Z Sex Forsch 2003; 16(4): 299-327
DOI: 10.1055/s-2003-44852
Originalarbeiten

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Internetpornographie

Sven Lewandowski
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Publication Date:
03 February 2004 (online)

Übersicht

Gegenstand der vorliegenden Studie ist die allgemein zugängliche Pornographie im Internet. Diese wird einleitend gesichtet und typisiert. Im Anschluss daran analysiert der Autor die Funktion der Bildserien in der Pornographie sowie prototypische Skripte. Diese bieten, so der Autor, nicht nur Identifikationsmöglichkeiten, sondern fungieren auch als ein Mechanismus zur Reduktion sexueller Komplexität. In einem Exkurs rückt dann die Frage der Darstellung des Geschlechterverhältnisses und die oft behauptete Frauenfeindlichkeit von pornographischen Erzeugnissen in den Mittelpunkt. Der zweite Teil der Arbeit befasst sich mit der der Internetpornographie eigentümlichen Gleichzeitigkeit von sexueller Formenvielfalt und sexueller Unterkomplexität. Nach Auffassung des Autors liegt die Attraktivität des pornographischen Internetangebots sowohl in der Unterkomplexität der dort dargestellten Sexualität als auch in der Lust des virtuellen „cruising”. Hinzu kommt die dem Medium inhärente Möglichkeit, sich mittels des pornographischen Angebots ein individuelles Pornotopia zu konstruieren.

Literatur

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1 Aus dieser Perspektive ließe sich das Internet als ein Hilfsmittel des Informationsmanagements des Stigmas Pornographiegebrauch beschreiben. Damit ist freilich nicht gesagt, dass der Pornographiegebrauch ebenfalls entstigmatisiert würde.

2 Die Differenz von legal und illegal scheint im Übrigen keine Rolle zu spielen; allenfalls fungiert der Hinweis „illegal in most countries” als zusätzlicher Lockanreiz. Ein Zugriff auf das angebotene Material wird jedoch nicht verhindert.

3 So führt etwa http://www.searchgals.com zur Zeit (Stand 24. November 2003) mehr als 430 verschiedene Kategorien bzw. Schlagworte auf.

4 Weitere recht häufifig auftauchende Kategorien sind „wifes” bzw. „house-wifes”, „celebrities” und, wohl typisch amerikanisch, „cheerleaders”.

5 Es finden sich allerdings zwei Ausnahmen, in denen Eigenschaften der Männer als relevantes Kriterium fungieren. lm einen Falle steht die Hautfarbe der Männer im Mittelpunkt - allerdings in der überwiegenden Zahl der Fälle als Kontrast zur Hautfarbe der Frau(en), etwa bei Links zum Thema „blacks fuck blonde”. Ferner gibt es einige Links zu „big cock sex”.

6 Ein weiterer Kategorientyp sind „amateurs”. Auf diese Form der Pornrnographie wird weiter unten eingegangen.

7 In einigen Fällen finden sich jedoch auch deutlich längere Videosequenzen.

8 Die chronologisierende Funktion der Kleidung, die sich in diesem Sinne als Medium der Temporalität darstellt, ist von ihrer erotisierenden Funktion zu trennen.

9 Auffällig ist, dass eine optionale anale Penetration fast immer auf vaginalen Geschlechtsverkehr folgt, diesem aber (fast) niemals vorausgeht. Dies deutet auf eine Hierarchisierung der einzelnen Sexualpraktiken und ihrer Bewertung hin.

10 Von der hypothetischen Möglichkeit, die Einheit einer Geschichte nicht über die Identität der beteiligten Personen, sondern rn etwa über bestimmte Accessoires herzustellen, wird kein Gebrauch gemacht. Man könnte freilich den Großteil der Mainstream-Pornographie als eine Geschichte beschreiben, deren Einheit gerade durch diese Möglichkeit hergestellt wird: Die Personen sind auswechselbar, während die Einheit der Geschichte über die beiden wesentlichen, zugleich geschlechtskonstruierenden Accessoires hergestellt wird: den Penis einerseits und die vestimentären weiblichen Accessoires. Aus dieser Perspektive könnte argumentiert werden, dass die Struktur festgelegt sei und nur die Positionen jeweils unterschiedlich besetzt würden. Im Gegensatz zur Liebesgeschichte produziert die pornrnographische Sequenz weder Individualität noch dient sie der Schaffung eines Paares. Sie aktualisiert lediglich eine speziffische „pornrnologische” Struktur und Ästhetik.

11 Die skizzierten Überlegungen lassen vermuten, dass auch scheinbar eindeutige Darstellungen durchaus interpretationsoffen sind und Bedeutungen sich nicht zwangsläufig aus den gezeigten Bildern ergeben.

12 Deren Relevanz dürfte nicht zuletzt aufnahmetechnischen Aspekten geschuldet sein.

13 Von daher ist es auch nahe liegend, dass mainstream-pornrnographische Darstellungen (heterosexuelle) Frauen kaum anzusprechen vermögen.

14 Man kann darüber streiten, ob die Geschichte ein Abfallprodukt der notwendigen Variation ist oder ob es sich umgekehrt verhält. Diese Frage ist hier jedoch nicht entscheidend. Vielmehr kommt es darauf an, dass sowohl die narrative Form als auch die Variation bestimmte Funktionen erfüllt.

15 Gewaltförmige Pornographie zeichnet sich durch die Darstellung eines fehlenden Konsenses der Beteiligten hinsichtlich der gezeigten sexuellen Handlungen aus. Das entscheidende Deffinitionskriterium ist also nicht das Vorliegen realer Gewalt, sondern die Frage, ob (nicht konsensuell ausgeübte) Gewalt und Zwang als ein Medium bzw. Stilmittel der pornrnographischen Darstellung fungieren.

16 Inwieweit es sich dabei um gespielte Inszenierungen von Gewalt oder tatsächlich ausgeübte und erlittene Gewalt, um gespielte oder tatsächliche Vergewaltigungen handelt, ist allerdings nicht zu erkennen.

17 Für die Bundesrepublik ergibt sich die paradoxe Situation, dass das Strafrecht zwar kein Sodomie-Verbot kennt, die Darstellung von Sex mit Tieren gleichwohl als „harte Pornrnographie” unter Strafandrohung stellt (vgl. § 184, Abs. 3 StGB).

18 Man mag zwar einwenden, dass die Einrichtung von Newsgroups eine entsprechende Erweiterung von Tauschringen ermögliche, aber dies ist keine genuine Möglichkeit des Internrnets.

19 Dennoch ist eine Unkenntlichmachung des Gesichts relativ selten.

20 Als Ausnahme fällt auf, dass sich Drapierungen mit erotischen Accessoires im Bereich der „Teen”-Pornographie nicht ffinden. Sie scheinen den dort wichtigen Aspekt der Jugendlichkeit zu dementieren. Im Bereich der „Teen”-Pornographie bedient sich die Sexualisierung des weiblichen Körpers weitgehend ausschließlich der Nacktheit dieser Körper.

21 Da die im Internrnet angebotene Pornographie sehr weitgehend der auch sonst angebotenen Pornographie entspricht, beziehen sich die folgenden Analysen auf Pornographie im Allgemeinen und nicht ausschließlich auf Internetpornographie.

22 Auch wenn diese Darstellungen, Herrichtungen und Drapierungen männlichen Phantasien geschuldet sein mögen, so verschiebt dies nicht die Subjekt-Objekt Verhältnisse in der Darstellung, verkompliziert sie aber in einer Weise, die die scheinbare Eindeutigkeit, die sich auf den ersten Blick darzustellen scheint, mehr und mehr verschwimmen lässt.

23 In diesem Sinne könnte die Nutzung pornographischer Produkte auch als eine Art Selbstheilungsversuch beschädigter und/oder als belastend empfundener Subjektivität verstanden werden. Sie erfüllte, von dieser Warte aus betrachtet, eine ähnliche psychische Funktion wie sexuelle Perversionen.

24 Als zusätzlicher Aspekt kommt hinzu, dass die extralcorporale Ejakulation oft durch Selbstmasturbation erfolgt und somit die Angewiesenheit auf eine Sexualpartnerin dementiert, wodurch diese zur Onaniervorlage degradiert wird. Zudem wird durch den masturbatorischen Akt ein hohes Maß an Identififikation des (möglicherweise ebenfalls masturbierenden) Zuschauers mit dem handelnden männlichen Subjekt der pornographischen Darstellung ermöglicht.

25 Hochkomplexe Gesellschaften scheinen ganz allgemein ein kulturelles Bedürfnis nach Unterkomplexität hervorzurufen. Dieses Bedürfnis stellt eine wichtige Erfolgsbedingung für Soap operas ebenso wie für den zuschauerbezogenen Sport dar. Die Welt der Soap operas und Sitcoms ähnelt insofern der Welt der Pornographie, als beide unterkomplexe Sozialverhältnisse darstellen, deren Handlungen und Altteure jeweils an der Oberflfläche bleiben und denen Idiosynkrasien, innere Tiefe, Ambivalenz und Mannigfaltigkeit unbekannt sind (vgl. dazu auch Lewandowski 2004: Kap. 4.6.).

26 Henning Bech (1995: 19) bezieht etwa den Ausdruck „sexuell” explizit auf eine bestimmte Art von Stimmung oder Gestimmtsein, als Ausdruck „einer bestimmten Auf- und Angeregtheit”.

27 An anderer Stelle habe ich die Unterscheidung von sexuellem Begehren und sexueller Befriedigung als binären Code des Sexualitätssystems der modernrnen Gesellschaft und als Leitunterscheidung aller modernrnen Sexualitäten beschrieben (vgl. Lewandowski 2004: Kap. 5.1.).

28 Vor diesem Hintergrund werden sich zukünftige Studien über die Auswirkungen internrnetpornrnographischer Darstellungen endgültig von einfachen Sender-Empfänger-Modellen verabschieden und Pornographienutzer als Nicht-Trivialmaschinen betrachten müssen.

Dr. phil. Sven Lewandowski

Rambergstr. 10

30161 Hannover

Email: Sven.Lewandowski@stud.uni-hannover.de

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