Z Sex Forsch 2011; 24(3): 272-278
DOI: 10.1055/s-0031-128710
DEBATTE

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Rettet die Scham!

Über Abgrenzung und Bedrängnis[1] Isabelle Azoulay
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Publication Date:
15 September 2011 (online)

Scham ist kein Affekt und spielt auch nicht eine marginale Rolle. Sie reguliert den Abstand zwischen uns und den Anderen. Scham ist ein wesentlich konstituierender Faktor unserer psychosexuellen Identität, daher erachte ich es als falsch, wenn nicht gar verheerend, Schamfreiheit als wünschenswert zu denken. Das viktorianische Zeitalter ist vorbei. So ist es abwegig, Scham in Zusammenhang mit normativen Erwartungen und repressiven Benennungen von Körperteilen immer wieder zu diskutieren, da wir damit übersehen, dass das nur das Lametta meint. Darunter, viel essentieller, weilt die Scham als eine Größe in uns, die als kostbarer Schutz erachtet werden muss. Umso mehr Lametta, als der „Bedeutungshof des Affekts Scham“ (Hauch 2010: 365), der von Margret Hauch als bedauerlicherweise an weibliche Genitalien legiert beschrieben wird, immer weniger Frauen entspricht. Die repressiven 50er-Jahre sind vorbei und wenn wir mit dem Paradoxon des Sexuellen und dem Rätsel des Glücks auch nicht wirklich weiter gekommen sind, das Verhältnis der Frauen zu ihrem Körper hat sich in den letzten 50 Jahren enorm verändert – steht fern des Diktats von Scham. 

Ein fatales Missverständnis ist entstanden – zwei Bedeutungen, die in Scham enthalten sind, wurden vermischt. In der französischen Sprache existieren zwei verschiedene Worte für Scham: la pudeur, was Scham als konstituierende Schutzhülle und la honte, was Pein meint, das, wofür es sich zu schämen gilt. Die deutsche Sprache, die nur das eine Wort Scham für so unterschiedliche Inhalte kennt, hat damit einen Erdrutsch ermöglicht. In der Kritik normativer Zuschreibungen ist die Kostbarkeit der „pudeur“ weggerutscht, das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Bei der Vorstellung einer Lust ohne Zensur als Forderung gegen repressive Vorstellungen wird übersehen, dass wir nicht nur aus Lust bestehen und wir uns vor dem Ansturm von Lust-Erwartungen und Möglichkeiten abwenden. Dieser Moment des Sichabwendens wird fälschlicherweise als Scham (honte) ­gedeutet. Rettet die Scham! Sie ist nicht als eine Geste von „Nein, Danke“ zu verstehen. Sie bildet den elementaren Boden, auf dem unsere physische wie psychische Unversehrtheit garantiert wird. 

Die Liebe isoliert uns besser als irgendeine Droge und wahrscheinlich ist es dieses Abgeschottetsein, dieses Aufgehobensein, was der Süchtige in seiner Manie immer wieder verspüren will. Bei allen Kapriolen, die wir unserem Körper in diesem Zustand sowohl gönnen als auch zumuten, gibt es eine unsichtbare Schranke zwischen dem Anderen und dem Selbst, die als zuverlässiger Abstandhalter stets im Dienst ist. Ein unsichtbares Etwas scheint uns immer zu schützen. Unserem Körper erweisen wir eine transzendente Treue. In Gestalt von Scham hütet uns diese Treue. Sie ist unser Wächter. 

Am Ende des 20. Jahrhunderts zieht der Orkan der Befreiung über alle Landschaften, ein heftiger Wind, der viele Fesseln sprengt, aber auch alle Kleidungsstücke mitreißt. Was hinterlässt er? Strings! So gut wie nichts. Hässliche Fetzen, die das Kaschieren nur noch simulieren. Unsere Nacktheit wird umzingelt. Sind wir denn nicht fragil genug? Erbärmliche Hausfrauenbefreiung. Und wir stehen da und frieren, erschrocken wie geohrfeigte Katzen. 

Unsere Scham ist unser Selbstschutz und mit Adleraugen wacht sie über uns auch bei unseren intimsten Begegnungen. Sie ist nicht verhandelbar. Sie ist das Rückgrat in unserem psychosexuellen Zuhause. In ihrem Aufsatz „Sexualität und Scham“ stellt Margret Hauch die Scham als verhandelbare Entität dar und sie hofft, die Menschen müssten diese nicht mehr „zum Selbstschutz instrumentalisieren“, um in ihren intimen Begegnungen Nähe und Distanz auszubalancieren. Aber dort wird die Wachsamkeit ihrer Aufsicht vielleicht gar die höchste Stufe einstellen und tatsächlich unsere wahrsten Interessen vertreten. 

Knapp vor Marx und Freud entsteht der Traum, den unproduktiven und lästigen Gegensatz zwischen Liebe und Arbeit zu überwinden. Im frühen 19. Jahrhundert hat Charles Fourier Scham als Kleingeistigkeit verflucht. Vehement griff er die zivilisierten Sitten an, klagte die Scham als Heuchelei und blanke Unterdrückung an: Fourier entwarf darauf eine merkwürdige Utopie, den Phalanstère, in der das Kollektiv keine Scham mehr kennen ­sollte. Er hat uns eine dörfliche Utopie der Befreiung präsentiert, die viele danach neuaufgelegt haben, bis Wilhelm Reich uns schließlich mit der Besessenheit in den Orgasmus marterte. 

Wir verzeihen ihnen. Es war gut gemeint, wenn auch abstrus. 

Scham wurde lange als natürliche Verlegenheit von Frauen angesehen. Es geht der Scham ähnlich wie unserem Verhältnis zu Schmerz: Wir staunen, wie deutlich er im sozialen Gewebe eingeflochten, wie sehr er Ergebnis von kulturellen Konventionen ist und dabei gleichzeitig das Individuellste und Intimste, von Mensch zu Mensch anders erlebt, anders gesehen. 

Der Atheismus, der uns die letzte Hoffnung raubte, schaffte neue Rahmenbedingungen für das schutzlose Dasein. Die tröstenden Auffangnetze hat er abgeschafft. Der große Schoß der Kirche, sowohl als Refugium wie als Dachverband für Strenge und sadistisch gefärbte Abhängigkeitsverhältnisse, fällt weg. Die steile Treppe unserer Befreiung hat kein Geländer. Wenn wir nur noch die Augen schließen, verlieren wir das Gleichgewicht. 

Aber was stellen wir fest? Das Problem bleibt ganz. Haben wir uns der Moral entledigt, verspüren wir, Nichts ist gelöst! Die von Günter Amendt festgehaltene Frage „Hätten Romeo und Julia auch dann Schwierigkeiten ­gehabt, wenn sie einfach von zu Hause weggelaufen wären und es an der Riviera oder bei Freunden in Padua getrieben?“ (Amendt 1978: 15) muss bejaht werden. Bedrängt oder offenherzig – es bleibt die schmerzliche Evidenz im Raum: Die ersehnte Vereinigung ist eine Illusion. Georges Bataille, der gewissermaßen die Staffel von Sade übernimmt, bleibt genau an dieser Erkenntnis stehen und ergießt uns mit den Tränen des Eros seine ganze Verzweiflung über diese Enttäuschung. 

Heute ist alles auf den Kopf gestellt, eine obszöne Gier nach Enthüllung, die viele Menschen schon so weit erfasst, dass sie nicht mehr die Aufforderungen feister Berichterstatter benötigen, um auf die Bühne zu steigen und das Äußerste zur Schau zu stellen. Die Exhibitionisten triumphieren vor dem Publikum der Voyeure, die aus allen Richtungen angerannt kommen. Sie stieren diejenigen an, die gekommen sind, um sich zu verschleudern bis endlich ein widerliches Gelächter ihren Selbstmord besiegelt. Vielleicht hilft es uns, sie mit Masochisten im strengen Sinn zu vergleichen, die doch erst im Schmerz der Schläge ein wenig Lebendigkeit spüren. Die Schutz­hülle der Scham erfährt eine Häutung, die erst wenn es brennt, aufatmen lässt, und für Sekunden Lebendigkeit schafft. Ist die Abwesenheit von Scham eine Art von Selbstverletzung, gar manchmal sogar eine Selbstverstümmelung? 

Seit 30 Jahren traktieren erst die sexuelle Revolution, dann das Aufkommen der Neosexualitäten die Scham, die kaum noch ein Versteck findet. Das heillose Durcheinander, das uns nach der erfrischenden sexuellen Revolu­tion heimsucht, macht uns ratlos. Die Zerlegung der alten Sexualität in so viele befremdende Formen versetzt uns mittelfristig in eine Nebelbank. Die Idee, dass die Kontrolle von Affekten unsere Zivilisationsgeschichte beschreibt, wie es uns Norbert Elias sinnstiftend vorschlug, taugt sie, um die Scham zu verstehen? Die Scham wird doch älter als das 18. Jahrhundert sein! Schlüpft sie nicht immer durch solche Muster? Scham ist subversiv, sie unterläuft die Hilfskonstruktionen, die wir schaffen, um sie zu verstehen. Wenn es so weiter geht, möchte man fürchten, dass bald Abstinenz zum letzten Rückzug unserer Subversivität wird. 

Neosexualitäten mischen auf – im Windschatten von Missbrauch, Nekrophilie, Größenwahn und entfesselter Misogynie etablieren sich Cybersex, Swingerclubs, Chatkulturen und inszenieren für unsere Einsamkeit vergebliche Zerstreuung. Sie haben der Schamlosigkeit ein breites Forum geschaffen und siehe da: Es laufen ganz viele hin... Was ist los mit der Scham? In welchem überlangen Winterschlaf ist sie versunken! Welche tückische Langeweile verführt Frauen wie Männer dazu, ihre Schutzhülle zu zerreißen und wie Zirkushunde in die Arena zu hüpfen? Wie wenig eigenes Leben kennen sie, als dass sie auf diese Reserve zurückgreifen, sie verschleudern, den Säuen vorwerfen? Wir können über die verlorenen Perlen weinen und konsterniert sein. Es ist, als würde man sich am Deck der sinkenden Titanic darüber beschweren, dass der Tee auf die Untertasse geschwappt ist. 

In der Geste von Demut, die Scham zeigt, wird höflich der Andere aufgehalten. „Halt, bitte nicht weiter!“. Die Scham sagt „Bitte“. Das trägt auch dazu bei, dass sie als altmodisch angesehen wird. 

Die Scham konstituiert unsere Grenzen und gestaltet das Areal, auf dem wir bereit sind, dem Anderen zu begegnen. Die Scham gestaltet unsere Lovemap, unsere Empfindsamkeits-Landschaft. Ohne sie würde jeder Pornografiekonsum unser Verhalten ändern, uns niedersinken lassen ins Mechanische, in der Wiederholung, in der Seelenlosigkeit. Ohne Scham wären wir verloren. Die Scham hält etwas verborgen, sie schützt unser Geheimnis. Sie umhüllt unsere Eigenliebe. Die Scham gestaltet den ganzen Charme ­einer Person, die auf sich achtet. Wie die zartesten Zeugnisse erotischer Kunst zeigen, nimmt die Scham etwas vorweg. Der Vergeblichkeit, die der sexuellen Fusion beiwohnt, versucht sie einen Aufschub zu schenken. 

Scham ist verwandt mit Melancholie, sie antizipiert sie. In der Bedrängnis werden wir rot. Wie das Lachen, wenn jemand fällt, das Missgeschick zu korrigieren versucht, so repariert das Rotwerden unsere Verletzung in ­Anbetracht unserer Nacktheit, wenn sich Schamlosigkeit uns aufdrängt. Geschweige denn, wenn wir vor einem lebendigen Menschen stehen, der uns anschaut. Der direkte Blick ist eine Aufforderung zum Duell. Unerträglich. Erkannt. Umzingelt. Der Frechheit, die ein Mensch besitzt, der einen zu beharrlich anschaut, kann kaum standgehalten werden. Sonst wäre auch das Spiel zu kurz. Was tut man bloß in der Eindeutigkeit? Verflucht sei sie. 

Was wollen wir nun? Die Knoten der sexuellen Repression sind geplatzt. Jeder spielt, wie er es möchte. Die fantastische wie merkwürdige Erfindung von Hysterie ist obsolet. Wir haben die Risse erkannt und stellen fest, die Flügel des Eros sind kupiert. 

Das Fleisch ist traurig. Wir tragen ein geheimes Wissen in uns darüber, dass unsere Sehnsucht vergeblich ist. Sexuelle Akrobatik bleibt der ver­zweifelte Versuch, dieses Wissen immer wieder zu betäuben. Transgression, ­Aggression, Schmutz, Tabuverletzungen oder die Inszenierung irgendeiner ­Gefahr nehmen dieses Wissen der Enttäuschung vorweg. Das Fleisch bleibt traurig. Der wütende Schrei, den die Exzesse dieser Evidenz entgegensetzen, lässt keinen Menschen kalt. Ihr Affekt berührte und berührt weiter. Wenn unsere Schamgrenze, unser Schutzmantel angerempelt oder gar beschädigt wird, ist unser gesamtes Koordinatensystem, unser Verhältnis zu anderen gestört. Das sublime Regelwerk, das diese Grenze zeichnet, bestimmt und dekliniert sich durch alle Beziehungen und Verhältnisse zu ­anderen Menschen. Und darum ist diese Grenze brisant und höchst schützenswert. Die Unversehrtheit dieser Grenze ist die Bedingung für unsere Bewegungsfreiheit – wurde diese Linie überlistet oder besudelt, wird es eng im „eigenen Haus“. Und die hohe Kunst bleibt, in diesem sexualisierten und sterblichen Körper zu wohnen, souverän zu bleiben. Die Scham ist eine Evidenz wie auch ein Mysterium. Sie bestimmt die helle Selbstverständlichkeit des Seins. Das Kindliche in uns. Das Sein im Ruhezustand, abseits von der Schlacht mit den Anderen. 

Seitdem wir das Unbewusste als das Organ des Abgründigen identifiziert hatten, glaubten wir, alles sortieren zu können, Ruhe zu finden. Oh Weh! Es unterläuft alle Regeln. In der Arena unserer Sexualität spielt sich nach wie vor ein Trauerspiel ab. In der Hitze der Verwirrung sitzen alle artigen Posten in uns ganz brav auf der Zuschauertribüne und schlecken am kühlenden Eis. In der VIP-Loge erkennen wir Madame Abstinenz. Sie sitzt nur da, schaut nicht runter in die Arena – wie man leidet und wegschaut, wenn ein Verbündeter, ein Geschwister malträtiert wird. 

Wir sind getrimmt darauf, uns zu beherrschen und in dieser Bedrängnis ist der Sog zum Rausch, sei es als Möglichkeit, gesichert. Wie ein Magnet zieht er uns an und wir wünschten, wir wären mutiger, unvernünftiger. Wir leben mit dieser Verlockung und dosieren sie so gut wir wollen, wahrscheinlich aber nur so gut wir können. 

Je unbeherrschter unsere Träume, desto eindeutiger nehmen dort unsere Verschmelzungswünsche Gestalt an. Der Rausch hat eine Ich-Sprengende Kraft. Er vereinigt und weitet, während die Nüchternheit trennt und verengt. In einer Art Trunkenheit, einem Vergehen der Sinne, einer Auflösung des Bewusstseins ins Ungewisse gleiten wir dahin, sind beim Erwachen erlöst und gerettet, es war nur ein Traum. Etwas in uns will uns loswerden, uns selber aus dem Verkehr ziehen und es gelingt nie. Kein Delirium kann uns von der Bildfläche löschen. Bei jeder Ernüchterung stellen wir fest, wir sind mit unserem Verstand verantwortlich und in unserem Körper gefangen. Und dort, wo wir stehen hält uns noch die ganze Zittrigkeit unserer Adoleszenz. 

Wir suchen den Riss zwischen uns und der Welt, diese merkwürdige Stelle, die wir versuchen zu schließen. Etwas gibt keine Ruhe. In unserem Sog zum Rausch beschleunigen wir diese stetige Suche nach einem verschmelzenden Übergang – vergeblich. Wir suchen Trost und mit dem Balsam unserer Träume schleifen wir ohne Unterlass die scharfen Kanten unse­rer Schmerzen ab. Die gärenden Apfelstücke Schillers in der Schublade seines Arbeitstisches mögen exemplarisch dafür sein, die Suche nach dem anderen Zustand so vertraut. 

Wir entpuppen uns schließlich als nicht Lernfähige, und als solche klammern wir uns mit verzweifelter Gier an eine Illusion. Die Illusion, das Sexuelle verberge eine Lösung, einen Ausweg, einen Weg, eine Überraschung, ein Etwas. Auf einsamer Flur verharren wir. Das Kollektiv schafft keine Matrix, auf der wir einen Ort des Seins finden können, wo wir frei von Trouble und Verunsicherung wären. Alles Schimäre, alles Ammenmärchen. Selbst wenn wir einigermaßen tugendhaft durch die Existenz avancieren, knapp nach dem Übermut der Jugend wird die Luft dünn. Allen Vorgaben gerecht zu werden, überfordert uns. Die Melancholie frisst uns Kraft und Lebensmut weg. Und auf diesem Trampelpfad kapitulieren wir peu à peu. Unausweichlich erliegen wir einer kleinen, großen, kitschigen, fatalen, romantischen Vorstellung: Im Schoß des Anderen, des Gegenübers, einer einzigen Person, auf die wir alles setzen, phantasieren wir den ultimativen Ruhepol. Wir suchen nach Ruhe und wir nennen es Liebe. Artaud hätte gesagt, „von wegen Liebe!, in Kauf nehmend, dass der als Liebe getarnte Sexzwang euch einfach die nächsten Ketten anlegt, ihr Narren!, lasst euch mit der Legende des süßen Spleens betäuben“ (Artaud 1956: 112). Ausblendend, dass wir in einer Kammer landen, die von vielen Dämonen belagert wird, lassen wir von diesem Märchen nicht los. Wir schaufeln uns am Ende der Sackgasse tiefer und tiefer in diese hinein. Maulwürfe, emsig und blind wie sie. Wir geben uns allen kleinkarierten und vorgestanzten Querelen hin. Mit Eifersucht und Eheverträgen inszenieren wir klare Zugehörigkeitsverhältnisse. Dann bleibt uns nichts anderes als diese zu unterlaufen, und nichts als Heimlichkeiten, wie sie Emma Bovary träumte, geben uns sekundenlang die Illusion frei zu sein. Am Ende der Sackgasse gefangen, versuchen wir mit Würde unsere Ohnmacht auszubalancieren. Aus Verzweiflung die Flucht nach vorn ansetzen. Die weiße Fahne hissen. Wir deklarieren eine Person zur geliebtesten und riegeln alles ab. Zwei Säuglinge, aneinander klammernd, verkünden, während sie in Traurigkeit ersticken, das Areal der Normalität abgesteckt zu haben. Auf Zahl setzen und während sich der Teller dreht und dreht und langsamer wird und die Kugel nur noch auf die Kanten zwischen den Zahlen hüpft, die Augen schließen. 

Und was passiert? Dieser Schmerz wird, ohne dass wir es vernommen hätten, allmählich ein süßer Schmerz, wir gewöhnen uns an ihn, arrangieren uns, leben mit ihm, schließlich können wir gar feststellen, alle unsere Neurosen platzieren sich brav drum herum. Unmerklich schützen wir diesen süß gewordenen Schmerz sogar. Fast könnte man glauben, ohne ihn wären wir verloren. Also bepudern wir unseren Schmerz mit den besten und mit den absurdesten Handlungen. Ob wir einem Waschzwang folgen, in makellose Arbeit uns stürzen oder ständig Huren aufsuchen müssen, die uns an Spielzeug anbinden … Sisyphos gleich, denken wir, Thanatos neutralisiert zu haben – sowie die Klienten von Schönheitschirurgen tatsächlich bald glauben, unsterblich zu sein! – und obwohl die Entzauberung umso klarer kommt – wir hören nicht auf, mit unserem Aktionismus die Schmerzherde zu besänftigen – aber nichts hilft. Schwitzend rollen wir immer wieder die dicken Steine den Berg hoch. Immer wieder, denn nur diese besten und absurden Handlungen können uns sachte ablenken, sanft betäuben, kurzweilig. Die Mutigen (oder sind es die Feiglinge?) hoppeln direkt von Rausch zu Rausch, der Exzess verschlingt sie … dafür sterben sie meistens früher. Im Lachen der Verzweiflung finden wir eine Zutraulichkeit, einen Strohhalm. 

Wir versuchen, der Welt für einen Moment den Rücken zu kehren. Doch das Monster Zeit greift erbarmungslos an. Wir versuchen, das Glück bei den Haaren zu krallen, und in dieser Folie steckt auch Kaltblütigkeit, Entschiedenheit, Tugend im lateinischen Sinn des Wortes virtus, das Tapferkeit meint. 

Wir können staunen, wie still das Menschsein weilt. Während die Hitze aller Widersprüche nicht aufhört zu provozieren, legen wir uns leise in den Schatten. Und auf diesem Terrain, das eine von Tarkowski entworfene Landschaft sein könnte, ist die Scham der Egide gleich – der wundersamen Waffe, die Zeus hält, die sowohl offensiv wie auch defensiv walten kann, auf jeden Fall Symbol einer souveränen Macht, hoffend, nichts und niemand trete uns zu nahe. 

1 Eine Replik auf den Beitrag „Scham und Sexualität. Ein verqueres Verhältnis“ von Margret Hauch (Z Sexualforsch 2010; 23: 365–376).

Literatur

  • 1 Amendt G. Sexfront. Frankfurt / M.: März Verlag; 1978
  • 2 Artaud A. Pèse-nerfs. Paris; Gallimard. 1956: 112
  • 3 Hauch M. Scham und Sexualität. Ein verqueres Verhältnis.  Z Sexualforsch. 2010;  23 365-376

1 Eine Replik auf den Beitrag „Scham und Sexualität. Ein verqueres Verhältnis“ von Margret Hauch (Z Sexualforsch 2010; 23: 365–376).

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