Z Sex Forsch 2013; 26(3): 282-299
DOI: 10.1055/s-0033-1350472
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Publication Date:
16 September 2013 (online)

Katinka Schweizer, Hertha Richter-Appelt, Hrsg. Intersexualität kontrovers. Grundlagen, Erfahrungen, Positionen. Mit einem Vorwort von Volkmar Sigusch. Gießen: Psychosozial 2012 (Beiträge zur Sexualforschung, Bd. 96). 524 Seiten, EUR 39,90

Katinka Schweizer und Hertha Richter-Appelt, zwei renommierte Sexualforscherinnen, haben das Buch „Intersexualität kontrovers“ herausgegeben und lassen hier international anerkannte Fachleute aus den verschiedensten Gebieten ebenso wie Betroffene und Angehörige zu Wort kommen. Intersexuelle Menschen sind dabei nicht als eine Einheit zu betrachten; es gibt vielmehr bei Menschen, die mit unklarem Geschlecht geboren werden, eine ganze Reihe von anatomischen und geschlechtsbedingten Besonderheiten, die – teilweise noch heute – geschlechtsangleichende Operationen mit nachfolgender lebenslanger hormoneller Substitution nach sich ziehen. Es handelt sich dabei um Unterschiede im Verlauf der geschlechtlichen Entwicklung, die häufigsten Arten sind das Adrenogenitale Syndrom (AGS), Androgeninsensitivität (CAIS/PAIS) und Gonadendysgenesie. Eine Zuordnung zu Disorders of Sex Development“ wird in dem Band häufig kritisiert, weil diese eine Störung in den Vordergrund stellt, anstatt z. B. grundsätzlich eine mögliche Anerkennung eines „dritten“ Geschlechts zu favorisieren. Es wurde und wird davon ausgegangen, dass sich die Geschlechtsidentität, weiblich oder männlich, nach einer chirurgischen Angleichung und geschlechtsspezifischen Erziehung erwartungsgemäß entwickle. Dass dem nicht so ist, sondern die Eingriffe zu Leid, Irritationen, Schmerzen und sozialen Problemen geführt haben, zeigen die Ergebnisse der von Hertha Richter-Appelt und Katinka Schweizer durchgeführten Hamburger Studie zur Intersexualität, in der erstmalig für den deutschen Raum eine Befragung von intersexuellen Menschen vorgenommen wurde. In dem Buch werden neben Ergebnissen der Hamburger Studie medizinische, psychologische, psychoanalytische und rechtliche Grundlagen erörtert sowie individuelle Erfahrungen berichtet. Ziel ist es, die Diskussion auf eine breite, von mehreren Fachdisziplinen getragene Grundlage zu stellen. Dies soll zu Lösungen z. B. rechtlicher Art und zu psychosozialen Hilfsangeboten für Menschen mit uneindeutigem Geschlecht führen.

Schweizer verweist anfänglich auf die Unterscheidung von Körpergeschlecht, dem sozialen und dem psychischen Geschlecht und auf die kulturell abhängigen Veränderungen des Geschlechtsbegriffs; die bipolare Unterscheidung in männlich und weiblich als Kategorie habe auch die chirurgischen Geschlechtsangleichungen mit zu verantworten. Sie stellt die Vielfalt einer Geschlechtsentwicklung heraus, die durch Unregelmäßigkeiten während der fötalen bis hin zur pubertären Entwicklung u. a. bedingt sind.

Die folgenden Beiträge dieses Buches sind in vier Kapitel unterteilt: 1. „Grundlagen und Entwicklungslinien“, 2. „Individuelle und kollektive Erfahrungen“, 3. „Perspektiven und Positionen“ und 4. „Dialog und Kontroversen“.

Im ersten Kapitel beschreibt Schweizer zunächst die Diagnostik und Formen intersexueller Geschlechtsentwicklungen. Holterhus zeigt die Bedeutung von molekularen Untersuchungen zu der Wirkung von Hormonen, insbesondere der Androgenwirkung, für die Entwicklung des Embryos, wie auch die Entwicklung des späteren Phänotyps, der sich unabhängig vom Chromosomensatz entfalten kann. Solche Studien, ebenso wie die von Prange-Kiel und Rune zur zerebralen Wirkung von Östrogenen, sollten nach den AutorInnen in die Beurteilung von individuellen Behandlungen Eingang finden.

Schweizer und Richter-Appelt stellen die Behandlungspraxis über die Zeit dar und zeigen auf, inwieweit die Zuweisung zu einem Geschlecht, orientiert an dem Modell eines „optimalen Geschlechts“, zu chirurgischen Interventionen geführt hat, die irreversible Tatsachen geschaffen hatten: Genitaloperationen, Gonadenentfernung sowie lebenslange Hormontherapie mit den Folgen von Narben, Schmerzen, Infertilität und sozialen wie psychischen Folgen. Demgegenüber werden aktuelle Behandlungsleitlinien dargestellt, die weiterhin auf dem Prüfstand stehen. Eine individuelle Indikation zu medizinischen Maßnahmen soll begrenzt werden auf die lebenserhaltenden und die physischen Funktionen wiederherstellenden Maßnahmen. Der Verlauf der Geschlechtsidentitätsentwicklung solle abgewartet werden und korrigierende Operationen nur mit Einverständnis der Betroffenen vorgenommen werden, wenn die Tragweite verstanden werden kann. Kritisch wird die vorherrschende Bipolarität der Geschlechter aus psychoanalytischer Sicht von Ilka Quindeau diskutiert. Sie verweist dabei auf Freuds Sichtweise der Bisexualität des Menschen, wobei Männlichkeit und Weiblichkeit auf einem Spektrum angesiedelt sind, was in diesem Diskurs u. a. als eine der Lösungen angesehen wird. Nach einem historischen Abriss der Rolle des Geschlechts im Recht wird von Konstanze Plett auf der Basis mehrerer Gesetze (z. B. Personenstandsrecht, Selbstbestimmungsrecht) die Zweigeschlechtlichkeit im Recht hinterfragt und argumentiert, dass der Mensch als Rechtsperson unabhängig vom Geschlecht sei. Sie schlägt die Einführung eines dritten Geschlechts vor und diskutiert die rechtlichen Folgen.

Im zweiten Kapitel berichtet eine Mutter, mit welchen Problemen sie und ihr intersexuelles Kind konfrontiert sind und welche Entscheidungen getroffen werden müssen – auch bei der Wahl des Zeitpunktes der Aufklärung der Kinder. Eveline Kraus-Kinsky betont als Betroffene mit AGS, dass es auch gelungene Geschlechtsidentitätsentwicklungen nach Korrekturen im frühen Alter geben kann; keine Korrektur könne auch als unterlassene Hilfeleistung interpretiert werden. Allerdings fordert sie eine Enttabuisierung, Aufklärung und psychologische Betreuung und ein Verbot von medizinischer Zurschaustellung. Oliver Tolmein diskutiert die rechtlichen Probleme von Intersexuellen, die wegen der Folgen früher Geschlechtskorrekturen und Gonadenentfernung Klage erheben wollen.

Schweizer und Richter-Appelt folgern aus den Ergebnissen ihrer Hamburger Studie zum Sexualverhalten und zur Zufriedenheit mit der Geschlechtsidentität, dass es die „richtige“ Geschlechtszuordnung nicht gebe und Prognosen nicht gegeben werden können. Individuelle Wege sollten unter dem Aspekt der Lebensqualität bei minimaler medizinischer Behandlung und individueller sowie gesellschaftlicher Akzeptanz des Andersseins favorisiert werden. Der Diskussion über heterosexuelle Normalität als Behandlungsziel oder der Orientierung an der Lebensqualität widmen sich auch Verena Schönbucher, Julia Ohms, David Nunez Garcia, Katinka Schweizer und Hertha Richter-Appelt auf der Grundlage ihrer Studie.

Franziska Brunner, Caroline Prochnow, Katinka Schweizer und Hertha Richter-Appelt berichten über das Körper- und Geschlechtserleben bei Personen mit kompletter Androgeninsensitivität (CAIS). Dabei machen sie deutlich, dass es bis heute unklar ist, welchen Anteil der gesellschaftliche Druck bei der Geschlechtsidentitätsentwicklung hat und der Zufriedenheit damit, sich einer binären Einteilung unterzuordnen.

Im dritten Kapitel berichtet zunächst eine Mutter, welche Erfahrungen sie und ihre Familie mit einer offenen Kommunikation über die Intersexualität ihres Kindes gemacht haben. Sie betont dabei die Entwicklung eines positiven Selbstwerts des Kindes. Jürg Streuli und Kathrin Zehnder zeigen in ihrer Kritik an normativen Forschungstraditionen, wie wissenschaftliche Fragestellungen im Rahmen der Untersuchung an Intersexuellen Menschen Bewertungen enthalten. Eine „metaanalytische Wende“ sei zu verzeichnen, bei der die Forschungsobjekte zu Subjekten werden, die einen Anspruch auf Mitsprache in der Forschung hätten. Ein Beispiel ist die Hamburger Studie, die im Austausch mit den Selbsthilfegruppen steht.

Garry L. Warne gibt einen historischen Überblick über die Behandlung von Intersexuellen und plädiert für maximalen Schutz vor Schäden und Erhaltung der Fertilität. Molekulare Forschungsergebnisse zeigen z. B., dass ein behauptetes hohes Entartungsrisiko der Gonaden, was zur Entfernung geführt hatte, in vielen Fällen nicht bestätigt werden kann. Sonia Grover würdigt die Rolle der GynäkologInnen als Teil eines multidisziplinären Teams. Operative Techniken, z. B. um Komplikationen zu beseitigen, seien unerlässlich; der persönliche Kontakt ermögliche es, traumatisierende Erfahrungen im Gesundheitssystem zu vermeiden. Glover bietet am Ende ihrer Ausführungen ein Glossar der ausgewählten Fachbegriffe an (S. 338).

Anette Richter-Unruh stellt kritische Fragen im Rahmen der Hormontherapie bei XY-chromosomalen Störungen. Die Kenntnis der Ursache für die intersexuelle Entwicklung kann Entscheidungen im Hinblick auf die Frage einer Hormonsubstitution stützen, so z. B. die Gabe von Testosteron bei XY-chromosomalem männlichen Phänotyp zur Auslösung der Pubertät. Unklar sei bis heute, ob und welche Hormonersatztherapie einen positiven Einfluss auf die Geschlechtsentwicklung nimmt und mit welchen Nebenwirkungen zu rechnen ist.

Psychologische Interventionen bei Intersexuellen stellt Richter-Appelt in Abgrenzung zur Transsexualität dar. Eine wichtige Bedeutung kommt der Beratung der Betroffenen und der Familien im Laufe der Entwicklung, insbesondere aber nach der Geburt und nach der Mitteilung an die Eltern zu. Dasselbe gilt für die Besprechung von Ängsten, wie die Zukunft sich für das Kind gestalten mag. Psychotherapie sollte nur bei Leidensdruck und bei Ängsten, die die Entwicklung und die Aufnahme von Beziehungen behindern, durchgeführt werden. Monika Gsell und Ralf Binswanger stellen Überlegungen zur psychosexuellen Entwicklung und Geschlechtsidentität bei intersexuellen Menschen aus psychoanalytischer Perspektive an. Für die Geschlechtsidentitätsentwicklung sei eine lustvolle Besetzung der eigenen besonderen genitalen Ausstattung, wie die kindliche Masturbation, zentral.

Im vierten Kapitel diskutieren Kathrin Zehnder und Jürg Streuli die differenten Sichtweisen der Fachdisziplinen, der betroffenen Familien und der Selbsthilfegruppen, die je für sich das Expertentum in Anspruch nehmen und betonen die Entwicklung eines gemeinsamen Verständnisses und einer gemeinsamen Sprache für diesen Diskurs. Die rechtliche Situation intersexueller Menschen sei auch politisch bisher ungelöst, so Angela Kolbe. Das Personenstandsrecht ebenso wie das Persönlichkeitsrecht zwingt Menschen zu einer Zuordnung zum weiblichen oder männlichen Geschlecht und werde damit den Intersexuellen nicht gerecht. Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit widerspreche den operativen Maßnahmen im frühen Alter, wenn sie denn nicht medizinisch notwendig seien.

Christina Handford, Franziska Brunner, Katinka Schweizer und Hertha Richter-Appelt zeigen auf der Grundlage ihrer Studie, dass die Einführung eines dritten Geschlechts nicht von allen begrüßt wird, da neue Diskriminierungen befürchtet werden. Tendenziell sind z. B. Menschen mit CAIS eher zufrieden mit dem ihnen zugeschriebenen Geschlecht, bei Menschen mit PAIS ist der Anteil deutlich geringer. Dem Umgang mit Intersexualität nähert sich Katharina Wollert unter ethischen Aspekten, die sie im sozio-historischen Kontext sieht. Basierend auf Entscheidungsfindungsmodellen werden das Prinzip der Autonomie und die prozesshafte Begleitung der Eltern bei ihrer Entscheidung präferiert. Katinka Schweizer geht davon aus, dass eine sichere Prognose über die Geschlechtsidentitätsentwicklung bisher nicht möglich ist. Intersexuelle Menschen könnten auch eine psychische Zwischengeschlechtlichkeit entwickeln. Michael Groneberg stellt Überlegungen zum Umgang mit Zwischengeschlechtlichkeit an, die sich auf den rechtlichen Aspekt der körperlichen Unversehrtheit, auf das Erziehungsgeschlecht und den Schutz der Geschlechtsidentität beziehen. Er fordert eine Interdisziplinarität und Entideologisierung in Wissenschaft und Forschung und eine Einbeziehung der Betroffenen.

Wer sich bisher mit den gesellschaftlich vernachlässigten Problemen von intersexuellen Menschen nur marginal beschäftigt hat, erhält mit diesem Buch Gelegenheit, sich einen gründlichen Überblick zu verschaffen. Den Herausgeberinnen ist es gelungen, die einzelnen Fachdisziplinen und die betroffenen Menschen zu Wort kommen zu lassen, ohne dabei zu verleugnen, dass es unterschiedliche Sichtweisen gibt. Allerdings zeichnet sich doch insgesamt ein eindeutiger Trend zu einem Paradigmenwechsel hin zu zeitverzögernden Maßnahmen und zu informierter Einwilligung von chirurgischen Korrekturen ab.

Trotz unterschiedlicher Sichtweise wird deutlich, dass es den AutorInnen darum geht, den Menschen mit einer besonderen Geschlechtsentwicklung ein würdiges Leben zu ermöglichen. Ich bin überzeugt, dass dieses Buch dazu beitragen wird und empfehle es ohne Einschränkung. Darüber hinaus befruchtet die Zusammenführung von empirischen und hermeneutischen Ansätzen den Diskurs. Den Herausgeberinnen ist zu verdanken, dass dieses Thema gesellschaftlich und wissenschaftlich wahrgenommen werden kann. Auch der Hinweis der Herausgeberinnen, dass die Texte nicht im Hinblick auf Redundanz überprüft wurden, ist überhaupt kein Nachteil, weil auf diese Weise jeder Beitrag auch für sich gelesen werden kann. Ein äußerst gelungenes Buch!

Beatrix Gromus (Hamburg)