Z Sex Forsch 2016; 29(04): 365-371
DOI: 10.1055/s-0042-120053
Bericht
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Gestern – Heute – Morgen.Von engen Familienverhältnissen bis zum Robotersex

Bericht über die 25. Wissenschaftliche Tagung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung
Ute Lampalzer
a   Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
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Publication Date:
22 February 2017 (online)

Zum 25. Jubiläum fand die Wissenschaftliche Tagung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung (DGfS) vom 7. bis 9. Oktober 2016 nicht ohne Grund in Frankfurt statt. Hier war nicht nur 1950 die Gründungstagung der DGfS veranstaltet worden. Dies ist auch die Stadt der ersten sexualmedizinischen Ambulanz mit Kassenzulassung, die Stadt, in der 2006 das von Volkmar Sigusch 1973 aufgebaute Institut für Sexualwissenschaft abgewickelt wurde, und die Stadt, in der 1920 der Gründer der DGfS Hans Giese geboren wurde und von wo er 1950 eine Petition zur Abschaffung des Paragrafen 175 initiierte. Gute Gründe also, um genau hier das Gestern, Heute und Morgen der Sexualwissenschaft zu reflektieren und diskutieren.

Nach dem Pre-Conference-Symposium des Nachwuchsnetzwerkes NEKST – mit Vorträgen von Richard Lemke zur Darstellung von Sex im Reality-TV, Victoria Preis zum Umgang der Psychoanalyse mit Homosexualität und Frederike Wenzlaff zum Thema Sexting – wurde die Tagung offiziell durch Herbert Gschwind und Peer Briken eröffnet. Den Auftakt machte Christina von Braun mit ihrem Vortrag „Sexualität und Geschichte“. Darin beschrieb sie Sexualität als ein Barometer historischen Wandels, bedeutend beeinflusst durch die gesetzlichen und ökonomischen Verhältnisse. Sie verdeutlichte, dass kulturelle Regelwerke sich auch in Gefühlen bzw. im Unbewussten verankern. So habe sich z. B. ab 1800 mit der Entmachtung der Kirche die gesetzliche Regelung des Inzestes gelockert. Im 19. Jahrhundert sei es noch eine Verpflichtung gewesen, enge Verwandte zu heiraten, um das vorhandene Kapital in der Familie zu halten. Beziehungen unter Familienmitgliedern seien zu dieser Zeit mit einer Aura der Heiligkeit versehen gewesen. Nach ausreichender Kapitalakkumulation und Etablierung des Bürgertums sei die Endogamie dagegen fast überall verschwunden gewesen. Für das 20. Jahrhundert stellte sie heraus, dass durch die moderne Reproduktionsmedizin mehrere Definitionsmöglichkeiten für Mutter- und Vaterschaft eröffnet worden seien. Sie betonte, dass vor allem Homosexuelle von den Ergebnissen der Reproduktionsmedizin, die sich nun zum symbolischen Vater erhoben habe, profitieren würden. Laut Studienergebnissen würden schwule Väter beim Aufziehen eines Kindes ohne anwesende Mutter sogar ähnliche Hirnstrukturen entwickeln wie Mütter. Dies zeige, wie sehr die Kultur die Biologie beeinflussen könne. Von Braun schloss ihren Vortrag mit dem Appell, Sexualität und Reproduktion wieder mehr im Zusammenhang zu denken – wenn auch anders als vorher.

Der Samstagvormittag begann mit einem Symposium, das unter dem Motto „Gestern“ stand. Moritz Liebeknecht widmete sich unter dem Titel „‚Wir ertrinken in der Sex-Welle‘ – Hans Giese und der öffentliche Sexualitätsdiskurs in den 1960er Jahren“ einem Rückblick auf die Geschichte der DGfS. Im Rahmen der Liberalisierung in den 1960er-Jahren habe Sexualität zunehmend im öffentlichen Diskurs gestanden und sei positiv besetzt gewesen. Hans Giese sei als prominenter Sexualforscher von Anfragen der Presse regelrecht überschwemmt worden. Er habe als Ratgeber und Lektor gewirkt und gehofft, im Gegenzug sein Ziel einer breiten gesellschaftlichen Sexualaufklärung erreichen zu können. Während Giese in den 1950er-Jahren gegenüber den Massenmedien noch sehr skeptisch gewesen sei und auf strenge Wissenschaftlichkeit seines Auftretens geachtet habe, habe er sich in den 1960er-Jahren auch zunehmend populärwissenschaftlichen Darstellungen geöffnet. Unter dem zunehmenden Eindruck, zum Spielball der Presse zu werden, habe er seine Medienpräsenz jedoch Ende der 1960er-Jahre wieder reduziert. Zwar habe er durchaus noch als Experte zur Verfügung gestanden, jedoch darauf bestanden, nicht mehr namentlich genannt zu werden. Sein Umgang mit den Medien in den 1960er-Jahren spiegle insofern auch einen Lernprozess wider, die für sich geeignete Form eines solchen Umgangs zu finden.

Im Anschluss befasste sich Herbert Gschwind mit dem Thema „Der Pädosexuelle und die Pädosexualität als Objekte der Sexualforschung“. Er legte dar, dass Eberhard Schorsch, von 1982 bis 1985 Vorsitzender der DGfS, noch die Ansicht vertreten habe, dass ein gesundes Kind in einer gesunden Umgebung ein pädosexuelles Verhältnis ohne negative Dauerfolgen verarbeiten könne. Später habe Schorsch seine – eher auf einem Wunschdenken basierte – Aussage revidiert. Schließlich habe man in der DGfS begonnen, sich intensiver mit der pädosexuellen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Der Diskurs sei lange eng mit dem Sexualstrafrecht und mit Homosexualität verknüpft gewesen, da beide Formen der Sexualität nicht erlaubt gewesen seien. Gemäß der aktuellen Haltung der DGfS seien Pädosexuelle weder zu verachten noch zu verurteilen. Sie seien aber gefordert, ihre Sexualität nicht auszuleben. Hierfür gelte es, das Selbstbewusstsein so zu stärken, dass Pädosexuelle in der Lage seien, mit ihrem Triebschicksal leben zu können. Nach wie vor habe man keine Erklärung für die Entstehung von Pädosexualität. Die Suche nach einer pädosexuellen Hirnstruktur problematisierte Gschwind mithilfe eines Zitats von 1946, das eine mögliche Heilung von Homosexualität durch Eingriffe in die Hirnstruktur in Aussicht stellte. Dem stellte er die Position entgegen, dass es sich bei Pädosexualität um eine Laune der Natur handle, die an keinem Ort fester verankert sei als in der Psyche des Mannes und die als Triebschicksal, das durch bestimmte Entwicklungsbedingungen konstituiert sei, nicht einfach umkehrbar sei.

Losgelöst von einem Bezug zur DGfS hielt Jasmin Bleimling zum Abschluss des ersten Symposiums aus psychoanalytischer Sicht einen Vortrag über die „‚Stalag‘-Holocaust-Pornographie“ (Stalag als Abkürzung für Stammlager). Bei Stalag-Pornografie handle es sich um Hefte israelischer Autoren, die als zeitlich begrenztes Phänomen während des Eichmann-Prozesses in Israel populär gewesen und unter angloamerikanischem Namen publiziert worden seien. Als wiederkehrender Inhalt seien darin ein amerikanischer oder englischer Protagonist in Deutschland gefangen genommen und in ein Stammlager gebracht worden, wo er mit anderen Gefangenen von arischen Frauen in SS-Uniform gefoltert und sexuell genötigt worden sei. Am Ende fliehe der Held und kehre das Macht- bzw. Geschlechterverhältnis um, indem er die Aufseherinnen vergewaltige und ermorde. Bleimling vertrat die These, dass in der Stalag-Pornografie eine Erotisierung des Hasses erfolgt sei, die der Abwehr eigener Verfolgungsangst gedient habe. Die Hefte hätten eine befreiende Wirkung entfaltet, indem sie durch die Identifikation mit dem Aggressor für ein Gefühl des Triumphes gesorgt und zudem das Schweigen über das Geschehene sowie die Tabuisierung der Sexualität durchbrochen hätten. Eine tatsächliche Bearbeitung des Traumas habe auf diese Weise jedoch nicht stattgefunden, da die Täter dämonisiert und Tatsachen selektiv verleugnet worden seien.

Mit dem nächsten Programmpunkt, Paula-Irene Villas Vortrag „Porno, Protest und (Post-)Gender – Sexualität und Geschlecht als Schauplätze politischer Auseinandersetzungen“, wurde energiereich der thematische Wechsel ins „Heute“ vollzogen. Villa vertrat die These, dass die heutige Gender-Reflexion auf zwei sehr verschiedene Arten die performative Artikulation eines heroischen Selbst habe entstehen lassen. Zum einen sei eine Selbstermächtigung von Frauen im Sinne einer pointierten Form des Empowerment zu beobachten, wie sie sich im Porno-Pop widerspiegle. Dort finde ein spielerischer und lustvoller Umgang mit Geschlechtergrenzen statt: Souveräne Frauen à la Rihanna oder Lady Bitch Ray mit männlichem Habitus, ganz nach dem Autonomie-Credo „ja kein Opfer sein!“, die als Subjekte des pornografischen Geschehens auftreten, in Stripclubs gehen würden, ficken anstatt gefickt werden würden – und dennoch für Männer begehrenswert bleiben oder gar noch begehrenswerter würden. Zum anderen habe die heutige Gender-Reflexion aber auch den sehr ernst daherkommenden Anti-Genderismus hervorgebracht – mit seiner Ablehnung sexueller Vielfalt und dem Versuch, alle Liberalisierungs- und Reflexionsgewinne zu beseitigen. Im Rahmen inszenierter Selbst-Viktimisierung werde dem Genderismus vorgeworfen, dass er Kindern durch die hervorgebrachte Frühsexualisierung schade, dass er mit seinem Konstruktivismus die natürliche Ordnung missachte und die Ehe mit dem dahinterstehenden Konzept der Liebe zerstöre. Villa plädierte dafür, das Gespräch zu suchen und sich aktiv mit entsprechenden Vertreter_innen auseinanderzusetzen. Unter den Zuhörer_innen traf ihre engagierte Haltung auf breite Resonanz.

Der Samstagnachmittag stand unter dem Motto „Heute“ und war verschiedenen therapeutischen Themen gewidmet. Als erster Redner sprach Ulrich Clement zum „dramaturgischen Blick in der Sexualtherapie“. Als Grundverständnis äußerte er, dass die Art, wie jemand Sexualität lebe und Symptome zeige, Ausdruck seiner Lebendigkeit seien und dass sexuelle Symptome als eine Vermeidung von Mehrdeutigkeit verstanden werden könnten. Sexualtherapie stellte er daraufhin als Inszenierung eines ergebnisoffenen Dramas dar – vor dem Hintergrund seiner These, dass spannende Therapien tendenziell wirksam sind, uninteressante dagegen nutzlos. Der Therapeut sei in diesem Drama gleichzeitig Regisseur, indem er das Setting entscheide, Schauspieler, indem er in Form einer kontrollierten Authentizität (d. h. einerseits mit dem vollen Glauben an das eigene Agieren und andererseits mit dem Wissen um die Darstellerfunktion) mitgestalte, und Zuschauer, indem er einen Blick von außen bewahre. Im Rahmen des Dramas, das sich als Folge eines Konflikts entfalte, bei steigender Spannung auf eine folgenreiche Entscheidung mit ungewissem Ausgang zusteuere und danach auch retardierende Momente mit sich bringe, liege es am Therapeuten, für Lebendigkeit zu sorgen, indem er Mehrdeutigkeit ertrage, keine einseitig sex-positive Einstellung vertrete, dem Anderssein als nicht bewertender Ethnologe begegne und neugierig bleibe. Ein besonderer Wert liege gerade auch im Innehalten, d. h. Staunen, Verlangsamen, Schweigen. Vor allem, wenn Klient_innen sich getrieben fühlten, führe dies zur Gegenwartsorientierung, sorge für Zeit zum Nachdenken und erlaube Neubewertungen als öffnende Prozesse. Clement betonte das Interessante und den Reichtum, der im unklaren Ausgang einer Therapie liege – und machte damit geradezu Lust aufs Drama.

Anschließend folgte das zweite Symposium mit dem Titel „State of the Art“. David Garcia Nuñez wählte in seinem Vortrag „Unterwegs zum Regenbogen – Vom Transsexualismus über die Geschlechtsdysphorie zur Geschlechtervarianz“ die Transitionsmetapher als Ausgangspunkt. Nicht nur die einzelnen Trans*-Personen, sondern auch die Behandelnden seien auf einer Reise, d. h. auf der Suche nach dem besten Weg. Als derzeitigen „State of the Art“ stellte er einen Behandlungspfad vor, der insbesondere drei Konfliktebenen berücksichtige. Auf der strukturellen Ebene, die unter anderem wissenschaftlich-theoretische, ethische und juristische Aspekte betreffe, sei ein transinklusives Wissen anzuwenden, das auf einem dekonstruktivistischen Geschlechterverständnis basiere und für Vertrauensbildung in der Trans*-Community sorge. Auf interpersoneller Ebene gehe es um Vernetzungsarbeit in Form einer interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen psychologischer Diagnostik, Phoniatrie, Endokrinologie, Gynäkologie, Urologie und plastischer Chirurgie. Die individuelle Ebene betreffe die Durchführung von affirmativen Therapien, in denen unter anderem ein Raum für non-binäre Identitäten sowie Verständnis für Minderheitenstress gegeben sei.

Daran anknüpfend widmete sich Andreas Hill der „Psychotherapie im Kontext nicht-heterosexueller Orientierung“. Nach der Darstellung verschiedener Entwicklungstheorien stellte er heraus, dass bei Schwulen, Lesben und Bisexuellen manche Dinge anders seien und dass Therapeut_innen hierfür ein Bewusstsein haben sollten. So seien nicht-heterosexuelle Menschen besonderen Belastungen wie internalisierter Homonegativität, Minderheitenstress und Diskriminierung ausgesetzt. Laut Studienergebnissen hätten sie zudem ein höheres Risiko für psychische Störungen, insbesondere Angststörungen, Depressionen und Suchterkrankungen. Der Coming-Out-Prozess stelle nicht-heterosexuelle Menschen vor besondere Entwicklungsaufgaben, die aber das Potenzial hätten, Autonomie und Resilienz zu stärken, falls sie erfolgreich bewältigt würden. Als wichtige Themen homosexueller Männer nannte Hill, dass diese häufiger ihre Sexualpartner wechseln und tendenziell mehr Alkohol, Drogen und sexuelle Stimulanzien konsumieren würden. Ein erhöhtes Risiko für sexuell übertragbare Krankheiten sei zu bedenken und gegebenenfalls gelte es den besonderen Bedingungen im Falle einer HIV-Infektion Aufmerksamkeit zu schenken. Nicht zuletzt wies Hill darauf hin, dass die psychische Gesundheit von sexuellen Minderheiten sich bei verringerter Diskriminierung verbessere.

Zum Abschluss des Symposiums folgte Anika Flöters Vortrag zur „Psychotherapie bei Paraphilien“, mit Schwerpunkt auf der pädophilen Störung. Bezüglich der Diagnostik hob sie hervor, dass bei der Sexualanamnese häufig konkrete Praktiken, Fantasien, Geschwisterbeziehungen sowie Selbstbefriedigung und Medienkonsum vernachlässigt würden. Sie zeigte auf, dass Therapeut_innen sich ihrer eigenen Präferenzen und Einstellungen sehr bewusst sein sollten, wenn sie über Sexualität sprechen würden, und achtsam mit den Grenzen sowie Scham oder Sexualisierung vonseiten des Gegenübers umgehen sollten. Außerdem sei für beidseitige Verstehensprozesse sowie den Aufbau der therapeutischen Beziehung Zeit wichtig. Für die Behandlung paraphiler Störungen stünden sowohl Pharmako- (z. B. mit Cyproteronacetat (CPA) und/oder GnRH-Analoga) als auch Psychotherapie (z. B. multimodale kognitiv-verhaltenstherapeutische Programme wie die masturbatorische Sättigung und Delikt-Szenarien sowie psychodynamische Ansätze wie die Transference Focused Therapy) zur Verfügung. Bei Fremdgefährdung gelte es, ein Risk Assessment durchzuführen. Flöter betonte, dass nur etwa die Hälfte aller Sexualstraftaten vor dem Hintergrund einer Paraphilie begangen werde und dass es in der Therapie nicht um normative Sexualität, sondern um Lebensqualität, Beziehungsfähigkeit und Handlungsspielraum gehe.

Als Letzte des Tages sprach Eva Illouz über „Die neue Liebesordnung: Frauen, Männer und Shades of Grey“. Ihre Hypothese lautete, dass die Frauen-Romantrilogie „Shades of Grey“ – einer der bestverkauften Romane des modernen Verlagswesens – viele Widersprüche moderner heterosexueller Beziehungen aufgreife und die SM-Beziehung als symbolische Lösung dieser Widersprüche darstelle. BDSM beschrieb sie mehr als eine kulturelle denn als eine sexuelle Fantasie. Sexualität sei heutzutage das effizienteste Werkzeug, um sich als kompetentes Mitglied der Konsumkultur zu behaupten. Moderne Sexualität zeichne sich durch eine Kultur der Freiheit und des auszuhandelnden Konsenses aus, habe sich von einer Sexualität der Fortpflanzung zu einer Sexualität der Freizeitbeschäftigung entwickelt. Diese kulturellen Bedingungen würden sich in den unzähligen Sexualpartnerinnen und konstanten Behauptungen der emotionalen Uninvolviertheit des Protagonisten Grey sowie in dem fortwährenden Ringen des Paares Grey und Ana um Autonomie widerspiegeln. Was den Roman für Frauen so attraktiv mache, sei, dass Grey nach und nach in die weibliche Welt der Intimität hineingezogen werde, er sich Anas Macht ergebe, sich wie besessen um ihre Sicherheit kümmere. BDSM-Sexualität, wie die beiden sie intensiv leben würden, biete in mehrfacher Hinsicht Strategien zur Überwindung der Unsicherheiten moderner heterosexueller Paarbeziehungen: Gender- und Rollenirritationen würden durch vorgefertigte Rollenzuweisungen aufgelöst, Konsens werde in Form eines Vertrags klar definiert, psychisches Leiden werde in sicheren, physischen, lustvollen Schmerz verwandelt, der Leidende habe Kontrolle über sein Leiden. Illouz zufolge sei der Roman letztlich ein Selbsthilfebuch.

Auf diese Analyse des „Heute“ folgte am nächsten Vormittag der Blick ins „Morgen“. Den für wohl viele Zuhörende neue (Denk-)Welten eröffnenden Beginn machte Nicola Döring mit dem Thema „Roboter & Sex“. Sie stieg direkt mit ihrem Fazit und ihrer Vision ein: Technik werde für die Sexualität immer mehr an Bedeutung gewinnen und sich zu einem neuen Aushandlungsfeld für sexualpolitische Fragen entwickeln; die Sexualwissenschaft solle diesem Prozess nicht mit kritischer Distanz begegnen, sondern ihn kompetent und intensiv begleiten und auf diese Weise zur Herausbildung konstruktiver Umgangsweisen beitragen. Um die bereits vorhandene Relevanz von Robotersex zu verdeutlichen, zeigte sie zwei Entwicklungspfade auf: Zum einen die „gute alte Sexpuppe“, die sich zum Sexroboter mit nonverbalem autonomen Verhalten entwickelt habe (wie z. B. bei den mit verschiedenen Persönlichkeiten erwerbbaren Sexrobotern Roxxxy und Rocky der Firma True Companion) und in Zukunft noch anspruchsvollere künstliche Intelligenz aufweisen werde. Zum anderen die Virtual-Reality-Technologie, aus der die sogenannten Teledildonics hervorgegangen seien, d. h. Sextoys, die zu visuellem Pornofilm-Material gleichzeitig für eine haptische Stimulation der Genitalien sorgen würden. Während für den Gebrauch von Pornografie und Sextoys empirische Daten vorliegen würden, sei die Praktizierung von Robotersex noch fast gar nicht empirisch untersucht. Bedenken dagegen gäbe es schon viele, v. a. bezüglich des Verlusts emotionaler Bindungen an echte Menschen und der Animierung zum Ausleben paraphiler Neigungen und sexueller Gewalt. Döring appellierte daran, allen Sorgen erst einmal der Versuch des Verstehens vorangehen zu lassen: Was machen Menschen überhaupt mit Sexrobotern? Welche Nutzertypen und -szenarien gibt es? Nachdrücklich forderte sie auf, mehr zu forschen und dabei all die Entwicklungen auch mit Faszination zu betrachten. Ihr Vortrag lieferte reichlich Inspiration dafür.

Als Nächstes wendete Arne Dekker sich der „Zukunft sozialkonstruktivistischer Sexualforschung“ zu. Er zeigte auf, dass z. B. die vielfach sehr nützliche Theorie sexueller Skripte nach Gagnon und Simon über ihre häufig sehr diffuse Anwendung hinaus auch mit den Problemen verbunden sei, relativ körperfern und zudem voluntaristisch zu sein. In dieser mentalistischen Theorie werde davon ausgegangen, dass sexuelle Skripte vollständig reflexiv zugänglich seien. Auch textualistische Theorien (z. B. Sexual Stories) würden die Probleme nicht lösen. Für die Zukunft sei es erstrebenswert, wenn der Sexualwissenschaft – ausgehend von Gagnons und Simons Kategorien kultureller, interpersoneller und individueller Skripte – auch ein methodischer Zugang zur Körperpraxis zur Verfügung stünde. Denn Sexualität lerne man im Tun, möglicherweise wenig begleitet durch die Kognition. Eine Praxistheorie würde sich dadurch auszeichnen, dass sie darauf aufbaue, dass das Soziale sich durch Embodiment in Körpern materialisiere, dass sie Performativität und Routine berücksichtige und dass sie den Mikro-Makro-Dualismus traditioneller Sozialtheorien überwinde. Als Beispiel für eine Praxistheorie führte er Bourdieus Konzept des Habitus an.

Mit diesem Anstoß zum Diskurs ging eine abwechslungsreiche Tagung voller anregender Vorträge, die zum zukünftigen Weiterdenken und -forschen motivierten, zu Ende. Die Abschiedsworte sprach Martin Dannecker: Im Gestern bereits von 1985 bis 1991 Vorsitzender der DGfS, im Heute erneut als Nachfolger von Peer Briken in diese Funktion gewählt, für Morgen ein Befürworter von lebendiger Aktivität im politischen Raum und in der Sexualpädagogik, wie er durchklingen ließ.