Z Sex Forsch 2021; 34(04): 250-251
DOI: 10.1055/a-1669-7338
Buchbesprechungen

Die deutschsprachige Sexualwissenschaft. Bestandsaufnahme und Ausblick

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Heinz-Jürgen Voß, Hrsg. Die deutschsprachige Sexualwissenschaft. Bestandsaufnahme und Ausblick. Gießen: Psychosozial 2020 (Reihe: Angewandte Sexualwissenschaft, Bd. 28). 526 Seiten, EUR 49,90

Eine aktuelle Bestandsaufnahme der deutschsprachigen Sexualwissenschaft samt Ausblick in die Zukunft verspricht der Sammelband, den Heinz-Jürgen Voß, Professor für Sexualwissenschaft und Sexuelle Bildung am Fachbereich Soziale Arbeit.Medien.Kultur der Hochschule Merseburg vorgelegt hat. Der Standort Merseburg ist für die deutschsprachige Sexualwissenschaft insofern besonders bedeutsam, als hier – bundesweit einmalig – gleich zwei sexualwissenschaftliche Studiengänge angeboten werden: der konsekutive Masterstudiengang „Angewandte Sexualwissenschaft“ (gebührenfrei) und der weiterbildende Masterstudiengang „Sexologie“ (Studiengebühren: 19 500 Euro). Ansonsten gibt es Masterstudiengänge im Bereich Sexualwissenschaft nur noch an der Medical School Hamburg und Medical School Berlin (Studiengebühren: 15 000 Euro). Dass mit lediglich vier Studiengängen an drei Standorten die Sexualwissenschaft an Hochschulen in Deutschland schlecht institutionalisiert ist, beklagt der Sammelband an mehreren Stellen.

Zeitlich werden in dem Buch, zu dem rund 30 Autor:innen beigetragen haben, immerhin 100 Jahre abgedeckt: Es gibt Rückblicke bis in die 1950er-Jahre, als in der Nachkriegszeit angesichts hoher Infektionsraten bei „Geschlechtskrankheiten“ die „Seuchenbekämpfung“ ganz oben auf der Agenda stand. Und Ausblicke bis in die 2050er-Jahre. Dabei blicken die einen pessimistisch in die Zukunft und prognostizieren eine totale Kommerzialisierung und Banalisierung des Sexuellen – allen voran Volkmar Sigusch und Rüdiger Lautmann in ihren Eröffnungskapiteln. Demgegenüber erhoffen die anderen weitere Fortschritte hinsichtlich Gleichberechtigung, Empowerment und Lust, sehen dabei jedoch die gewachsene Vielfalt in Forschung und Gesellschaft durch einen aktuellen Backlash bedroht (z. B. Elisabeth Tuider).

Die geografische Spannbreite des Bandes geht mit der Ankündigung, die „deutschsprachige“ Sexualwissenschaft in den Blick zu nehmen, tatsächlich über den deutschen Tellerrand hinaus: Im Band enthalten sind Beiträge zu sexuellen, sexualpolitischen und sexualwissenschaftlichen Verhältnissen in Deutschland und Österreich (Josef Christian Aigner, Wolfgang Kostenwein, Bettina Weidinger), in der Schweiz (Udo Rauschfleisch) und in Luxemburg (Christel Baltes-Löhr).

Das thematische Spektrum ist weit gefächert: Behandelt werden Geschlecht, Intersex und Trans*, aber auch Paraphilien, Familienplanung und Jugendsexualität. Die methodischen Perspektiven sind ebenfalls vielfältig: quantitative Sex-Survey-Forschung ist ebenso enthalten wie eine Reflexion zur Bedeutung der Psychoanalyse für die Sexualforschung. Nicht zuletzt geht es auch um die Beziehungen der Sexualwissenschaft zu Nachbarfächern wie der Sexualpädagogik (Uwe Sielert), um die Integration sexualwissenschaftlicher Inhalte in Studiengänge der Sozialen Arbeit (Stefan Timmermanns) und in die Praxis der Sozialen Arbeit (Anja Henningsen).

Der Band trägt klar den Stempel seines Herausgebers: Gender-Fragen, die einen Schwerpunkt der Arbeit von Heinz-Jürgen Voß bilden, werden facettenreich behandelt. Die Sexualforschung der vormaligen DDR wird in dem aus Sachsen-Anhalt stammenden Buch ausführlich beleuchtet, vor allem durch Beiträge von Kurt Starke, Harald Stumpe und Konrad Weller. Speziell die Merseburger Perspektive kommt darin zum Ausdruck, dass die Bezüge zur Sozialen Arbeit betont werden, an deren Fachbereich die dortige Sexualwissenschaft angesiedelt ist. Und auch die Tatsache, dass der Merseburger weiterbildende Masterstudiengang „Sexologie“ mit dem in den 1970er-Jahren eingeführten Sexocorporel-Ansatz des kanadischen Psychologen und klinischen Sexologen Jean-Yves Desjardins arbeitet, prägt den Band: Mehrere Beiträge widmen sich dem Sexocorporel-Ansatz.

Diese Akzentsetzungen machen das Buch besonders und lesenswert. Insbesondere die Berichte zur Forschung aus der vormaligen DDR sind spannend und beleuchten oft vernachlässigte Fragen der deutsch-deutschen Wissenschaftsgeschichte. Gleichzeitig lässt sich natürlich darüber streiten, inwiefern die Schwerpunktsetzungen des Buches der deutschsprachigen Sexualwissenschaft im Ganzen gerecht werden. Viele Bereiche und Themen der zeitgenössischen Sexualwissenschaft sind gar nicht vertreten, so gibt es z. B. keinen Beitrag aus der neurowissenschaftlichen Sexualforschung und keinen zu sexueller Arbeit. Dass dafür der aus wissenschaftlicher Sicht – gemessen an der Anzahl und Zitationsmenge internationaler Publikationen – eher randständige Sexocorporel-Ansatz gleich dreifach vertreten ist, gehört zu den auffälligsten Eigenheiten des Bandes. Während einer der drei Beiträge die wissenschaftliche Evidenz aufarbeitet (Karoline Bischof), beziehen sich die beiden anderen auf die sexualpädagogische und sexualtherapeutische Sexocorporel-Praxis und verblüffen mit apodiktischen Behauptungen ohne Belege, wie etwa „Menschen mit ausgeprägten sexuellen Fähigkeiten begehen keine Gewalttaten“ (Wolfgang Kostenwein und Bettina Weidinger, S. 255) oder „die auch Körper und Sexualität erfassende Digitalisierung“ führe zu „Entsinnlichung“ (Esther Elisabeth Schütz, S. 420). Auf der anderen Seite begeistert das Buch mit ausgesprochen detaillierten und nützlichen Zusammenstellungen von empirischen Umfragen zu sexuellen Erfahrungen und Verhältnissen, sowohl in der vormaligen DDR (Kurt Starke) als auch zeitgenössisch im europäischen Raum (Silja Matthiesen und Laura Pietras). Die Fragebogen-Instrumente, Daten und Befunde vieler dieser Studien sind öffentlich zugänglich (z. B. über gesis.org) und eine Fundgrube für alle, die selbst sexualwissenschaftliche Umfragen planen.

Die deutschsprachige Sexualwissenschaft, wie der Sammelband sie zeigt, ist vielfältig, teilweise widersprüchlich und streitbar, politisch engagiert und eng mit der Praxis verzahnt.

Nicola Döring (Ilmenau)



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Article published online:
07 December 2021

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