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DOI: 10.1055/a-2520-9072
Blutbuch



Der Roman „Blutbuch“ von Kim de l’Horizon erhielt 2022 nicht nur den Debütpreis der Jürgen Ponto-Stiftung, sondern auch gleich den Deutschen Buchpreis und den Schweizer Buchpreis. De l’Horizon soll 12 Jahre an diesem autobiografisch gefärbten Werk geschrieben haben. Da sich sowohl de l’Horizon als auch das autofiktive Erzähl-Ich als nichtbinär identifizieren, fokussierte sich die mediale Aufmerksamkeit stark auf diesen Aspekt, sei es fasziniert, wertschätzend oder ablehnend und diskriminierend. Die zahlreichen Rezensionen betonen vor diesem Hintergrund meistens, dass der Roman mehr sei als der Selbstfindungsprozess einer nichtbinären Person. Das ist erstens korrekt und auch wichtig, denn die*der Autor*in verdient es nicht, auf den Aspekt der nichtbinären Queerness, die sich zwar als roter Faden durchs Buch zieht, aber häufig gar nicht im Mittelpunkt steht, reduziert zu werden. Zweitens ist aber ebenso wichtig nicht zu vergessen, dass das Buch nicht die nichtbinäre Erfahrung (wie es in manchen Rezensionen anklingt), sondern eine unter vielen möglichen darstellt. Ebenso wichtig ist, dass dies nicht der erste Roman mit einer nichtbinären Hauptfigur ist, sondern lediglich der erste, der im gesellschaftlichen Mainstream durch die Buchpreise Anerkennung und die entsprechende mediale Aufmerksamkeit erhalten hat. Interessant wäre daher auch, das Buch in die historische Entwicklung von nichtbinär-queeren Romanen einzuordnen, von Klassikern wie Radclyffe Halls „Well of Loneliness“ oder Leslie Feinbergs „Stonebutch Blues“ zu anderen kontemporären Werken. Ich beschränke mich jedoch hier auf meine queer-theoretische und kritische Trans-Studies-Perspektive und frage, was es sexualwissenschaftlich Interessierten zu bieten hat.
„Blutbuch“ ist kein klassischer Roman. Es gibt keine lineare Erzähllinie, sondern die fünf Teile (plus Prolog) sind in unterschiedlichen Stilen verfasst. Es entsteht eine Art Gedankenfluss mit den dafür typischen Gedankensprüngen. Hinzu kommt, dass immer wieder über Bedeutung und Funktion von Sprache und Schreiben selbst reflektiert wird (z. B. wird das Schreiben in Hochdeutsch und später Englisch als Verrat an der Herkunftsfamilie mit ihrem eher bäuerlichen Schweizerisch diskutiert). Das macht das Buch teilweise interessant, teilweise anstrengend zu lesen (wohinter durchaus Absicht stecken könnte).
Der Prolog liefert das Setting: Das Erzähl-Ich spricht hier direkt zur an Demenz erkrankten Großmutter, verortet sich selbst als jenseits von Mann/Frau, schildert, wie anonymer Sex mit Männern in den Vororten von Zürich die Möglichkeit bietet, mit den eigenen zu vielen Gefühlen umzugehen und wieder in den eigenen Körper gestoßen zu werden. Und das Anliegen, die Familiengeschichte aufzuarbeiten, scheint dringlich. Der erste Teil besteht aus fragmentarischen Kindheitserinnerungen des*der Protagonist*in, bezeichnet als „das Kind“. Die Erinnerungen drehen sich alle um die Großmeer (Bern-schweizerisch für „Großmutter“) und deren Wohnung. Zentrale Themen sind u. a. die Angst des Kindes vor der Großmeer und das Gefühl des Kindes, dass der eigene Körper nicht ihm selbst, sondern der Großmeer und der Meer (Mutter) gehöre.
Der zweite Teil besteht ebenfalls aus Textfragmenten. Hier geht es stärker um das Haus und die Kernfamilie, in der das Kind aufgewachsen ist. Der Vater findet zwar auch Beachtung, der Fokus liegt aber wiederum auf der mütterlichen Blutlinie, der Meer. In diesem Teil geht es auch stärker um die Auseinandersetzung des Kindes mit der Unmöglichkeit, männlich oder weiblich zu sein. Eine zentrale Rolle spielt u. a. die Blutbuche, mit der das Kind eine besondere, quasi spirituelle Verbindung hat. So beginnt hier ein weiteres Thema, das sich durch den Roman zieht: magische Vorstellungen in der Kindheit (z. B. wird die Mutter zur „Eishexe“, die das Kind entzaubern muss) setzen sich später fort in der Geschichte der Hexenverfolgung als Teil der Familiengeschichte und sog. schamanischen Praxen im Erwachsenenalter.
Der dritte Teil befasst sich mit der Suche nach der Mutterblutbuche und ist eine Art interessante kritische Kulturgeschichte der Blutbuche, die das erwachsene Erzähl-Ich dazu zwingt, sich mit der Verwobenheit der eigenen Familiengeschichte mit Nationalismus auseinanderzusetzen.
Im vierten Teil stößt das Erzähl-Ich auf einen Stammbaum der mütterlichen Linie – von der Meer verfasst. Das Sich-Positionieren in der mütterlichen Linie in der Familiengeschichte scheint auch für das Wegbewegen vom cismännlichen Geschlecht bei der Geburt hin zu einer nichtbinären Verortung eine Rolle zu spielen. Gleichzeitig endet die (Blut-)Linie aufgrund der nichtbinären Queerness des Erzähl-Ichs.
Der fünfte und damit letzte Teil besteht aus einer Reihe englischsprachiger Briefe an die Großmeer, als das Erzähl-Ich mit befreundeten Schriftsteller*innen im Tessin gemeinsam in einem Ferienhaus eine Auszeit zum Schreiben nimmt. Es handelt sich fast um klassische Urlaubsberichte, aber die Inhalte wären normalerweise Tabu gegenüber einer Großmutter, wie Sexabenteuer oder die Frage, ob sowohl die Großmeer als auch die Meer ihre Schwangerschaften eigentlich hatten abbrechen wollen. Am Ende erfahren wir Lesenden, dass der Sinn der Beschäftigung mit der Familiengeschichte darin bestand, intergenerationelle Traumata zu bearbeiten und nicht in die nächste Generation weiterzutragen und dass das ein Grund für selbstbestimmte Kinderlosigkeit sein kann.
Durch diese sehr unterschiedlichen Teile und Stile ziehen sich bestimmte Querschnittsthemen. Zentral sind die nichtbinäre Identität und das Sexleben. Die nichtbinäre Identität wird sprachlich z. B. durch die Verwendung der geschlechtsneutralen Selbstbezeichnung „das Kind“ umgesetzt, ansonsten häufig mit Beschreibungen des Äußeren, vor allem mit dem Einsatz stereotyp femininer Ausdrucksweisen wie sich schminken und die Nägel lackieren, Röcke und lange Haare tragen usw. Das Körpergefühl wird häufig mit dem Element Wasser verbunden, was an das Identitätskonzept des „genderfluid“ erinnert. Weiterhin grenzt sich das erwachsene Erzähl-Ich vom Schwulsein, vor allem von einem bestimmten, „übermännlichen“ Schwulsein, das es auch eine Zeitlang gelebt hat, ab, weil eine schwule Identität per se mit einem Glauben an die Zweigeschlechtlichkeit verbunden sei. Es ist darauf hinzuweisen, dass dies jedoch von der Definition von Schwulsein abhängt, in meiner eigenen Forschung z. B. wurde der Begriff im les-bi-trans-queeren BDSM-Kontext durchaus auch ganz anders verwendet. Gleichzeitig lesen sich die sehr expliziten Beschreibungen von den sexuellen Begegnungen wie genau der schwule Sex, von dem sich distanziert wird. Der Sex erscheint dabei als Vehikel für die Beschäftigung mit allem „Problematischen“, sei es die Entfremdung vom eigenen Körper, sei es der eigene verinnerlichte anti-arabische Rassismus, sei es die eigene toxische Männlichkeit, die noch irgendwo im Körper haust. Zu einer Veränderung der Lebenspraxis führt dies allerdings nicht. Die Sexualpartner sind ausnahmslos (cis-)Männer aus dem südeuropäischen und arabischen Raum bzw. ein jüdischer Mann, den der*die Protagonist*in mit der Drohung, ihn beim (jüdischen) Arbeitgeber zu outen, zu sexuellen Handlungen erpresst. Die teilweise ethisch fragwürdigen sexuellen Begegnungen sind mitunter schwer zu ertragen. Nicht, weil sie existierende Realitäten abbilden, sondern weil sie kaum oder gar nicht kritisch reflektiert werden, obwohl das Erzähl-Ich sich ansonsten als besonders selbstreflektiert darstellt (teilweise wirkt das aber auch nahezu sarkastisch). So fehlt z. B. auch die Thematisierung eigener Privilegien aufgrund eines cis-männlichen Körpers, es geht lediglich um die Diskriminierungserfahrungen als nicht cis-heteronormativ gelesener Mensch.
Aufgrund der Vielschichtigkeit des Romans in Bezug auf Inhalte und Stil ist ein allgemeines Fazit schwierig. Bei der Lektüre habe ich teilweise eigene Community-Bezüge wiedererkannt, was interessant ist, weil nichtbinäre, trans oder queere Communitys im Roman seltsam abwesend sind. Das Erzähl-Ich erscheint so vollkommen isoliert von anderen nichtbinären und queeren Personen. Streckenweise musste ich mich durch das Buch (auch aufgrund von Längen) durchquälen. Dennoch bietet es durch seine Unabgeschlossenheit und die intensive bis schmerzhafte Auseinandersetzung mit dem doppelten Erbe der Familiengeschichte und der Zweigeschlechtlichkeit genügend Stoff zum Nachdenken und Nachfühlen.
Robin Bauer (Stuttgart)
Publication History
Article published online:
18 March 2025
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