Z Sex Forsch 2005; 18(1): 79-83
DOI: 10.1055/s-2005-836426
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Wunsch - Traum - Kindheit

B. Nitzschke
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Publication Date:
14 April 2005 (online)

Sigmund Freud hat in den „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie” die Lehre von den erogenen Zonen, den Partialtrieben und der libidinösen Besetzung des Ich und der Objekte, also die psychoanalytische Trieb- und Libidotheorie erstmals systematisch dargestellt. Psychologisch gesprochen geht es dabei um eine Theorie des Wunsches nach lustvollen, befriedigenden Beziehungen zu sich selbst und zu anderen Menschen. Dreh- und Angelpunkt ist die zweite Abhandlung („Die infantile Sexualität”). Darin wird das Postulat aufgestellt, die Psychosexualität entfalte sich von Beginn des Lebens an nach einem biologisch vorgegebenen Programm innerhalb einer psychosozialen Matrix, die u. a. von der Persönlichkeit der Eltern, der Familienorganisation und der erweiterten „Kultur” beeinflusst wird.

Die zweite Abhandlung bildet damit nicht nur formal die Klammer zwischen der ersten („Die sexuellen Abirrungen”) und der dritten („Die Umgestaltungen in der Pubertät”), sondern begründet auch einen inhaltlichen Zusammenhang, nämlich den, der zwischen den „polymorph-perversen” sexuellen Wünschen des Kindes und der offen-„perversen”, gehemmt-„neurotischen” oder „reifen” (und das heißt bei Freud: heterosexuell-genitalen) Ausdrucksform dieser Wünsche beim Erwachsenen besteht. Freud drückt den Zusammenhang aphoristisch so aus: „Das Höchste und das Niedrigste hängen in der Sexualität überall am innigsten aneinander (‚vom Himmel durch die Welt zur Hölle’)” [3: S. 61].

Im ersten Teil dieses Satzes bezieht sich Freud (implizit) auf einen Brief Goethes an Frau von Stein, in dem es heißt: „das Höchste und das Tiefste: […] Hymne und […] Schweinestall. Liebe verbindet alles” (vgl. [8: S. 67]). Und im zweiten, dem in Klammern stehenden Teil des Satzes fügt er ein weiteres - nicht spezifiziertes, jedoch leicht erkennbares - Goethe-Zitat (aus dem „Faust”) hinzu. Freud beruft sich also, während er über „Perversionen” spricht, rhetorisch geschickt auf einen Dichter, der von sittsamen Bürgern besonders geschätzt wird. Freuds Annahme eines prinzipiellen Zusammenhangs zwischen der so genannten normalen und der als deviant deklarierten Sexualität hat denn auch weit reichende Konsequenzen: „Alle krankhaften Störungen des Geschlechtslebens sind mit gutem Rechte als Entwicklungshemmungen zu betrachten” [3: S. 109], heißt es da. Und am Ende gibt die „Ausschließlichkeit”, mit der an der Befriedigung partieller infantiler sexueller Wünsche festgehalten wird, beziehungsweise die „Fixierung” [3: S. 61] an ein psychosexuelles Durchgangsstadium oder an ein inzestuöses Objekt den Ausschlag dafür, ob es zur intrapsychisch integrierten Psychosexualität in einer stabilen Partnerbeziehung kommt oder nicht. Das „Nichtzusammentreffen” der zärtlichen (d. h. der ursprünglich sexuell-inzestuösen, dann aber zielgehemmten) und der noch immer aufrechterhaltenen sinnlich-sexuellen Komponente des Begehrens hat „zur Folge, dass eines der Ideale des Sexuallebens, die Vereinigung aller Begehrungen in einem Objekt, nicht erreicht werden kann” [3: S. 101].

Konflikt- und Entwicklungspathologie sind also laut Freud nur künstlich voneinander zu trennen. Denn Konflikte zwischen infantilen Wünschen und der dagegen aufgerichteten Abwehr entfalten sich stets auf dem Boden partieller Entwicklungsstörungen. Das ist die Quintessenz, die sich aus der Lektüre der „Drei Abhandlungen” ergibt, in deren Mittelpunkt die „infantile Sexualität” steht, die mit Recht als „ein Grundpfeiler der psychoanalytischen Lehre überhaupt” [12: S. 11] bezeichnet worden ist. Zur tradierten Lesart der „Drei Abhandlungen” gehören allerdings auch Legenden in Bezug auf die infantile Sexualität. So soll Freud „bestimmt der erste” gewesen sein, der behauptet habe, „dass schon kleine Kinder normalerweise sexuelle Empfindungen haben” [6: S. 338]. Freud hat dieser Legendenbildung Vorschub geleistet, als er angab, in der Literatur habe es zwar bereits vor ihm Hinweise auf sexuelle Verhaltensweisen bei Kindern gegeben, doch seien diese nur „als ausnahmsweise Vorgänge, als Kuriosa oder als abschreckende Beispiele voreiliger Verderbtheit” [3: S. 74] aufgefasst worden.

Dieser Auffassung entspricht Freuds Äußerung in der „Mittwoch-Gesellschaft”, „die normale Kindersexualität sei tatsächlich, so komisch das auch klingen mag, von ihm - Freud - entdeckt worden. In der Literatur finde sich vorher keine Spur davon” [11: S. 44]. Komisch klingt diese Behauptung schon deshalb, weil sie mit Hinweis auf Moll belegt werden soll, der die Pionierleistung Freuds verschwiegen habe. Tatsächlich hatte sich Moll [7: S. 44] jedoch bereits darum bemüht, „den Glauben zu zerstören, dass die körperliche Pubertät eine Vorbedingung für die sexuelle Zuneigung der Geschlechter sei”, als Freud [2: S. 136] noch öffentlich verkündete, die Kindheit sei deshalb „glücklich” zu preisen, „weil sie die sexuelle Begierde noch nicht kennt”: Diese Bemerkung in der 1. Auflage der „Traumdeutung” wurde erst 1911 durch den Zusatz korrigiert: „Eingehendere Beschäftigung mit dem Seelenleben der Kinder belehrt uns freilich, dass sexuelle Triebkräfte in infantiler Gestaltung in der psychischen Tätigkeit der Kinder eine genügend große, nur zu lange übersehene Rolle spielen, und lässt uns an dem Glücke der Kindheit, wie die Erwachsenen es späterhin konstruieren, einigermaßen zweifeln” [2: S. 136, Fn. 19].

Die Behauptung, Freud sei der Entdecker der infantilen Sexualität gewesen, ist nicht nur wegen des unzutreffenden Verweises auf Moll, sondern auch deshalb merkwürdig, weil Freud bereits vor der Darstellung der Verführungstheorie [1] eine Schrift Stekels [13] kannte, die der konventionellen Auffassung widersprach, Verführung sei eine notwendige Bedingung für das Erwachen sexueller Wünsche bei Kindern. Freud zitierte nun aber Stekels Arbeit sinnwidrig (vgl. [9]), um die von ihm aufgestellte Verführungstheorie zu legitimieren. Stekel [13: S. 247] hatte ausgeführt: „Fragt man eine größere Anzahl intelligenter Personen über diesen Punkt aus, fordert man sie auf, genau nachzudenken, so wird fast jeder Zweite sich an gewisse Vorgänge in seiner Kindheit erinnern, die ihm früher unverständlich waren, die sich aber bei genauer Betrachtung als die ersten Anfänge des Geschlechtstriebes erweisen. […] Im Kindesalter zeigt sich eben klar, wie viel von dem, was die Menschen mit Willen und Ueberlegung zu thun glauben, auf Rechnung des Instinctes kommt. Das Kindesalter ist die Brücke, die den Homo sapiens mit dem Thierreiche verbindet.” Dieser von Stekel vertretenen Auffassung schloss sich Freud später an, allerdings ohne Stekel noch einmal zu zitieren: „Es ist selbstverständlich, dass es der Verführung nicht bedarf, um das Sexualleben des Kindes zu wecken, dass solche Erweckung auch spontan aus inneren Ursachen vor sich gehen kann” [3: S. 91]. Trotz dieser Revision wurden jedoch der sexuelle Missbrauch von Kindern und dessen weit reichende (traumatisierende) Folgen von Freud - anders als oft behauptet - nicht grundsätzlich bestritten.

Die historische Einordnung der „Drei Abhandlungen” in den sexualwissenschaftlichen Diskurs der damaligen Zeit ermöglicht nun eine genauere Bestimmung der Pionierleistung Freuds. Diese besteht eben nicht in der Entdeckung der infantilen Sexualität als solcher, sondern darin, kindliche, deviante, neurotische und so genannte normale (reife) Ausdrucksformen sexuellen Begehrens unter einer entwicklungsorientierten Perspektive zusammengefasst und in einem systematischen Zusammenhang dargestellt zu haben, aus dem sich dann auch Behandlungsstrategien ableiten ließen, die auf Nachreifung (Entwicklungsförderung) und Nacherziehung (Konfliktbearbeitung) abzielen. Interessant ist außerdem, dass Freud nicht nur die psychoanalytische Beobachtungsmethode im engeren Sinn, sondern auch die direkte Kinderbeobachtung empfahl, ein Ansatz, der durch die Säuglings- und Kleinkindbeobachtung später aufgegriffen worden ist: „Verstünden es die Menschen, aus der direkten Beobachtung der Kinder zu lernen, so hätten diese drei Abhandlungen überhaupt ungeschrieben bleiben können” [3: S. 32]. Zudem erkannte Freud die grundlegende Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehungen sowohl für den Aufbau und die Strukturierung der Repräsentanzenwelt wie für die Affektregulierung - „Libido ist ein Ausdruck aus der Affektivitätslehre” [4: S. 98] -, die empirisch inzwischen vielfach bestätigt worden ist. Freud wusste nämlich, dass das sinnliche Begehren des Kindes ursprünglich nicht autoerotisch ist, sich vielmehr in Beziehung zu Menschen (in der Regel zur Mutter) entwickelt, die angemessen (also nicht im Sinne „erwachsener” sexueller Bedürfnisse missverständlich) antworten sollten: „Als die anfänglichste Sexualbefriedigung noch mit der Nahrungsaufnahme verbunden war, hatte der Sexualtrieb ein Sexualobjekt außerhalb des eigenen Körpers in der Mutterbrust. Er verlor es nur später […]. Der Geschlechtstrieb wird dann in der Regel autoerotisch und erst nach Überwindung der Latenzzeit stellt sich das ursprüngliche Verhältnis wieder her. Nicht ohne guten Grund ist das Saugen des Kindes an der Brust der Mutter vorbildlich für jede Liebesbeziehung geworden. Die Objektfindung ist eigentlich eine Wiederfindung” [3: S. 123, Hervorh. B. N.]. Damit ist das Stichwort gegeben, das ein tieferes Verständnis des in den „Drei Abhandlungen” erörterten Grundproblems eröffnet: Es geht um „Wiederfindung”, um die Erfüllung des Wunsches, frühere Erlebnisse zu wiederholen - oder besser: die frühe Erlebnisfähigkeit des Kindes wieder zuzulassen.

Es geht um das „Bedürfnis nach Wiederholung der sexuellen Befriedigung” [3: S. 82], die das Kind in der frühen Dualunion mit der Mutter erlebt hat (oder erleben wollte). Im besten Fall bleibt „von dieser ersten und wichtigsten aller sexuellen Beziehungen […] ein wichtiges Stück übrig, welches [nach der Pubertät] die Objektwahl vorbereiten, das verlorene Glück also wiederherstellen hilft” [3: S. 124]. Das letzte Ziel der „Liebe”, wäre, wie Freud [3: S. 34] mit Hinweis auf die platonische Fabel verdeutlicht, also die Überwindung der Teilung, die Aufhebung der Trennung. Doch die Erfüllung dieses Wunsches gefährdet die Autonomie des Erwachsenen. Deshalb steht dem sexuellen Wunsch nach Auflösung der Grenzen des Selbst Angst entgegen. Freuds Ausführungen über Kastrationsangst und Penisneid wären in diesem Zusammenhang deshalb auch einmal „metaphorisch” [12: S. 23] zu verstehen, als Ausdrucksformen eines Wunsches, der angesichts des Grenzen auflösenden sexuellen Wunsches die Selbsterhaltung sichern will.

Wunsch, Traum und Kindheit verschränken sich also im Wunschtraum der Wiederherstellung der Kindheit. Tag-Traum-Phantasien und sexuelles Erleben zeichnen sich schließlich durch ähnliche Ich-Zustände und regressive Erlebnisweisen aus. Darüber hinaus ist der Wunsch nach Wiederherstellung für die psychoanalytische Theorie insgesamt charakteristisch. Es geht deshalb nicht nur um das sexuelle Begehren (dessen therapeutische Variante die Übertragungsliebe ist), sondern auch um den Traum, um die Symptome und - ab 1920, nach der Einführung des nun endlich auch so benannten Wiederholungszwangs - um Eros und Thanatos, die, wenngleich auf unterschiedliche Weise, ebenfalls dem Zwang zur Wiederholung folgen. Freud erarbeitete die theoretischen Grundlagen der „Drei Abhandlungen” denn auch zu der Zeit, in der er die „Traumdeutung” [2] niederschrieb. Jones [6: S. 338] folgerte: „Logischerweise hätte man erwarten können, dass Freud sofort nach der ‚Traumdeutung’ ein Buch über dieses Thema veröffentlichen würde, da beide Themen eng miteinander zusammenhängen, gleichzeitig durchgearbeitet worden waren und die zwei Hauptentdeckungen Freuds darstellen.” Freud wartete noch einige Jahre ab. Das Buch erschien dann 1905 - und hundert Jahre später ist die Aufgabe, die beiden „Hauptentdeckungen Freuds” (Traum und Sexualität) miteinander zu verbinden, noch immer nicht erledigt.

  • 1 Freud S. Zur Ätiologie der Hysterie (1896). Gesammelte Werke, Bd. 1. London: Imago, 1952; 425-459
  • 2 Freud S. Die Traumdeutung (1900). Gesammelte Werke, Bd. 2/3. London: Imago, 1942
  • 3 Freud S. Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905). Gesammelte Werke, Bd. 5. London: Imago, 1942; 27-145
  • 4 Freud S. Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921). Gesammelte Werke, Bd. 13. London: Imago, 1940; 71-161
  • 5 Freud S. Briefe an Wilhelm Fliess 1887-1904. Frankfurt/M.: Fischer, 1986
  • 6 Jones E. Das Leben und Werk von Sigmund Freud. Bd. 2: Jahre der Reife 1901-1919. Bern, Stuttgart: Huber, 1962
  • 7 Moll A. Untersuchungen über die Libido sexualis, Bd. 1. Berlin: Kronfeld, 1898
  • 8 Nitzschke B. Goethe ist tot, es lebe die Kultur (1982). In: Moebius PJ. Über das Pathologische bei Goethe (1898). Neuausgabe. München: Matthes & Seitz, 1982; 9-75
  • 9 Nitzschke B. Wilhelm Stekel, ein Pionier der Psychoanalyse. Anmerkungen zu ausgewählten Aspekten seines Werkes. In: Federn E, Wittenberger G (Hrsg). Aus dem Kreis um Sigmund Freud. Zu den Protokollen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Frankfurt/M.: Fischer, 1992; 170-175
  • 10 Nitzschke B. Die Debatte des sexuellen Mißbrauchs in Sigmund Freuds Vortrag „Zur Ätiologie der Hysterie” (1896) - und der Mißbrauch dieser Debatte hundert Jahre später. In: Richter-Appelt H (Hrsg). Verführung - Trauma - Mißbrauch (1896-1996). Gießen: Psychosozial-Verlag, 1997; 25-38
  • 11 Nunberg H, Federn E. Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, Bd. II. Frankfurt/M.: Fischer, 1977
  • 12 Reiche R. Einleitung zu Freud S. Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 1991; 7-28
  • 13 Stekel W. Ueber Coitus im Kindesalter.  Wiener Med Blätter. 1895;  18 247-249