit seine Ideen eben tragen – also stets nur ein Stück und eingedenk der Grenzen dieses Ansatzes. Anders als es die Titel „Sexualität und Wahrheit“ sowie „Der Wille zum Wissen“ signalisieren, behandelt der Autor nicht so sehr das Entstehen von Erkenntnissen zum Sexuellen, sondern deren Funktionalität im Gesellschaftsganzen. Der erste Band der Sexualitätsreihe unterscheidet sich in Ziel und Duktus sehr stark von den beiden folgenden (Foucault 1986a, 1986b). Das Buch ist deswegen auch nicht so sehr vom Reihentitel her zu verstehen; besser sieht man es als Abschluss der „mittleren“ Schaffens- und Denkperiode seines Autors und als Fortsetzung von „Überwachen und Strafen“ (1976). Nun löste Foucault sich von den Themen Gewalt und Kontrolle, und nach den materiellen Formen der Kontrollmacht betrachtete er die immateriellen Formen. In seinem persönlichen Leben machte er sich daran, endlich sich selbst als Schwulen zu akzeptieren, ein mühsamer Weg, der erst in den 1980ern am Ziel ankam (vgl. Eribon 1991: 455). Bedroht vom Ausschluss aus der „guten Gesellschaft“, beschämt durch die herrschende Verachtung, konnte er sich durchaus in einem Abwehrkampf sehen, in einem Stellungskrieg zur Selbstbehauptung. Das lebensgeschichtliche Momentum eröffnete sich mir kürzlich, als ich Stützen für eine Gesamtdarstellung der westlichen Homophobie im 19. und 20. Jahrhundert suchte, ausgehend von der Kriegsähnlichkeit dieses hasserfüllten und todbringenden Phänomens.

Fündig wird man dazu in Foucaults „In Verteidigung der Gesellschaft“, der die Arbeit am WzW begleitenden Vorlesung am Collège de France (verschriftlicht 1999). Wir verstehen WzW besser, wenn es zugleich damit gelesen wird. Mündlich erörtert der Autor seine Vorüberlegungen zum Werk. Das ganze Frühjahr 1976 hindurch spricht er darüber, wie der Krieg die Politik nicht nur fortsetzt, sondern sie erst hervorbringt – damit das geflügelte Wort des Klassikers Clausewitz umdrehend (Foucault 1999: 63). Foucault entwickelt seine Gedanken an der Figur des Rassismus und versteht diesen so, dass er auch die Kriege gegen die falschen Sexualitäten umfasst. Hiernach ist der Rassismus „als die untergründige Struktur einer Normalisierungsgesellschaft zu verstehen“ (Laufenberg 2014: 318). Foucault sagt, „der Tod der bösen Rasse, der niederen (oder degenerierten oder anormalen) Rasse wird das Leben im Allgemeinen gesünder machen; gesünder und reiner“ (Foucault 1999: 302). Er hält ein flammendes Plädoyer zum „Licht des Krieges“: Ein ununterbrochener Kampf durchziehe den Frieden, und die zivile Ordnung sei in ihren wesentlichen Mechanismen eine Schlachtordnung. Der Krieg ist eine Art von Operator, an dessen Strang sich die Geschichte einer Gesellschaft erzählen lässt; er bildet „die Matrix der Wahrheit des historischen Diskurses“ (ebd.: 197). Das muss dann, füge ich an, auch für die Geschichte der Sexualitätsdiskurse gelten.

Der Krieg wird „nicht mehr als eine Invasion gelesen, die ihre Spuren auf dem Gesellschaftskörper hinterlässt, sondern als etwas, das mittels Militärinstitutionen auf die gesamte zivile Ordnung einwirkt“ (ebd.: 191). An welchen Krieg und welche Ordnung hat Foucault gedacht? Es ging ihm um den „Alltagskrieg“, um die privaten Kriege, wie sie aus der Zeit vor der Verstaatlichung des Krieges bekannt waren, und um den Krieg als „Motor der Institutionen und der Ordnung“. Er schafft eine Art Schlachtlinie, die jedes Individuum platziert – entweder auf der einen oder auf der anderen Seite. Dies macht notwendig jeden zum Gegner von jemandem; niemand bleibt neutral. Es entsteht eine binäre Ordnung. Foucault sieht damit die mittelalterliche Vorstellung als überwunden an, worin Gesellschaft als eine Art von hierarchisch geschichteter Pyramide gesehen wurde, mit oben und unten, ein Organismus, worin jede Person einen Platz hatte. Die binäre Ordnung führt er am Beispiel des Rassismus vor (den er kurz darauf im ersten Band seiner Sexualitätsbücher aufgreift und sogar als Hauptthema für einen vierten Band ankündigt). Gewiss hatte der schwule Autor dabei auch die Binarismen von Geschlecht und Sexualität im Auge.

Foucault unternimmt hier eine lange Reise zu seinem Erkenntnisziel, dem Konzept der Bio-Macht, die das zentrale Element seiner Diskurstheorie des Sexuellen sein wird. Von der Sexualität selbst spricht er in diesen Frühjahrswochen nicht; es werden ja Autoren und Stoffe behandelt, die vor dem Auftauchen dieses Begriffs liegen. Am letzten Tag seiner Vorlesung, dem 17. März 1976, langt Foucault an seinem Ziel an und sagt: „Wir befinden uns somit im Innern einer Macht, die den Körper und das Leben vereinnahmt [...], eine Bio-Macht“ (ebd.: 299). Wenn sexuelle Verhaltensweisen als anomal und für das Gemeinschaftsleben gefährlich klassifiziert werden, dann antwortet die „Biomacht“ auf Herausforderungen, und der Krieg geht in Politik über. Man muss nun nicht unbedingt diese Begrifflichkeit nachvollziehen oder übernehmen, um zu sehen, wie hier jemand theoretisches Neuland betritt und alte Aporien vermeidet. Die so oft vernachlässigte und in Nebenbereiche abgeschobene Analyse der Sexualität wird bei Foucault mit zentralen Merkmalen der Gesellschaftsstruktur verbunden; bislang rätselhaft gebliebene Entwicklungen werden plausibel erklärt. Das ist ein überhaupt nicht zu unterschätzendes Verdienst.

Der WzW erschien dann im August 1976 (dt. 1977). Nicht verhehlt sei, dass mir die beiden Folgebände von 1984 (dt. 1986) mehr zusagten, wiewohl sie ganz anders und bei weitem nicht so grundstürzend gestrickt sind wie der fulminante Wille zum Wissen.