Z Sex Forsch 2011; 24(2): 105-110
DOI: 10.1055/s-0031-1271480
EDITORIAL

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Evolutionspsychologie der Sexualität

Reinhard Maß
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Publication Date:
15 June 2011 (online)

Zwei Tragödien gibt es im Leben:
Die eine, nicht zu bekommen,
was das Herz wünscht,
die andre, es zu bekommen.
George Bernard Shaw

Das Verständnis der menschlichen Sexualität bleibt ohne die evolutionspsychologische Perspektive notwendigerweise unvollständig. Der Versuch, das Wesen des Menschen allein aus den gesellschaftlichen Bedingungen, denen er unterworfen ist, zu erklären, würde seine zunächst einmal biologische Natur verleugnen und darum zu kurz greifen. Man sollte sich da nichts vormachen: Wir sind mit all unseren körperlichen und psychischen Ausstattungen Kinder des Pleistozäns und optimiert dafür, in kleineren Ge­mein­schaften als Jäger und Sammler durch die Savanne zu ziehen (selbst Ackerbau und Viehzucht sind vergleichsweise moderne Errungenschaften). Viele unserer Bedürfnisse, Vorlieben und Abneigungen, die wir meistens als Selbstverständlichkeiten hinnehmen und nicht hinterfragen, lassen sich aus der stammesgeschichtlichen Entwicklung des Menschen als genetisch manifestierte Anpassungen an frühere Lebensbedingungen erklären. Diese Lebens­bedingungen haben sich für die meisten Menschen weitreichend und in einem rasanten Tempo geändert, die genetische Ausstattung ist ­jedoch noch weitestgehend die alte geblieben und oftmals nicht optimal an die heutige Lebensweise angepasst. 

Anders als alle anderen Spezies ist der Mensch durch seine kulturelle und wissenschaftliche Evolution in einer nie dagewesenen Weise in der ­Lage, seine Umwelt selbst zu gestalten und für die Befriedigung seiner Bedürfnisse zu sorgen. Das scheint auf den ersten Blick erfreulich und erstrebenswert zu sein, hat aber bei näherer Betrachtung oft fatale Folgen. Denn unsere Bedürfnisse haben keineswegs den adaptiven Zweck, jederzeit und vollständig befriedigt zu werden. Vielmehr dienen sie der Verhaltensregulation unter den längst nicht mehr gegebenen Umweltbedingungen, in denen der Mensch sich als Art entwickelt hat. Verhaltensweisen, die dort und damals sinnvoll und vorteilhaft für das Überleben und den Reproduktionserfolg waren, sind es nicht automatisch auch noch heute. Als Beispiel sei der uns angeborene Appetit auf Süßigkeiten herangezogen. Eine ultimate Ursache[1] dafür, dass die meisten Menschen gern süße – also in der Regel zuckerhaltige – Nahrung zu sich nehmen, liegt in dem hohen Nährwert ­solcher Nahrungsmittel. Denn die Sicherung der ausreichenden Nahrungszufuhr war während des größten Teils der menschlichen Entwicklungsgeschichte, in der nicht an jeder Ecke ein Supermarkt zu finden war, ein nicht leicht zu lösendes Problem. Hochkalorische Nahrungsmittel (wie ­Honig aus den Waben eines wilden Bienenvolkes oder Beeren bestimmter Sträucher) sind daher eine günstige Gelegenheit, den Bedarf effizient zu ­decken. Sie sind aber in der Natur eine eher seltene Erscheinung. Der Appetit auf Süßes kann also als eine Anpassung an eine Mangelsituation verstanden werden, die uns veranlasst, die seltene Gelegenheit zu nutzen. Unter den Bedingungen eines praktisch unbegrenzten Zugangs zu zuckerhaltigen Nahrungsmitteln, wie sie in den westlichen Industrieländern heute gegeben sind, verliert diese ursprünglich sinnvolle Anpassung ihren Überlebenswert. Mehr noch, die Möglichkeit, dieses Bedürfnis unbegrenzt zu stillen, hat nun schädliche Folgen (z. B. Adipositas und Folgekrankheiten wie Hypertonie oder Diabetes). Man könnte noch viele weitere Beispiele anführen, etwa die Tendenz, körperliche Anstrengungen zu vermeiden (ultimate Ursache: Vermeidung von Kraftverschwendung angesichts knapper Nahrungsressourcen). Diese Tendenz hat ebenfalls nur dann einen adaptiven Wert, wenn sie nie ganz verwirklicht werden kann. 

Auch die menschliche Sexualität ist durch eine Vielzahl genetisch ver­erbter, evolvierter, psychologischer Mechanismen gekennzeichnet, welche Einfluss auf unsere Vorlieben und Bedürfnisse sowie auf unser Verhalten haben. Dennoch wäre es ein Missverständnis, daraus einen allzu schlichten Determinismus abzuleiten. EvolutionspsychologInnen gehen vielmehr von einer Interaktion zwischen phylogenetisch herausgebildeten Adaptionen ­einerseits und Umwelteinflüssen andererseits aus. Ein häufig angeführtes Beispiel zur Veranschaulichung ist die Fähigkeit der Fußhaut, Horn zu bilden; ob eine Hornschicht entsteht, hängt von der tatsächlichen Beanspruchung der Füße ab, also z. B. von der Reibung des Bodens und der Art der Bewegung des Körpers. Es wird ferner keine Unveränderlichkeit evolu­tionsbedingter Verhaltenstendenzen angenommen; vielmehr kann das Wissen um unsere biologische Natur sogar Änderungsprozesse unterstützen. So wurde gezeigt, dass Männer es viel häufiger als Frauen als Ausdruck sexuellen Interesses interpretieren, wenn eine Frau einen Mann anlächelt (Abbey 1982). Dabei handelt es sich vermutlich um eine Anpassung, welche die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass Männer sich zufällig ergebende sexuelle Möglichkeiten nutzen; der Nachteil, der entstünde, wenn eine solche Möglichkeit übersehen würde (falschnegativer Fehler), wäre größer als der Nachteil, der durch eine falschpositive Fehlinterpretation eines weiblichen Lächelns entstünde. Die Berücksichtigung dieser Zusammenhänge kann ­dabei helfen, das Verhalten eines Mannes zu verstehen und gezielt zu korrigieren, wenn derartige Fehleinschätzungen zum Problem werden und es z. B. zu Belästigungen gekommen ist (Buss 2004). 

Auf der anderen Seite bieten evolutionspsychologische Ansätze Erklärungen für sonst kaum verstehbare Phänomene der menschlichen Sexualität. Als Beispiel sei die Diskrepanz zwischen dem Wunsch nach Treue in festen Partnerschaften genannt, welcher sich sogar im Bürgerlichen Gesetzbuch und in religiösen Geboten („Du sollst nicht die Ehe brechen“) manifestiert hat, und der tatsächlich in Paarbeziehungen gelebten Praxis mit einer bemerkens­werten Häufigkeit von Außenbeziehungen (Kröger 2010). Bahnbrechende Konzepte wie die Theorie der elterlichen Investition oder die Theorie des reziproken Altruismus’ von Trivers (1971, 1972) regten zahl­reiche empirische Studien an. Daraus, dass Frauen (z. B. durch die Schwangerschaft und das Stillen) mehr in den Nachwuchs investieren als Männer, ergeben sich recht unterschiedliche adaptive Probleme für Männer und Frauen. In den letzten Jahren führte die evolutionspsychologische Sexualforschung zu oftmals verblüffenden Resultaten. Die Beiträge in diesem Themenheft geben Übersichten zu einigen zentralen Forschungsfeldern der Evolutionspsychologie. 

Weingrill und van Schaik befassen sich in ihrer Übersichtsarbeit „Sexueller Zwang bei Primaten“ mit einem speziellen Gebiet der Primatenforschung. Sexueller Zwang – inklusive des Infantizids, also der ­Tötung der Nachkommen anderer Männchen, um Platz für die eigenen Nachkommen zu schaffen – wird als adaptive Reproduktionsstrategie der Männchen mancher Spezies aufgefasst. Diese Strategie führte zu entsprechenden adaptiven Gegenstrategien der Weibchen. Am Ende des Beitrags stellen die Autoren einen Bezug zwischen den Schlussfolgerungen aus den Primatenstudien und dem Fortpflanzungssystem des Menschen her. Zwar ist Infantizid beim Menschen ein eher seltenes Phänomen (Stone et al. 2005), andere Formen sexuellen Zwangs sind jedoch verbreitet und, wie es scheint, zumindest teilweise evolutionspsychologisch zu erklären. Die bei manchen Affenarten zu beobachtende Sequestrierung – also der Versuch ­eines Männchens, ein Weibchen von anderen Männchen fern zu halten, um für sich eine möglichst hohe Vaterschaftswahrscheinlichkeit zu ­er­reichen – erinnert an das wiederholt in evolutionspsychologischen ­Stu­dien beschriebene männliche Partnerbewachungsverhalten (Gangestad et al. 2002). 

Wir haben bewusst diesen Beitrag aus der Primatenforschung an den Heftanfang gesetzt, denn der Mensch ist eine von mehreren hundert Primatenarten, die es derzeit (noch) gibt. Systematische Untersuchungen artspezifischer sexueller Verhaltensmuster und Vergleiche zwischen den Spezies lassen Rückschlüsse auf die Funktionen und Hintergründe der menschlichen Sexualität zu. Beispielsweise variiert die Ausprägung des Sexual­dimorphismus’ (hier v. a. der körperliche Größenunterschied zwischen Männchen und Weibchen) zwischen den Primatenarten beträchtlich, was von großer Bedeutung für die sexuelle Interaktion ist. Der Vergleich von Sexual­dimorphismus und Hodengröße lässt z. B. darauf schließen, dass Menschen in ihrer Entwicklungsgeschichte vermutlich überwiegend in Partnerschaftsformen gelebt haben, die meist monogam, aber teilweise auch polygyn und tendenziell exklusiv waren. 

In dem anschließenden Aufsatz über „Eifersucht in Liebesbeziehungen“ beschreibt Schützwohl die evolutionspsychologische Funktion von Emotionen im Allgemeinen und von Eifersucht im Besonderen. Hier sei ebenfalls auf ein wesentliches Merkmal der menschlichen Sexualität hingewiesen: Eine Frau weiß immer, ob sie tatsächlich die biologische Mutter ihres Kindes ist, ein Mann kann sich dessen nicht sicher sein (Vaterschaftstests waren während des längsten Teils der menschlichen Entwicklungsgeschichte unbekannt und haben daher auf die adaptiven Strategien noch keinen ­Einfluss gehabt). Dieser fundamentale Unterschied zwischen den Geschlechtern hat erhebliche Konsequenzen für das Sexualverhalten. Sexuelle Untreue durch die Partnerin bzw. den Partner bedroht wegen der Vaterschaftsungewissheit den männlichen Reproduktionserfolg stärker als den weiblichen, umgekehrt wird der weibliche Reproduktionserfolg eher von emotionaler Untreue gefährdet, da Frauen aufgrund ihrer höheren reproduktiven Investition auf die zuverlässige Unterstützung durch den Mann angewiesen sind. 

Schwarz, Gand und Hassebrauck gehen in ihrer Arbeit über die „Effekte der weiblichen Fertilität auf das Verhalten und die Informationsverarbeitung im Kontext von Partnerschaft“ unter anderem auf eine Besonderheit der menschlichen Sexualität ein: Frauen haben eine verborgene Ovulation entwickelt, d. h. der fertile Zyklusabschnitt ist kaum erkennbar. Welchen Nutzen die verborgene Ovulation hat und welche Konsequenzen sich daraus für das menschliche Sexualverhalten ergeben, wird von Schwarz et al. ausgeführt. Im Weiteren gehen die Autoren auf Befunde ein, denen zufolge Frauen während der empfängnisbereiten Tage anziehender auf Männer wirken als in anderen Zyklusphasen; dabei spielen vermutlich zahlreiche subtile Signale eine Rolle, z. B. die Mimik (Maß et al. 2009) oder die ­Kleidung (Durante et al. 2008). Daraus resultiert das Risiko, dass auch unerwünschte Männer auf die Signale reagieren. Die adaptiven Strategien, mit denen Frauen dieses Problem lösen, werden in diesem Artikel ebenfalls aufgezeigt. 

In ihrer Arbeit über „Veränderungen weiblicher Partnerpräferenzen im Menstruationszyklus“ befassen sich Klusmann und Berner ebenfalls mit der Ovulation. Hintergrund ist die evolutionspsychologische Annahme, dass Frauen aufgrund der bereits erwähnten größeren Investition in ihre Kinder für eine erfolgreiche Reproduktion zwei Ziele zugleich verfolgen müssen: Sie benötigen einen Mann mit „guten Genen“ (was u. a. an dessen physischer ­Attraktivität, etwa der Symmetrie des Körperbaus, sowie an maskulinen Merkmalen erkennbar ist), der zu einer guten genetischen Ausstattung der Nachkommen beiträgt sowie einen Mann, der bereit ist, seine Ressourcen zuverlässig in die Nachkommenschaft zu investieren („guter Versorger“). Die meisten verfügbaren Partner werden für die Frau nicht gleichzeitig ­beide Merkmale in hohem Ausmaß bieten. Eine adaptive Strategie könnte also darin bestehen, dass eine Frau in fester Partnerschaft, deren Partner physisch wenig attraktiv ist, sich die guten Gene für ihre Nachkommen von ­einem anderen Mann besorgt, also einen geheimen Seitensprung begeht. Tatsächlich wurde gezeigt (Haselton und Gangestad 2006), dass Frauen mit wenig attraktiven Partnern in der fertilen Phase mehr sexuelle Phantasien über fremde Männer entwickeln, was vermutlich zur Herausbildung adaptiver Gegenstrategien bei den regulären Partnern geführt hat, insbesondere wenn diese sich selbst für wenig attraktiv halten (Maß et al. 2008). Klusmann und Berner durchleuchten in ihrer Arbeit das komplexe Geflecht der Motive und Verhaltensweisen, die bei der Auswahl der Partner bzw. Partnerin für kurz- oder langfristige Partnerschaften eine Rolle spielen. 

Mit dieser Ausgabe erscheint in der Zeitschrift für Sexualforschung erstmals ein Schwerpunktheft zum Thema „Evolutionspsychologie“. Ich bedanke mich bei den Herausgebern dafür, dass mir als Gast-Editor die Gelegenheit gegeben wurde, dieses Heft zu gestalten. Es ist uns gelungen, einige der – auch international – namhaftesten und renommiertesten deutschsprachigen Autoren für Beiträge zu ihren jeweiligen Spezialgebieten zu gewinnen, und ich hoffe, die Leserinnen und Leser der Zeitschrift werden die Artikel mit Interesse rezipieren. Ich würde mich freuen, wenn hierdurch eine angeregte Diskussion evolutionspsychologischer Themen in der Fachgesellschaft angestoßen würde.

Literatur

  • 1 Abbey A. Sex Differences in Attributions for Friendly Behaviour: Do Males Misperceive Females’ Friendliness?.  J Pers Soc Psychol. 1982;  32 830-838
  • 2 Buss D M. Evolutionäre Psychologie. 2., aktualisierte Auflage. München: Pearson; 2004
  • 3 Durante K M, Li N P, Haselton M G. Changes in Women’s Choice of Dress Across the Ovulatory Cycle: Naturalistic and Laboratory Task-Based Evidence.  Pers Soc Psychol Bull. 2008;  34 1451-1460
  • 4 Gangestad S W, Thornhill R, Garver C E. Changes in Women’s Sexual Interests and Their Partners’ Mate-Retention Tactics Across the Menstrual Cycle: Evidence for Shifting Conflicts of Inter­est.  Proc R Soc Lond B. 2002;  269 975-982
  • 5 Haselton M G, Gangestad S W. Conditional Expression of Women’s Desires and Men’s Mate Guard­ing across the Ovulatory Cycle.  Horm Behav. 2006;  49 509-518
  • 6 Kröger C. Sexuelle Außenkontakte und -beziehungen in heterosexuellen Partnerschaften. Ein Überblick über die Auftretenshäufigkeit, assoziierte Merkmale und Auswirkungen auf die Partner bzw. Partnerschaft.  Psychol Rundsch. 2010;  61 123-143
  • 7 Stone M H, Steinmeyer E, Dreher J, Krischer M. Infanticide in Female Forensic Patients: The View from the Evolutionary Standpoint.  J Psych Prac. 2005;  11 35-45
  • 8 Maß R, Hölldorfer M, Moll B, Bauer R, Wolf K. Why We Haven’t Died Out Yet. Changes of Wom­en’s Emotional Reactions to Visual Erotic Stimuli During Menstrual Cycle.  Horm Behav. 2009;  55 267-271
  • 9 Maß R, Sommerlad K, Weber C, Bauer R, Fischer G. Zur evolutionspsychologischen Bedeutung sexualmoralischer Überzeugungen von Männern.  Sexuologie. 2008;  15 104-112
  • 10 Trivers R L. Parental Investment and Sexual Selection.. In: Campbell B, Hrsg. Sexual Selection and the Descent of Man: 1871–1971.. Chicago: Aldine; 1972: 136-179
  • 11 Trivers R L. The Evolution of Reciprocal Altruism.  Quart Rev Biol. 1971;  46 35-57

1 Auf den Nobelpreisträger Nikolaas Tinbergen geht die Unterscheidung von proximaten und ultimaten Ursachen von Verhalten zurück. Zu den proximaten Ursachen gehören die Organismusvariablen, z. B. sein physiologischer Zustand, mögliche äußere Auslösereize, oder auch früher erworbene Lernerfahrungen (Ontogenese). Zu den ultimaten Ursachen gehören der adaptive Wert eines Verhaltens für das Individuum sowie auch die Gründe, die im Verlauf der Phylogenese das Entstehen der betreffenden Verhaltensweise begünstigt haben. Insbesondere die ultimaten Ursachen menschlichen Verhaltens werden von der Evolutionspsychologie untersucht.

Prof. Dr. R. Maß

Zentrum für Seelische Gesundheit Marienheide

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