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DOI: 10.1055/a-2451-8283
Die Partnerin mit einem Anderen. Das sexuelle Erregungspotenzial der Cuckold-Fantasie
Die psychoanalytische Forschung zu sexuellen Fantasien scheint seit einigen Dekaden in eine Art Winterschlaf verfallen zu sein. Seinen Höhepunkt fand dieses Paradigma wohl in der 1979 publizierten Studie „Sexual Excitement“ des US-amerikanischen Analytikers Robert Stoller. Auf mehr als 200 Seiten entfaltet Stoller dort die Detailanalyse der Masturbationsfantasie einer Patientin. Die einzelnen Elemente dieser Fantasie und auch ihre Veränderungen unter dem Einfluss von Übertragung und Deutung werden von Stoller in ihrer lebensgeschichtlichen Determination rekonstruiert. Die dadurch gewonnene Analyse ließ er schließlich nochmals von der Patientin, die das Buchmanuskript redigierte, validieren bzw. modifizieren. Sexuelle Fantasien, so Stollers theoretischer Vorschlag, sind aufgebaut wie die in der Geheimdienst-Kommunikation verwendeten „Microdots“: unscheinbare kleine Punkte, die unter der Lupe betrachtet einen ganzen Lageplan, das heißt hier: eine Lebensgeschichte, mitteilen. Stoller, so schreiben seine Kollegen William Simon und John H. Gagnon, deren Theorie der sexuellen Skripte für ihn eine wichtige Inspirationsquelle bot, war geradezu „heroisch“ in seiner Entschlossenheit zur lebensgeschichtlichen Rekonstruktion sexueller Fantasieinhalte (siehe Simon W, Gagnon JH (2000). Wie funktionieren sexuelle Skripte? In: Schmerl C et al., Hrsg. Sexuelle Szenen: Inszenierung von Geschlecht und Sexualität in modernen Gesellschaften: 84).
Es ist nun nicht so, dass sich seit Stoller nichts in der psychoanalytischen Beschäftigung mit sexuellen Fantasien getan hätte. Schon früh hatte Eberhard Schorsch eine bis heute einflussreiche Kritik an Stollers konzeptueller Einengung auf die Themen Traumabewältigung und Rache in der Dynamik sexueller Fantasien geliefert. Mit Jean Laplanches Theorie der generalisierten Verführung ist zudem das Verständnis von Fantasien um den Aspekt der Übersetzung rätselhaft-triebgeladener Botschaften bereichert worden. Doch „heroische“ Rekonstruktionen sexueller Fantasien bis ins kleinste Detail – sei es im Rahmen der klinischen Praxis, sei es in der extraklinischen Forschung – sind im 21. Jahrhundert zur Rarität geworden (Ausnahmen bieten etwa Reimut Reiches (2000) Aufsatz „Die Rekonstruktion der zentralen Onaniephantasie in der Analyse eines jungen Homosexuellen“ sowie die – allerdings populärwissenschaftliche und in einigen Hinsichten methodisch mangelhafte – Studie von Brett Kahr (2008) „Sex im Kopf“).
Für den Rückgang der psychoanalytischen Beschäftigung mit sexuellen Fantasien lassen sich verschiedene Gründe anführen, etwa der allgemeine kulturelle Bedeutungsverlust psychoanalytischen Forschens, die viel beklagte Entsexualisierung der Psychoanalyse oder die Überlagerung der Fantasiethematik durch den Pornografiediskurs. Vielleicht widerspricht es aber auch dem Zeitgeist, sexuelle Fantasien unter die lebensgeschichtliche Lupe zu nehmen, insofern man sich damit in Bezug auf unkonventionelle Fantasien dem Verdacht aussetzt, diese zu problematisieren oder gar korrigieren zu wollen. Tatsächlich ist es ein noch nicht genügend aufgearbeitetes Kapitel der Geschichte der Psychoanalyse, dass wichtige Beiträge zur Psychodynamik von Sexualfantasien – z. B. die Arbeiten von Moses und M. Eglé Laufer – manifest oder latent von dem Wunsch angetrieben waren, von der heterosexuell-genitalen Norm abweichende Fantasien durch psychoanalytische Deutungsarbeit aufzulösen, das heißt das in ihnen sich artikulierende Begehren zu normalisieren. Ein stärkeres Durcharbeiten dieses zum Teil düsteren Kapitels der Psychoanalysegeschichte ist noch ausstehend.
Vor dem Hintergrund dieser belasteten wie auch vernachlässigten Forschungstradition überrascht die kürzlich publizierte Masterarbeit des Sexualpädagogen Yannick Zengler in einem positiven Sinne. Zengler legt mit seiner Studie zum Erregungspotenzial von Cuckold-Fantasien nicht nur eine interessante Analyse zur Psychodynamik einer konkreten Fantasie vor. Er liefert auch einen methodisch avancierten Beitrag für eine psychoanalytisch informierte Sexualforschung.
Der Begriff „Cuckold“ stammt vom Kuckuck (engl. cuckoo) ab. Ursprünglich auf einen betrogenen Ehemann bezogen, der die vom anderen Mann gezeugten Kinder unwissentlich großzieht, bezeichnet der Begriff inzwischen Verschiedenes: eine nicht-monogame Beziehungsform, eine insbesondere, aber nicht nur in BDSM-Kontexten ausgelebte sexuelle Vorliebe, ein pornografisches Genre – das häufig rassifizierte Szenarien entwirft (ein weißer Mann, der seiner weißen Frau beim Sex mit einem triebhaft-schwarzen Mann zusieht) – sowie einen politisch von Rechtsextremen verwendeten Kampfbegriff („Cucks“) zur Diskreditierung angeblich unmännlich oder unterwürfig gewordener Männer. Zengler fokussiert in seiner Forschung auf die Cuckold-Fantasie, die er definiert als „eine sexuell erregende Imagination, die aus heterosexuell-männlicher Perspektive darum kreist, sich die eigene Freundin/Partnerin/Ehefrau beim Sex mit einem anderen Mann vorzustellen und dabei gegebenenfalls auch selbst als Zuschauer imaginär anwesend zu sein“ (S. 19). Diese offene Definition umschließt Szenarien, die auf eine Demütigung des fantasierten Egos abzielen, ist aber nicht darauf reduziert.
Zengler begreift die Cuckold-Fantasie als eine „Folie“, an die sich „eine Fülle an unterschiedlichen, aber nicht zufälligen oder beliebigen Erregungsthemen anheften kann“ (S. 9). Aus einer psychoanalytischen Perspektive nimmt er ferner an, dass sich nicht nur bewusste (manifeste), sondern auch unbewusste (latente) Bedeutungen in der individuellen Besetzung der Cuckold-Fantasie wiederfinden und dass sich diese Bedeutungsdimensionen aus der Lebensgeschichte, das heißt dem Triebschicksal der jeweiligen Subjekte, verständlich machen lassen. Um solchen Erregungsthemen auf die Spur zu kommen, hat Zengler eine abgewandelte Form des biografisch-narrativen Interviews mit vier Männern geführt, die von Cuckold-Fantasien sexuell erregt sind. Eines dieser Interviews hat er umfassend tiefenhermeneutisch interpretiert, von den anderen dreien schildert er Kurzporträts und Interpretationsansätze.
Zenglers Studie liegen methodologisch kluge Entscheidungen zugrunde. Durch die Beschränkung auf eine konkrete Fantasie verhindert er das Abgleiten ins Allgemeine und Oberflächliche, dem man in publizierten Sammlungen sexueller Fantasien häufig begegnet. Mit einer Zuspitzung des biografisch-narrativen Interviews auf das Thema sexueller Fantasien hat er darüber hinaus eine ökonomische Erhebungsmethode geschaffen. Und schließlich hat er mit der Tiefenhermeneutik eine Auswertungsmethode gewählt, die ein vorschnelles Kategorisieren der Fantasien und Biografien in metapsychologische oder gar klinische Begriffsraster vermeidet. Zenglers Studie ist zudem von einer reflexiv-neugierigen Haltung geprägt, die der „Kreativität“ (S. 10) in der sexuellen Fantasiebildung mit Respekt begegnet, aber Konfliktdimensionen, also den Zusammenhang zwischen Erregung und seelischer Not, nicht verleugnet.
Das Herzstück von Zenglers Studie ist die umfassende Analyse der Cuckold-Fantasie des Interviewten Chris (ein von Zengler gewähltes Pseudonym). Dessen komplexe Sexualbiografie ist geprägt von einer Pendelbewegung zwischen agiertem sexuellen Philobatismus (z. B. in Form von gefilmtem Gruppensex in der Pubertät) und Reaktionsbildungen gegen selbigen (z. B. durch ein Studium an einer jesuitischen Hochschule). Die kritische Episode, in der sich dieser Grundkonflikt verdichtet, waren die bis ins 13. Lebensjahr andauernden sexuellen Kontakte zwischen Chris und seiner zwei Jahre jüngeren Schwester, die nachträgliche Bewertung dieser Erlebnisse durch die Schwester als Missbrauch sowie der Suizid der Schwester zwei Jahre vor Interviewführung. Zengler erörtert in einem umfassenden Exkurs die Frage, ob in diesem Fall von sexualisierten Übergriffen des damals kindlich-jugendlichen Chris ausgegangen werden kann, und kommt dabei zu dem überzeugenden Schluss, dass dies im Rahmen seiner Forschungsarbeit weder entschieden werden kann noch sollte.
Dass Chris’ Schuldgefühle gegenüber seiner Schwester bzw. sein Trieb-Schuld-Konflikt latent auch seine Cuckold-Fantasie motivieren, ist Zengler mit Hilfe von tiefenhermeneutischen Interpretationsgruppen verständlich geworden. Auch wenn der Rezensent Vorbehalte gegenüber der Tendenz hegt, die Reinszenierung in Interpretationsgruppen zum Goldstandard der tiefenhermeneutischen Analyse zu erklären, ist Zenglers geradezu ethnografische Wiedergabe des Geschehens in den beiden Interpretationsgruppen zweifellos aufschlussreich. Zengler zeichnet nach, wie der latente Schuldkonflikt des Interviewten sich als Tribunal gegenüber dem Forscher in der ersten Interpretationsgruppe reinszenierte und wie diese Reinszenierung mit Hilfe einer zweiten Interpretationsgruppe verstehend eingeholt werden konnte. Das Durcharbeiten dieses Geschehens habe ihm dann einerseits erlaubt, Chris’ Mechanismen der Schuldabwehr auch in der Interviewsituation zu rekonstruieren (z. B. sein Ablenken mit sexuellen Anekdoten oder seine Manöver zur Verstrickung des Interviewers in eine Art locker room talk). Andererseits habe es ein neues Licht auf Chris’ Cuckold-Fantasie geworfen.
Die Cuckold-Fantasie des Interviewten, die streng genommen eher eine Wife-Sharing-Fantasie ist, entwirft ein Szenario, in dem Chris zunächst dem Sex seiner Partnerin mit einem Freund von ihm zuschaut. Nachdem dieser Freund „mit weichem Penis rausfällt“ aus der „bereits ausgedehnten Vagina“, schaue seine Freundin Chris „erschöpft“, aber „einladend“ an (S. 86). Daraufhin haben die beiden „animalischen harten“ Sex, der in der Vorstellung endet, sie „ordentlich vollzupumpen“ (ebd.). Die sexuelle Fantasie findet daraufhin einen zärtlichen Ausklang, in dem nur noch Chris und seine Partnerin präsent sind. Zengler rekonstruiert diese Fantasie unter anderem vor dem Hintergrund von Chris’ in der Latenz gehaltenem Schuldkomplex: Für Chris ist die Erschöpfung der Partnerin bzw. die Dehnung ihres Genitals eine fantasierte Bedingung, unter der er alle schuldbedingten Hemmungen fallenlassen kann (was sich auch im militärisch-pornografischen Ausdruck „vollpumpen“ zeigt). Dergestalt sei die Einbindung seines Freundes in die Sexualfantasie eine Strategie, die „Angst um die Verletzungsmächtigkeit des eigenen sexuellen Verlangens zu umgehen oder für den Moment zu verdrängen“ (S. 126). Das zärtliche Ende der Fantasie deutet Zengler schließlich als symbolische Versöhnung und Heilung von belastenden biografischen Erfahrungen.
Viele weitere von Zengler herausgearbeitete Bedeutungsdimensionen von Chris’ Cuckold-Fantasie müssen an dieser Stelle unerwähnt bleiben. Hinsichtlich einer von Zengler nicht thematisierten Sinnebene sei hier aber noch eine Lesart vorgeschlagen: Offensichtlich kreisen Chris’ Fantasien um die Rückkehr in den Mutterschoß, weshalb er als Erregungsmomente die „Aufnahmefähigkeit“ (S. 92) der Vagina sowie die Vorstellung, „in eine Vagina einzutauchen“ (S. 73), erwähnt und die fantasierte Vagina auch als „Altar“ bezeichnet, in den er „hineintreten“ könnte (S. 86). Möglicherweise wurde die phantasmatische Befriedigung solcher Wünsche durch den Umstand gestört, dass Chris und seine Partnerin Eltern geworden sind, wodurch er den fantasierten Status des Kleinkindes an seinen Sohn abtreten musste. Dieser Konflikt könnte noch verstärkt worden sein durch den Umstand, dass Chris’ Partnerin nach Geburt des Kindes das sexuelle Interesse an ihm verloren zu haben scheint (S. 81 f.). Es drängt sich dann die Vermutung auf, dass Chris im Rahmen seiner Cuckold-Fantasie die väterliche Identifizierung an seinen Freund delegiert bzw. den störenden Sohn durch den helfenden Freund ersetzt. Die durch diesen Freund „vorbereitete“ Partnerin scheint auf die Funktion der mütterlichen Empfänglichkeit reduziert. Die Anklänge der sexualisierten Szene an das mütterliche Wochenbett (erschöpfter Blick, gedehnte Vagina, aus der etwas Weiches „herausgefallen“ ist) könnten hierin begründet sein.
Die Kurzporträts und Interpretationsansätze zu den weiteren Interviews geben einen Einblick in die nicht-beliebige Bedeutungsvielfalt der Cuckold-Fantasie. Anders als bei Chris spielen masochistische Erregungsmomente in den drei weiteren Fällen eine bedeutende Rolle. So ist ein sich als sexuell devot identifizierender Interviewpartner mit dem Gedanken beschäftigt, von einer dominanten Partnerin auch zur oralen Befriedigung des anderen Mannes genötigt zu werden, was eine ambivalente Ekel-Lust-Faszination in ihm provoziert. Ein anderer Interviewter hat seine sexuelle Erregung durch die Cuckold-Fantasie erst kennengelernt, als er das Fremdgehen seiner Partnerin nicht nur als schmerzhaft, sondern auch als erregend empfand – was an vorherige masochistische Fantasien anschloss. Andere Themen, die sich in Cuckold-Fantasien abbildeten, waren etwa die Lust am Tabubruch, das Umgehen von männlich-heterosexuellen Leistungsnormen, das homoerotische Moment oder die Redramatisierung von eingeschlafenen Paardynamiken.
Obwohl Zenglers Arbeit für diese drei Fälle lediglich hypothetische Interpretationen über latente Sinngehalte mitteilt, gewinnt man durch sein Buch einen guten Eindruck davon, auf welche Weisen das Cuckold-Szenario bewusst und unbewusst sexualisiert werden kann. Im Vorwort schreibt der Autor, er wolle „Mut machen zur Anwendung von psychoanalytisch fundierten Forschungsverfahren wie der Tiefenhermeneutik auch im Feld der Sexualwissenschaft“ (S. 10). Es bleibt zu hoffen, dass ihm das gelungen ist und der Faden der psychoanalytischen Beforschung sexueller Fantasien weitergesponnen wird.
Aaron Lahl (Berlin)
Publication History
Article published online:
04 December 2024
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