Z Sex Forsch 2005; 18(1): 84-87
DOI: 10.1055/s-2005-836427
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Ein erhellendes Scheitern

P. Passett
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Publication Date:
14 April 2005 (online)

Um der Gefahr jener Banalität zu entgehen, die sich meist einstellt, wenn man die längst bekannten Meriten eines klassischen Textes einmal mehr aufzählt, richte ich meinen Blick auf etwas, was Freud mit den „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie” nicht geleistet hat, obwohl er immer wieder kurz davor stand. Ich meine jenen zögerlich begonnenen, aber letztlich unvollendeten Schritt, der darin bestanden hätte, die Psychoanalyse aus dem allzu engen Korsett einer Einpersonenpsychologie zu befreien bzw. das menschliche Psychische, für das die Sexualität von so eminenter Bedeutung ist, als etwas zu erkennen, das mit der konventionellen wissenschaftlichen Betrachtungsweise nicht zu fassen ist. Diese Betrachtungsweise, die auch Freud als innere Leitlinie diente, fasst die Psyche analog zum Körper, von dem sie nicht zu trennen ist, als einen in sich geschlossenen, abgegrenzten Gegenstand, der isoliert betrachtet und funktional verstanden werden kann. Eine solche Sichtweise kann aber dem menschlichen Psychischen und damit auch der Sexualität in wesentlicher Hinsicht nicht gerecht werden. Ich möchte dieses Scheitern unter einer Reihe von Aspekten beleuchten, die ich freilich innerhalb des gegebenen Rahmens nicht eingehend erörtern kann.

Da ist zunächst das Scheitern des Versuchs, die Sexualität als ein homogenes Phänomen darzustellen. Dieses Versagen spiegelt sich schon im Titel und im Aufbau der Schrift, die in drei logisch schlecht aufeinander beziehbare Abschnitte gegliedert ist (I. Die sexuellen Abirrungen, II. Die infantile Sexualität, III. Die Umgestaltungen der Pubertät). Es findet seinen Ausdruck weiter darin, dass Freud sich oft gezwungen sieht, in Bereiche vorzudringen, die weitab von dem liegen, was man gemeinhin mit dem Begriff Sexualität verbindet. Das hat ihm den durchaus berechtigten Vorwurf eingetragen, einem „Pansexualismus” zu huldigen. Gegen diesen Vorwurf hat er sich jedoch explizit verwahrt, weil er ihn so verstanden hatte, dass man ihm unterstellte, er erkläre alles aus der Sexualität, und nicht, er sehe in allem stets auch die Sexualität am Werk, was er tatsächlich und mit gutem Grund tat.

Dann ist da das Scheitern des Versuchs, innerhalb der Sexualität gesundes, normales von krankhaftem, abnormem Verhalten zu unterscheiden. Mit Recht wird immer wieder darauf hingewiesen, dass Freud festgestellt habe, es gebe keine „normale” menschliche Sexualität. Er hat all jene sexuellen Abirrungen, welche die Psychopathologie seiner Zeit katalogisiert hatte, als zum Teil extreme Varianten eines Verhaltens und Erlebens verstanden, welches in minder ausgeprägter Form bei keinem Menschen ganz fehlt. Das hat ihn aber nicht daran gehindert, eine Entwicklung zu postulieren, an deren Ende eine gesunde, normale, genitale Sexualität steht, die er, obgleich sie nur durch vielerlei Einschränkungen zu erreichen sei, von anderen Ausgängen, welche er als pathologisch qualifiziert, unterscheidet.

Es gehört zu den unbestrittenen Verdiensten dieser Schrift, dass Freud in ihr nicht nur eine kindliche Sexualität beschrieben hat, sondern das Infantile, Unfertige als einen Wesenszug der menschlichen Sexualität bestimmt hat. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis wird aber das Postulat einer Entwicklung von einer unreifen hin zu einer reifen Sexualität, an dem Freud festhielt, problematisch. Konsequenter wäre es, von einer (von Subjekten geprägten) Geschichte der Sexualität statt von deren (naturhafter) Entwicklung zu sprechen.

Freud hatte erkannt, dass in der Genese der je individuellen Sexualität akzidentelle Momente, die vor allem aus intensiven Beeinflussungen des Kindes (in Form von Botschaften) durch Pflegepersonen und andere Erwachsene bestehen, eine enorme Rolle spielen. Er konnte sich aber nicht dazu entschließen, diesen zufälligen Faktoren, die er zunächst zu eng als pathogene Verführung konzipiert hatte, den Primat gegenüber dispositionellen Momenten einzuräumen. Er entzog der Verführung, welche Jean Laplanche [3] später als eine ubiquitäre, anthropologische Grundsituation beschrieben hat, ihre Bedeutung wieder, indem er die seltsame Behauptung aufstellte, das, wozu ein Mensch verführt werden könne, müsse als hereditäre Anlage schon vorgegeben sein. Obwohl seiner unbestechlichen Beobachtung die Bedeutung des Anderen in der Genese der Sexualität und damit der menschlichen Psyche nicht entgangen war, versäumte er es, diesem Anderen in seiner Theorie den ihm gebührenden fundamentalen Platz zuzuweisen.

Die Sexualität ist zunächst fraglos ein biologisches Konzept. Körperliche Vorgänge, die von ihrer Funktion her der Reproduktion dienen, bilden ihre unverzichtbare Voraussetzung. Aber so wenig das Wesen des menschlichen Denkens sich aus seiner Problemlösungsfunktion erschöpfend verstehen lässt, lässt sich die menschliche Sexualität aus ihrer reproduktiven Funktion allein verstehen. Obwohl Freud dies gesehen hat und deshalb an einigen Stellen die Unabhängigkeit psychoanalytischer Forschung von der Biologie explizit gefordert hat (z. B. im Vorwort zur 3. Auflage von 1915 [1: S. 44]), blieb sein Denken doch unter dem Zwang, alles der Biologie mit ihrer funktionalen Betrachtungsweise unterzuordnen. So verschloss sich ihm die Einsicht, dass die „Als ob”-Biologie [2: S. 49 ff], der er sich in seiner Theoriesprache bedient, ihre Rechtfertigung einzig und allein darin findet, dass die Biologie für die Psychoanalyse die Funktion eines Modells hat.

Freud hat in den „Drei Abhandlungen” einen erweiterten Sexualitätsbegriff eingeführt. Diese Erweiterung verdankt sich der Erkenntnis, dass weder das Ziel noch das Objekt der kindlichen, von ihm als polymorph-pervers beschriebenen Sexualität sich auf die funktional definierten Ziele und Objekte der biologischen Sexualität einschränken lassen. Damit verliert aber jenes ursprüngliche, streng dualistische Modell, in dem die Sexualität der Selbsterhaltung komplementär gegenübersteht, seine Gültigkeit. Durch den Begriff der Anlehnung der Sexualität an die Selbsterhaltung wurde diese klare Scheidung unterlaufen. Eines der Motive, die Freud bewogen haben, eine zweite Triebtheorie zu entwerfen, war wahrscheinlich dieses formale Gebrechen der Ersten. Denn in den späteren Konzepten von Eros und Todestrieb postulierte er erneut zwei funktional konstruierte, komplementäre Grundtendenzen des organischen Lebens, eine bindende und eine entbindende. Der nachträgliche Versuch (nachzulesen im Vorwort zur 4. Auflage von 1920 [1: S. 45 f]), die erweiterte Sexualität der „Drei Abhandlungen” mehr oder weniger im Eros der zweiten Triebtheorie aufgehen zu lassen, ist aber untauglich, denn die sich um keine Funktionalität kümmernde, auf Partialtrieben gründende, fragmentierte, polymorphe, vielfältige Sexualität der „Drei Abhandlungen” gleicht in nichts dem Einheit stiftenden, quasi kosmischen Ordnungsprinzip des Eros. In diesem ist vielmehr der Sexualität alles Chaotische und Dämonische ausgetrieben und dem Todestrieb überantwortet - zugunsten einer großen erotischen Harmonie.

Schließlich ist der Versuch gescheitert, im Einklang mit den wissenschaftlichen Vorstellungen der damaligen Zeit die Sexualität des Menschen als ein Phänomen darzustellen, das ganz und gar einer Natur zuzuordnen ist, welche als antagonistisch zur Kultur gedacht wird. Zwar räumte Freud ein, dass der zweizeitige Ansatz der menschlichen Sexualität etwas sei, wofür es bei den tierischen Verwandten kein Vorbild gebe, und dass er wohl eine der Voraussetzungen für die Entstehung einer Kultur bilde. Aber er wollte nicht so weit gehen, die menschliche Sexualität als ein Phänomen dieser Kultur selbst zu verstehen. Sie bleibt, wiederum im Sinne seines Entwicklungsdenkens, bloß naturhafte Vorbedingung.

Daran zeigt sich noch einmal exemplarisch, worum es mir hier geht, nämlich um den Aufweis der Unmöglichkeit, mittels eines digital operierenden Denkens den Differenzen, die zwei Phänomene voneinander trennen und gleichzeitig miteinander verbinden, die ihnen gebührende Bedeutung zuzuerkennen. Ein solches Denken, das immer nur Anwesenheit oder Abwesenheit einer Sache oder Eigenschaft anerkennt und das Laplanche als eng verwandt mit der „phallischen Logik” beschrieben hat, versucht stets entweder die Differenz aufzuheben, indem es das eine aus dem anderen Phänomen hervorgehen lässt, oder aber, wenn dies nicht gelingt, diese Differenz als absoluten Antagonismus zu setzen. Und so bleibt Freud wiederholt gezwungen, Entwicklungen zu postulieren, wo es eigentlich um Geschichte geht, und verfängt sich in Widersprüchen, wo er diesen hätte entkommen können, wenn es ihm gelungen wäre, die Sexualität als ein exquisites Phänomen der Differenz zu begreifen. Denn die Sexualität ist einerseits der Ort des Erlebens einer Reihe von hochbedeutsamen Differenzen - der Differenz der Geschlechter, derjenigen zwischen Infantilem und Erwachsenem (der Generationen), zwischen Zärtlichkeit und Leidenschaft, Freiheit und Knechtschaft und vor allem dem Ich und dem Anderen - und sie markiert andererseits den Ort des Denkens von Differenzen zwischen Gegebenheiten, die weder im Sinne einer Entwicklung auseinander hervorgehen noch einander ausschließen. Man kann diese Differenzen ohne Anspruch auf Vollständigkeit umschreiben als diejenigen zwischen Homogenem und Heterogenem, Normalem und Perversem, Funktionalem und Afunktionalem, Entwicklungsmäßigem und Geschichtlichem, Dispositionellem und Akzidentellem, Biologischem und Psychologischem, Dualem und Vielfältigem, Natürlichem und Kulturellem und schließlich zwischen etwas, was wir Ich nennen, und einem inneren und äußeren Anderen, der, obgleich er diesem Ich gegenübersteht, von diesem doch nicht zu trennen ist. Als heutigem Leser stellen sich mir die „Drei Abhandlungen” als das Ringen eines luziden Geistes um den Charakter dieser Differenzen dar, das aus erkenntnistheoretischen und ideologischen Gründen nicht zu einem wirklich befriedigenden Ergebnis kommen konnte.

  • 1 Freud S. Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905). Studienausgabe, Bd. 5. 6. Aufl. Frankfurt/M.: Fischer, 1989; 37-145
  • 2 Laplanche J. Nouveaux fondements pour la psychanalyse. Paris: PUF, 1987
  • 3 Laplanche J. Die allgemeine Verführungstheorie. Tübingen: edition diskord, 1988