Z Sex Forsch 2009; 22(4): 359-368
DOI: 10.1055/s-0029-1224702
Dokumentation

© Georg Thieme Verlag Stuttgart ˙ New York

Schuld, Scham und Wiedergutmachung in der Therapie sexuell grenzverletzender Jugendlicher[1]

Klaus Machlitt
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Publication Date:
05 January 2010 (online)

In dieser Arbeit wird die Bedeutung der Schuld- und Schamabwehr für die Therapie sexuell grenzverletzender Jugendlicher behandelt. Nach einer Klärung der Begrifflichkeiten von Schuld und Scham werden einzelne Scham­affekte dargestellt, die einen wesentlichen Einfluss auf die Behandlungssituation haben. In meinem Beitrag versuche ich, mich dem Erleben eines Jugendlichen anzunähern, insbesondere im Hinblick auf Affekte, die die therapeutische Begegnung wesentlich beeinflussen.[2] Der Fokus liegt dabei auf Aspekten von Schuld, Scham und Wiedergutmachung als behandlungsrelevanten Faktoren. Entsprechend werde ich unser therapeutisches Konzept nicht in der Breite vorstellen, sondern einen Teilaspekt der Behandlung im Sinne einer „Kernbohrung“ herausgreifen.[3] 

Zu Beginn möchte ich einen Jugendlichen vorstellen:[4] 

Ercan ist ein 17-jähriger, großer, schlanker, gutaussehender, freundlich-zugewandt wirkender Jugendlicher. Er hat den Termin für ein Erstgespräch im Kinderschutz-Zentrum selber vereinbart. Er beginnt das Erstgespräch mit der Eröffnung, er habe „ganz große Scheiße gebaut“, er habe nämlich seine Kusine über mehrere Jahre missbraucht. Nach einer kurzen Rückversicherung über die Reaktion des Therapeuten fährt er fort: Er habe eingesehen, dass er ihr total wehgetan habe und sich wie das letzte Schwein verhalten habe. Im Grunde könne er niemandem mehr in die ­Augen sehen. Die Anzeige, die Befragung bei der Polizei und die Strafe geschähen ihm ganz recht. Dies alles sei sogar gut, weil er jetzt erkannt habe, dass er ein guter Mensch sein müsse. Er beschreibt dann wortreich, wie er täglich darum bemüht sei, anderen zu helfen und ein guter Mensch zu sein. Die Therapie sei eine Auflage, allerdings wolle er selber auch mit jemandem reden. Er sei schon bei einem Therapeuten in einer anderen Stadt gewesen, da habe er alle wesentlichen Dinge besprochen. 

Bereits in dieser kurzen Sequenz leuchtet das Thema in verschiedenen ­Facetten auf: Ercan spricht zunächst offensiv seine Schuld an, ohne sie allerdings direkt zu benennen. Er drückt seine Scham über die Tat aus und ­beschreibt Versuche der Wiedergutmachung. Dennoch bleibt ein merkwürdiges Gefühl des „als ob“, des Zweifels an der Tiefe und Intensität seiner Auseinandersetzung mit den Übergriffen. 

1 Vortrag, gehalten auf der Tagung „Sexuell grenzverletzende Kinder und Jugend­liche“ am 13.2.2009 in Hamburg

Literatur

1 Vortrag, gehalten auf der Tagung „Sexuell grenzverletzende Kinder und Jugend­liche“ am 13.2.2009 in Hamburg

2 Die nachfolgend dargestellte einzeltherapeutische Behandlung eines sexuell grenzverletzenden Jugendlichen erfolgte im Kinderschutzzentrum Hamburg nach einem tiefenpsychologisch fundierten Behandlungskonzept unter Einbeziehung der Familie und anderer bedeutsamer Bezugspersonen. Das Kinderschutzzentrum bietet Hilfen für gewaltbelastete Kinder und Jugendliche sowie deren Familien. Weitere Informationen über das Kinderschutzzentrums unter www.kinderschutzzentrum-hh.de

3 Für eine ausführliche Darstellung unseres Konzeptes vgl. Machlitt 2004 a, 2004 b

4 Aus Datenschutzgründen erfolgt die Darstellung anonymisiert.

  • 1 Deegener G. Sexueller Missbrauch: Die Täter. Weinheim: Psychologie Verlags Union 1995
  • 2 Hilgers M. Scham. Gesichter eines Affekts. Göttingen: Vandenhoek und Ruprecht 2006
  • 3 Hilgers M. Die Rotation von Schamaffekten als Entstehungsbedingung von Destruktivität und Gewalt. In: Bell K, Höhfeld K, Hrsg. Aggression und seelische Krankheit. Gießen: Psychosozial Verlag 1996; 205–218
  • 4 Hirsch M. Scham und Schuld – Sein und Tun. Vortrag im Rahmen der 57. Lindauer Psychotherapiewochen 2007 a. [Als Online-Dokument: www.lptw.de]
  • 5 Hirsch M. Schuld und Schuldgefühl: Zur Psychoanalyse von Trauma und Introjekt. Göttingen: Vandenhoek und Ruprecht 2007 b
  • 6 Machlitt K. Perspektiven der Behandlung sexuell grenzverletzender Jugendlicher – Überlegungen zu einem integrativen Behandlungskonzept.  IKK Nachrichten. 2004;  1–2 11-17
  • 7 Machlitt K. Ambulante Einzeltherapie mit sexuell grenzverletzenden Jugendlichen im Kinderschutzzentrum Hamburg.  IKK Nachrichten. 2004;  1–2 29-32
  • 8 Piers G, Singer M. Shame and guilt. New York 1971
  • 9 Thiersch H. Scham – wenn Grenzen überschritten werden müssen. Vortrag im Rahmen des Kinderschutzforums 2008: Die Jugendhilfe von heute – Helfen mit Risiko. Köln 2008 [Als ­Online-Dokument: www.kinderschutz-zentren.org/kinderschutzforum/kifo08/pdf/kifo08v_vortrag4_thiersch.pdf]
  • 10 Wurmser L. Die innere Grenze. Das Schamgefühl – ein Beitrag zur Über-Ich-Analyse. Jahrbuch der Psychoanalyse 1986; 13
  • 11 Wurmser L. Die Maske der Scham. Zur Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten. Berlin: Springer 1997

K. Machlitt

Kinderschutzzentrum Hamburg

Emilienstraße 78

20259 Hamburg

Email: kinderschutz-zentrum@hamburg.de

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