Z Sex Forsch 2016; 29(02): 190-198
DOI: 10.1055/s-0042-108027
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Publication Date:
23 June 2016 (online)

Wiebke Driemeyer, Benjamin Gedrose, Armin Hoyer und Lisa Rustige, Hrsg. Grenzverschiebungen des Sexuellen: Perspektiven einer jungen Sexualwissenschaft. Gießen: Pychosozial-Verlag 2015 (Reihe: Beiträge zur Sexualforschung, Bd. 100). 257 Seiten, EUR 29,90

Die Beiträge dieses Sammelbandes sind aus Vorträgen und Postern der vom Nachwuchsnetzwerk Sexualforschung und Sexualtherapie (NEKST) organisierten Teile der 24. wissenschaftlichen Tagung „Grenzen“ der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung 2013 in Hamburg hervorgegangen.

Maria Pössel eröffnet den bunten Reigen der zwölf Beiträge von 25 Autor_innen mit einem Beitrag über sexuellen Kindesmissbrauch. Ihre akribisch beschriebene Untersuchung von 16 pädophilen und 39 nichtpädophilen männlichen Straftätern und 39 männlichen Nichttätern als Kontrollgruppe ergab, dass die Täter häufiger als die Nichttäter das Klima ihrer Herkunftsgruppe als lieblos beschrieben, häufiger von Scheidungen oder Tod der Eltern berichteten und sehr viel häufiger angaben, in ihrer Kindheit selbst sexuell missbraucht worden zu sein (was – wie die Autorin nicht ausschließt – teilweise damit zusammenhängen könnte, dass Sexualstraftäter dadurch auf Strafmilderung gehofft hatten). Vorsichtig formuliert die Autorin, dass insbesondere pädophile Straftäter mit selbst erlebter Viktimisierung „einen erhöhten Störungsgrad in ihrer psychischen Reifeentwicklung aufweisen könnten“ (S. 55).

Daniel Turner und Peer Briken zeigen in Wiederholung einer alten, von Bernd Meyenburg und Volkmar Sigusch entwickelten Befragung von Medizinstudierenden am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), dass „das Interesse der Studierenden an sexualmedizinischen Inhalten in medizinischen Vorlesungen 2012 gegenüber 1972 leicht abgenommen hat und gleichzeitig eine größere Zahl Studierender der Meinung war, über ausreichend Wissen bezüglich der Sexualität des Menschen für ihre spätere Tätigkeit als ÄrztIn (zu) verfügen“ (S. 61). Sie setzen sich dafür ein, dass trotz übervoller Lehrpläne „Inhalte pathologischer und nicht-pathologischer Sexualität von einem multidisziplinären Team über den gesamten Studienverlauf hinweg unterrichtet werden sollten“ (S. 61) – ein wunderbares, selbstverständliches und immer wieder scheiterndes Vorhaben.

Christoph Zürn, Tim Schlang und Wiebke Driemeyer stellen beherzt die Frage, ob und wie man von außerschulischen Expert_innen geleistete sexuelle Aufklärung an Schulen evaluieren kann, und sie versuchen das gleich selber in einer bewundernswerten und ergiebigen Studie, und zwar im Rahmen des Projekts „Mit Sicherheit verliebt“ der „Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland e. V.“ Sie kommen nach ihren Aufklärungsveranstaltungen in Schulen und Vor- und Nachbefragungen zu dem Ergebnis, „dass die Schüler*innen das Angebot zur Vor- und Nachbereitung des Schulbesuchs gut nutzen und sich auch positive Veränderungen hinsichtlich ihrer Einstellungen und ihres Wissens nachweisen lassen“ (S. 77). Keinen Zweifel lassen sie daran, dass solche schulische Veranstaltungen gefragt und sinnvoll sind und in jeder Weise unterstützt werden sollten.

In einem originellen und auf den ersten Blick ein bisschen skurril anmutenden Beitrag widmet sich Armin Hoyer unter der Überschrift „Verkehrsregeln“ den „Auswirkungen eines infektiologischen Hygieneregimes in den sozialen Kapillaren der Intimität“ (S. 91). Er sucht in den drei Bereichen Straßenverkehr, Infektionsepidemiologie und Sexualbeziehungsnetzwerk nach Gemeinsamkeiten – und findet sie, ausgehend vom „Abschirmsystem des Operationstrakts“ (S. 100) in einer hinreißend einsichtigen und vielschichtigen Feldbeobachtung. Alle drei Bereiche „werden reguliert durch ein zusammenhängendes, wenn auch nicht vollständig deckungsgleiches System aus sozialen Normen, das an Stellen dichter sozialer Interaktionsdynamiken greift. In der Sphäre der Sexualität [...] nehmen diese Verkehrsregeln die Gestalt von Safer-Sex-Regeln an. Im Hintergrund ist jedoch ein umfassendes infektiologisches Hygieneregime wirksam, das sich unterirdisch tief ins Selbstverständnis der Moderne eingegraben hat“ (S. 98). Letztlich artikuliert Hoyer ein virulentes Unbehagen daran, dass Sterilität, Perfektionismus, Technisierung, Logistizierung, hypertrophe Ichachtsamkeit, Misstrauen, Anständigkeitswahn den Zauber der Liebe, die Spontaneität der Lust, die Nähe- und Intimfunktion der Sexualität und die schönen Irrationalitäten der sexuellen Interaktion beschädigen oder töten könnten.

Louisa S. Arnold und Andreas Beelmann stellen die Frage, ob „staatlich geförderte Präventionsprogramme die Beziehungen sozial benachteiligter Eltern stabilisieren“ können (S. 117). Es geht dabei um in den USA entwickelte Beziehungstrainings, die Risikofaktoren für Kinder mindern sollen: „Als sozialpräventive Maßnahme werden solche Beziehungstrainings allerdings vermutlich nur in den USA angewendet“ (S. 121). Der Anlass dafür sind (im Vergleich zu Deutschland) drastische Unterschiede „entlang des Armutsgradienten“ und eine geringe „soziale Durchlässigkeit“ (S. 128) sowie eine zunehmende „Familieninstabilität“ (S. 117) – eine Situation, die die Autoren faktenreich als besorgniserregend beschreiben. In einer aufwendigen Metaanalyse von US-Evaluationsstudien haben beide Autoren nun untersucht, ob sich ein Nutzen solcher Interventionen nachweisen lässt. Das ist der Fall, vorsichtig formuliert: „Die vorliegenden Ergebnisse legen die Interpretation nahe, dass Beziehungstrainings für sozial benachteiligte Eltern geringe, aber signifikante Verbesserungen in verschiedenen Bereichen der Paarbeziehung bewirken können“ (S. 127). Aber sie wissen auch: „Noch viel sinnvoller wären Maßnahmen, die tatsächlich an den Ursprüngen struktureller sozialer Ungleichheit ansetzten. Diese wären allerdings weitaus tiefgreifender, aufwendiger und sind politisch von jeher kontroverser“ (S. 121).

„Heut’ lieb ich die Johanne / Und morgen die Susanne / Die Lieb’ ist immer neu / Das ist Studententreu.“ Dieses alte Studentenlied widerspiegelt eine bis in unsere Zeit hineinreichende Vorstellung von einer spezifischen studentischen Partner- und Sexualkultur. Nach Gesine Plagge und Silja Matthiesen sehen das Studenten auch heute noch so, verstehen das aber weniger als Phase des Studentseins, als eine mit dem Alter zusammenhängende Lebensphase: „Nach der Jugendzeit und vor der für die Zukunft gewünschten dauerhaften Beziehung und Familiengründung liegt die Phase des jungen Erwachsenenalters, in der es – unabhängig vom Student*innenstatus – darum geht, sich auszuprobieren und unterschiedliche sexuelle Erfahrungen zu sammeln. Dabei dominiert die seriell-monogame Orientierung, durch die unverbindlicher Sex als Teil der Singlesexualität verstanden wird“ (S. 144). In ihrem inhaltlich dichten Beitrag, der auf qualitativen Interviews von 100 Studentinnen und Studenten aus der großen Hamburger Replikationsstudie „Studentensexualität 2012“ beruht, berichten die beiden Autorinnen speziell über verschiedene Formen sexueller Aktivitäten fern von festen Beziehungen und deren Bewertung durch die Interviewten.

Maika Böhm, die an derselben Studie mitgearbeitet hat, weiß – und kommt darauf mehrfach fast ein wenig bedauernd zurück –, dass empirisch belegt „die Lebensphase des Studiums mehrheitlich von einer klaren Beziehungsorientierung und deutlichen Romantisierungs- wie Exklusivitätstendenzen geprägt ist. Damit geht eine enge Verknüpfung von gelebter Sexualität und Liebebeziehung einher – der meiste Sex, den Studierende haben, ist Beziehungssex“ (S. 166). Sie fragt nun, ob es jenseits dieser durchschnittlichen Häufigkeiten auch Hinweise auf alternative, von den Normen „‚abweichende’ Sexual-, Geschlechter-, und Beziehungsformen“ gibt (S. 166 f.). Sie findet sie in den qualitativen Interviews und stellt sie in Fallgeschichten dar. Dabei stößt sie in ihrer gründlichen und originellen Analyse auf Verhaltensweisen jenseits von biografischer und serieller Monogamie, auf Verwischungen von sexueller Orientierung, auf Aspekte wie BDSM und situative Komponenten wie Migration oder Gesundheit. Das alles freilich in nur geringen Häufigkeiten, aber immerhin. Notabene sind die Auswertungen verbalen Materials von Böhm wie auch die von Plagge und Matthiesen ein Beleg für die Eigenbedeutung und die Ergiebigkeit von qualitativen Untersuchungen, vorausgesetzt man mag sie und vermag sie professionell einzusetzen.

Zu den wenigen signifikanten Unterschieden im weiblichen und männlichen Sexualverhalten gehört die Selbstbefriedigung. Männer masturbieren im statistischen Durchschnitt erheblich mehr als Frauen. Warum ist das so? Gestützt auf eine repräsentative Befragung an schwedischen Schulen versuchen Wiebke Driemeyer, Erick Janssen und Eva Elmerstieg in ihrem Beitrag einer Antwort auf diese Frage näherzukommen. Dabei ist ihr Blick auf das Alter der ersten Masturbation und deren Auswirkungen auf die sexuelle Entwicklung gerichtet. Ihre Analyse ergibt diesbezüglich keine oder nur geringe Zusammenhänge in partiellen Kontexten.

Verena Klein, Martin Rettenberger und Peer Briken wenden sich in ihrem Beitrag sensibel der vielfach verdüsterten oder skandalisierten Realität weiblicher Hypersexualität zu. Die Onlinebefragung von 988 Frauen, von denen 31 Frauen (3,1 %) als hypersexuell eingestuft werden konnten, ergab, „dass weibliche Hypersexualität mit sexuellen Verhaltensweisen, die keine partnerschaftliche Interaktion erfordern, im Zusammenhang steht, da sich vor allem die Häufigkeit der Masturbation und ein erhöhter Pornografiekonsum für die Vorhersage hypersexueller Probleme als relevant erwies. Die Ergebnisse widersprechen der Ansicht, dass hypersexuelle Frauen Sexualität ausschließlich nutzen bzw. instrumentalisieren, um zwischenmenschliche Beziehungen zu kontrollieren und zu beeinflussen“ (S. 196).

Erik Meyer berichtet in seinem anschaulichen, differenzierten und kompetenten Beitrag über die Erfahrungen der Hamburger Trans*Beratung. Seiner gut begründeten Meinung nach ist für die spezifischen und multiplen Belastungen von Trans*Menschen „über die Peer-to-Peer-Beratung der Selbsthilfegruppen hinaus eine professionelle Beratung erforderlich“ (S. 214), die die Ratsuchenden selbstbestimmt nach ihren Bedürfnissen nutzen können.

„Protektive und dysfunktionale Internalisierungsprozesse an der Geschlechtergrenze“ (S. 217) beschreiben gekonnt David García Núñes, Peres Sandon, Nicole Burgermeister, Verena Schönbucher und Josef Jenewein in ihrem Beitrag ebenfalls über Trans*Personen, und stellen die Methodik einer geplanten qualitativen Studie vor, die ihre theoretischen Annahmen prüfen soll.

Im letzten Beitrag schließlich wenden sich Elene Bennecke und Birgit Köhler der psychologischen Versorgung von „Menschen mit Varianten der somatischen Geschlechtsentwicklung“ (S. 233) zu. Dieser neutrale Begriff (englisch „diversity of sexual development“ oder „diverse sex development“; dsd) ist gewählt, um Diskriminierung und Pathologisierung zu vermeiden. Die beiden Autorinnen stellen übersichtlich die biologischen Grundlagen dar, wenden sich kritisch dem bisherigen Umgang mit Varianten der Geschlechtsentwicklung zu, berühren die psychische Situation der betroffenen Personen und informieren über die seit 2014 laufende EU-Studie „dsd-LIFE“, mit deren Hilfe Versorgung und Beratung verbessert werden sollen.

Insgesamt bietet dieses fachgerecht herausgegebene und sorgfältig lektorierte Buch, das gut in Mußestunden zu lesen ist, ein Fülle an Informationen, Fragestellungen, Ideen, Befunden, Erkenntnissen, Schlussfolgerungen und klugen Randbemerkungen. Der Aufbau der Texte folgt vorzugsweise dem klassischen Aufbau von Artikeln in (medizinischen) Fachzeitschriften: Problemlage/Fragestellung – Erkenntnisstand – Untersuchung/Methode – Ergebnisse – Diskussion – Zusammenfassung/Folgerungen. Ausgangs- oder Bezugspunkt und Autoritätsbeleg sind meist US-amerikanische Studien und englischsprachige Quellen, was auch zu Bezeichnungen in Englisch führt, von casual sex über sexual double standard, pre-conference und queer theory bis gender gap. Wie in der Szene ebenfalls üblich, wird die männliche Form umgangen oder ausgemerzt und wimmelt es im Text von Binnen-Is, Unterstrichen und insbesondere Sternchen – der Gendermainstream ist mitreißend.

Im Diskurs über Sexualität und Individuum ist seit einiger Zeit der Begriff „Grenze“ wichtig geworden (sexuelle Grenzüberschreitungen, Körpergrenzen etc.). Mit einiger Fantasie, notfalls mit Hilfe des 28-seitigen Vorworts der Herausgeber, kann man sich unter dem Buchtitel „Grenzverschiebungen“ allerlei vorstellen. Dass aber dem Buch im Untertitel das Etikett „junge Sexualwissenschaft“ aufgeklebt wurde, scheint übertrieben. Gemeint kann nicht sein, dass die Sexualwissenschaft im Vergleicht zur Mathematik oder zur Philosophie eine junge Wissenschaft ist. Volkmar Sigusch umgeht daher in seinem kurzen Vorwort diese Formulierung und spricht stattdessen von seiner Freude über „eine neue Generation der Sexualforscher_innen“ (S. 9). Diese Freude kann man teilen.

Kurt Starke (Zeuckritz)