Z Sex Forsch 2008; 21(2): 181 - 184
DOI: 10.1055/s-2008-1076820
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Stellungnahme zur geplanten Sexualstrafrechtsreform[1]

Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung, Pro Familia Bundesverband
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Publication Date:
16 June 2008 (online)

Die Bundesregierung hat - kurz vor der ersten Lesung im Bundestag - den bereits im vergangenen Jahr viel diskutierten und sehr kontroversen Gesetzentwurf zur Ausweitung des Sexualstrafrechts zurückgezogen. Dennoch bleibt beunruhigend, dass eine SPD-Justizministerin einen sowohl unter gesetzgebungstechnischen als auch unter sozialwissenschaftlichen Gesichtspunkten derart schlechten Gesetzentwurf vorgelegt hat.

Gemäß der vorgesehenen Strafrechtsverschärfung sollten bestimmte sexuelle Annäherungen, die bisher in Deutschland allenfalls gegenüber Jugendlichen unter 16 Jahren strafbar waren, bei allen Minderjährigen unter Strafe gestellt werden können. Vordergründig befolgte der Entwurf damit die Vorgabe des „Rahmenbeschlusses des Rates der EU zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornographie”. Übernommen würde damit aus der absurden Terminologie des Rahmenbeschlusses, dass unter 18-Jährige strafrechtlich generell als „Kinder” gewertet werden müssen. Jugendliche könnten sich danach bei normalen und sozial konstruktiven, weil beziehungsorientierten Formen der Annäherung selbst des „Missbrauchs” anderer Jugendlicher strafbar machen. Durch die Pönalisierung auch des Versuchs würde die Strafbarkeitsschwelle nach vorne verlegt. Die Wertung, was ein Jugendlicher beabsichtigt hat, bliebe der Zuschreibung durch Polizei und Gericht überlassen. Der Entwurf ging sogar noch über die EU-Vorgaben hinaus, indem 14- bis 17-Jährige wie Erwachsene zu bestrafen wären.

Die Justizministerin wies zwar in Interviews darauf hin, normale einverständliche sexuelle Annäherungen zwischen Jugendlichen sollten nicht μstrafbar sein. Dogmatisch ist der Gesetzesentwurf jedoch derart nachlässig formuliert, dass eben doch normale Formen des Flirtens oder Verabredens als strafwürdiges „Anmachen” und „Ausnutzen von Zwang” definiert oder die schlichte Aufbewahrung eines Nacktfotos des Geliebten als „Besitz von Kinderpornographie” bewertet werden können.

Der Rahmenbeschluss und die nationalen Umsetzungen bringen europaweit eine massive Kriminalisierung der Sexualität Jugendlicher bis zum 18. Lebensjahr mit sich. Wenn normale und entwicklungsfördernde Beziehungsmöglichkeiten im Zuge einer restaurativen repressiven Sexualmoral kriminalisiert, zugleich aber soziale Aufklärungs- und Förderungsmaßnahmen zurückgefahren werden, muss die sexualkulturelle und sozialstaatliche Alarmglocke geläutet werden.

Die vorhandenen Schutzgesetze reichen völlig aus, um die „ungestörte sexuelle Entwicklung von Jugendlichen” zu gewährleisten. Es mangelt allerdings an schützenden und unterstützenden Institutionen mit entsprechend qualifizierten Fachkräften. Statt wie inzwischen üblich in rein symbolischer und populistischer Weise mit Strafrechtsverschärfungen auf schlimme Einzelfälle zu reagieren, sollte substanziell, auf wissenschaftlicher Grundlage und angemessen komplex auf wirkliche Probleme, nämlich auf die gesellschaftlichen Bedingungen von Kinderarmut und Vernachlässigung, auf Arbeitslosigkeit, Armut und Überforderung in Elternhäusern, insbesondere von Alleinerziehenden reagiert werden.

Nun behauptet ja die Bundesregierung, sie müsse den EU-Rahmenbeschluss umsetzen. Rahmenbeschlüsse sind ein relativ neues, durch die EU-Verträge von Maastricht (1992) und Amsterdam (1997) eingeführtes Instrument zur europäischen Rechtsangleichung im Bereich der sogenannten „Dritten Säule” der EU, der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit und der Schaffung eines einheitlichen „Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts”. Hier hat die EU zwar keine unmittelbaren, ihr durch die Mitgliedsstaaten übertragenen Rechtssetzungskompetenzen wie durch Verordnungen und Direktiven in den Bereichen der „Ersten Säule” (Wirtschaft) und der „Zweiten Säule” (Außenpolitik). Mit den Art. 29, 31 Buchstabe e und 34 Abs. 2 EU-Vertrag ist jedoch die Rechtsgrundlage geschaffen worden, um die Mitgliedsstaaten kraft völkerrechtlicher Vereinbarung zur Einführung von übereinstimmenden „Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich organisierte Kriminalität” zu verpflichten. Kraft Art. 23, 25 Grundgesetz ist Deutschland zur Befolgung dieser Vorgaben verpflichtet, auch ohne dass für diesen Regelungsbereich Souveränitäts- und Hoheitsrechte förmlich übertragen wurden. Mit diesem Rahmenbeschluss hat der EU-Rat aber seine Zuständigkeitsgrenzen in mehrfacher Hinsicht überschritten: es geht hier nicht zentral um „Organisierte Kriminalität” oder sonstige transnationale Probleme. Im Gegenteil: Fragen des Strafrechts und der Sexualmoral sind immer noch kulturspezifisch und entlang der nationalen Verfassungsordnung zu bearbeiten. Dies hätte die Bundesregierung durch ihre Vertretung im Rat geltend machen müssen.

Durch den jetzt zurückgezogenen Gesetzesentwurf würden die Grundrechte aus Art. 2 in Verbindung mit Art. 1 Grundgesetz (Allgemeine Handlungsfreiheit, Menschenwürde) sowie das verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprinzip verletzt. Die Bundesregierung muss zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses garantieren, dass die Bedingungen, die das deutsche Verfassungsrecht einräumt, und insbesondere die sozialstaatliche Förderung von Entwicklungsmöglichkeiten, gewährleistet bleiben.

Androhung und Vollstreckung von Freiheitsstrafen stellen die massivsten staatlichen Eingriffe in die Freiheit des Bürgers und der Bürgerin dar und müssen deshalb als Ultima Ratio besonders skrupulösen Bedingungen unterworfen sein. Strafrecht darf keinesfalls zum Schutz irgendwelcher Moralen missbraucht werden, sondern ist immer an die Voraussetzung substanzieller Rechtsgutsverletzungen geknüpft. Das Sexualstrafrecht schützt die sexuelle Selbstbestimmung und die ungestörte sexuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Insbesondere hinsichtlich letzterer sind vom deutschen Gesetzgeber die allgemeinen Erkenntnisse von Entwicklungspsychologie und Sexualwissenschaft zugrunde gelegt worden, als die Schutzaltergrenze grundsätzlich auf 14 Jahre festgelegt wurde (§ 176 StGB). Nur beim sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen ist das Schutzalter bisher 16 Jahre und nur bei Ausnutzung der Abhängigkeit 18 Jahre (§ 174 StGB). Alle EU-Mitgliedsstaaten haben praktisch dieselben Schutzaltergrenzen, einige sogar niedrigere. Gegen diese lang etablierten und wohlbegründeten Standards verstößt der Rahmenbeschluss in grotesker Weise, indem der Rechtsbegriff „Kind” jede Person unter achtzehn Jahren” bezeichnet. Es werden also theoretisch „Taten” mit Opfern im Alter von 4 oder 17œ Jahren gleichgesetzt. Ein Strafrecht, welches nach seinem Selbstverständnis auch das Normbewusstsein und die Normbefolgung der Bürger und Bürgerinnen fördern will, verliert dadurch völlig an Glaubwürdigkeit und führt sich selbst ad absurdum.

Einmal mehr bekommen wir vorgeführt, wie auf EU-Ebene und bei der Bundesregierung nach dem populistischen Prinzip „Der Zweck heiligt die Mittel” gehandelt wird. Durch die EU-Strafrechtsvorgaben im Bereich der höchst diffus definierten „O.K.” (Organisierte Kriminalität) ist in unserem ursprünglich recht hoch kultivierten rechtsstaatlichen System von Strafrecht und Strafprozessrecht schon viel Porzellan zerschlagen worden.

Wie bereits andere Maßnahmen ist diese im Übrigen durch die UNO motiviert worden - und damit indirekt durch die äußerst repressive Strafrechtspolitik und kontraproduktive Sexualmoral der USA, welche sich in der UNO meist durchsetzen: Ein Fall moralischer Kolonisierung.

Wir fordern die Bundesregierung und den Bundestag auf, sich künftig gegen diese Grenzüberschreitungen zu verwahren. Sie sollten eine interdisziplinäre Anhörung von Experten aus Wissenschaft und Praxis veranstalten, welche der Komplexität der sozialen und humanen Probleme gerecht wird und daran anknüpfende, entsprechend vielschichtige und sinnvolle Reformen ermöglicht.

Mai 2008

Dr. med. Ulrike Brandenburg
(1. Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung DGfS, Institut für Sexualtherapie, Aachen)

Prof. Dr. Hertha Richter-Appelt
(2. Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung DGfS, Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie, Hamburg)

Prof. Dr. jur. Lorenz Böllinger
(Professor für Strafrecht und Kriminologie, Psychoanalytiker, Universität Bremen)

Dr. Gisela Notz
(Vorsitzende des Bundesverbands der Pro Familia, Deutsche Gesellschaft für Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung e. V., Berlin)

1 Die geplante Sexualstrafrechtsreform bezieht sich auf den Gesetzentwurf der Bundesregierung „zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates der Europäischen Union zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornographie” (Bundestagsdrucksache 16 / 3439 vom 16.11.2006).

1 Die geplante Sexualstrafrechtsreform bezieht sich auf den Gesetzentwurf der Bundesregierung „zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates der Europäischen Union zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornographie” (Bundestagsdrucksache 16 / 3439 vom 16.11.2006).