Z Sex Forsch 2010; 23(1): 63-70
DOI: 10.1055/s-0030-1247260
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart ˙ New York

Transsexuelle Entwicklungen und therapeutische Praxis[1]

Timo O. Nieder
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Publication Date:
16 March 2010 (online)

Zu Beginn der institutionalisierten Behandlung der Transsexualität Mitte der 1960er Jahre in den USA sowie etwas später im europäischen Kulturraum wurde eine biologische Frau, die sich als Mann identifiziert, die das innere Bedürfnis hat, in der Geschlechtsrolle eines Mannes zu leben und die ihr Ziel mit hormonellen und chirurgischen Mitteln verfolgt, als eine transsexuelle Frau beschrieben. Gleichermaßen wurde ein Mann, der sich als Frau wahrnimmt und dementsprechend leben möchte, als ein trans­sexueller Mann beschrieben (vgl. Meyerowitz 2002). In den aktuellen psychiatrischen Klassifikationssystemen (DSM-IV-TR, ICD-10) und auch im deutschen Transsexuellengesetz (TSG) wird analog von einem (transsexuellen) Mann mit Geschlechtsidentitätsstörung gesprochen. Hingegen verwenden Betroffene sowie einige Kliniker und Wissenschaftler die genannten Begriffe mittlerweile gegenteilig (vgl. Nieder und Richter-Appelt 2009): ­Eine transsexuelle Frau ist eine Frau, die darunter leidet, mit den äußeren und inneren körperlich-biologischen Merkmalen eines Mannes geboren worden zu sein.

Ebenso verändert hat sich die Verwendung der Begriffe Homo- und Hetero­sexualität bei transsexuellen Menschen. Während der homosexuelle, transsexuelle Mann sexuell an Männern interessiert ist, fühlt sich die homo­sexuelle transsexuelle Frau zu anderen Frauen hinge­zogen. Als Bezugs­punkt der sexuellen Orientierung ersetzt das Identitäts­geschlecht zunehmend das biologische Geschlecht.

Die intensiv geführte Debatte über die Terminologie der Transsexualität und deren Implikationen lässt sich auf die Frage zuspitzen, ob transsexuelle Entwicklungen im Erleben (Frau bzw. Mann mit Geschlechtsidentitäts­störung) oder im Körper (transsexuelle Frau bzw. transsexueller Mann) der ­Betroffenen begründet sind. Diese Frage ist jedoch zugleich reduktionistisch und nicht zu beantworten. Entscheidend ist vielmehr, wie die Sprache ­unsere Wahrnehmung beeinflusst.

Der Verwirrung, die sich infolge derartiger terminologischer Spezifika einstellen kann, wird häufig mit dem Prinzip der binären Kategorisierung begegnet. Beispielsweise verwendet die philosophische Logik den Satz vom ausgeschlossenen Dritten – Tertium non datur (Heinrich 1981). Das zu­grunde liegende Bivalenzprinzip folgt einer Logik, nach der für eine belie­bige Aussage mindestens die Aussage selbst oder ihr Gegenteil gelten muss; eine dritte Möglichkeit gibt es nicht. Auch die Psychoanalyse in persona C. G. Jung (1978) hat sich mit dieser binären Denkweise beschäftigt. Differenz und Ausschluss sind dabei nicht zufällig Teile der Sprache, sondern ­integrale Bestandteile unserer Art der Bedeutungszuschreibung. Dieses Vertrauen auf Differenz führt dazu, dass die Komplexität der Welt tendenziell in Form von vereinfachenden Binaritäten gesehen wird: hetero oder homo, pervers oder nicht pervers (vgl. u. a. Derrida 1983).

In vielen gesellschaftlichen Bereichen ist das menschliche Denken von ­Binaritäten geprägt. Binaritäten behandeln die Welt dabei wie einen Kreis, den man nur einmal durchschneiden darf. Alles, was nicht auf die eine oder die andere Hälfte passt, geht verloren. Diesem Prinzip entspricht die binäre Aufteilung der Geschlechterordnung: Mann oder Frau. Doch Binaritäten unter­teilen den Kreis nur scheinbar in zwei gleich große Hälften. Sieht man genauer hin, so erscheinen die meisten Binaritäten als subtil getarnte Hierarchien. Dabei gilt das Eine als maßgebend und das Andere als Negation des ­Einen. So ist das Andere immer das Untergeordnete. Weil der erste Teil der Binarität die Begriffe der Diskussion festlegt, agiert er als Zentrum und ist ­daher nahezu immun dagegen, hinterfragt zu werden (vgl. Wilchins 2004). So wird ausschweifend über die Bedeutung von „Frau“ diskutiert, aber nicht von „Mann“, über „Homosexualität“, aber nicht über „Heterosexualität“. Es wird über die transsexuelle Identität gesprochen, aber kaum über die mit dem Körpergeschlecht übereinstimmende Geschlechtsiden­tität.

1 Überarbeitete Fassung eines Vortrags, gehalten auf der 5. Klinischen Tagung der DGfS vom 15. bis 17.5.2009 in Münster. Besonderer Dank gilt Prof. Richter-Appelt für die Durchsicht einer ersten Version des Manuskripts.

Literatur

1 Überarbeitete Fassung eines Vortrags, gehalten auf der 5. Klinischen Tagung der DGfS vom 15. bis 17.5.2009 in Münster. Besonderer Dank gilt Prof. Richter-Appelt für die Durchsicht einer ersten Version des Manuskripts.

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T. O. Nieder

Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie · Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

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20246 Hamburg

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