Z Sex Forsch 2003; 16(2): 99-115
DOI: 10.1055/s-2003-40631
Originalarbeiten

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Annäherungen an Sexualität

Ein empirisches Forschungsprojekt mit JugendlichenJ. Stich
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Publication Date:
15 July 2003 (online)

Zusammenfassung

In einer auf narrativ-biographischen Interviews basierenden Studie wurden die sexuellen Lernprozesse von Jugendlichen untersucht. Dazu wurden 30 weibliche und 30 männliche Jugendliche befragt. Nachgegangen wurde in diesem Forschungsprojekt vor allem folgenden Fragen: Wie bewältigen Mädchen und Jungen die verschiedenen Stadien der schrittweisen Einübung in partnerorientierte Sexualität? Auf welche Ressourcen greifen sie dabei zurück? Es werden ausgewählte Befunde aus den Interviews dargestellt und kommentiert, unter anderem zum Körpererleben und zur emotionalen Befindlichkeit von Jungen und Mädchen beim ersten Mal, zu den an die ersten Beziehungen geknüpften Erwartungen und zum Verhältnis von Außen- und Selbstkontrolle während der sexuellen Sozialisation. Schließlich stellt die Autorin Thesen zum Wandel der Geschlechterbeziehungen auf und betont dabei, dass die von ihr interviewten Jungen im Hinblick auf Sexualität und Beziehungen sehr viel verunsicherter seien als die Mädchen.

Literatur

  • 1 Du Bois-Reymond M. Childhood and youth in Germany and the Netherlands: Transitions and coping strategies of adolescents. Berlin u. a., 1995
  • 2 Gerhards J, Schmidt B. Intime Kommunikation. Eine empirische Studie über Wege der Annäherung und Hindernisse für safer sex. Baden-Baden, 1992
  • 3 Glinka H. Das narrative Interview. Eine Einführung für Sozialpädagogen. Weinheim, München, 1998
  • 4 Kleiber D. Peer Education. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg). Wissenschaftliche Grundlagen. Teil 2: Jugendliche. (Forschung und Praxis der „Sexualaufklärung und Familienplanung; Bd. 13). Köln, 1999
  • 5 Schütze F. Biographieforschung und narratives Interview.  Neue Praxis. 1983;  13 283-293
  • 6 Schwarz A. Mädchen auf ihrem Weg zu einer selbstbestimmten Sexualität. Frankfurt/M., 1998
  • 7 Wouters C. Informalisierung und Formalisierung der Geschlechterbeziehungen in den Niederlanden von 1930 bis 1985.  Kölner Z Soziol Sozialpsychol. 1986;  38 510-528

1 Einen ausführlicheren Überblick über den Forschungsstand zur Jugendsexualität gibt Schwarz (1998).

2 Die Autorin hat das Projekt mit Clemens Dannenbeck im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung im Deutschen Jugendinstitut durchgeführt.

3 Daten zum Forschungsdesign:
Untersuchungsgruppe: 30 weibliche und 30 männliche Jugendliche im Alter von 18 bis 22 Jahren;
Regionale Herkunft: 33 aus Großstädten, davon Ruhrgebiet 15, München 11, Berlin 7; 27 aus ländlichen Regionen, davon Bayern 14, Brandenburg 13;
Schulische Bildung: 34 gymnasiale Oberstufe oder Abitur, 6 berufsbegleitender Zweig gymnasialer Oberstufe, 20 übrige Bildungsabschlüsse;
Erhebungszeitraum: September 1998 bis Dezember 1999. Bei der Rekrutierung der InterviewpartnerInnen haben wir auf das Thema „Freundschaft, Liebe und Sexualität” Bezug genommen; Jugendliche mit homo- oder bisexueller Orientierung wurden weder gezielt angesprochen noch systematisch aus der Untersuchungsgruppe ausgeschlossen. Dennoch haben sich keine homosexuellen jungen Erwachsenen gemeldet; drei junge Frauen haben über ihre bisexuellen Erfahrungen und Wünsche gesprochen.

4 Auf diese Weise wurde nicht nur eine breite Streuung der jeweiligen jugendkulturellen und sozialstrukturellen Milieus erreicht. Darüber hinaus entsprechen die Merkmalsverteilungen annähernd denen repräsentativer Forschungsarbeiten. Das ermöglichte immer da, wo sich quantifizierende Vergleiche mit repräsentativen Erhebungen anboten (sozialstatistische Merkmale, das durchschnittliche Alter bei der Aufnahme sexueller Beziehungen oder die wichtigsten Informationsquellen für die sexuelle Aufklärung), eine Angabe von Größenordnungen wie „die meisten” oder „nur wenige”.

5 Die Ergebnisse beziehen sich auf die Zeitspanne zwischen den ersten partnerorientierten sexuellen Erfahrungen und dem Zeitpunkt des Interviews (Alter zwischen 18 und 22 Jahren). Einige der interviewten Jugendlichen blicken auf bis zu etwa 10 Jahre partnerorientierte sexuelle Erfahrungen zurück, andere können nur über erste Annäherungsversuche berichten.

6 Die Namen sind anonymisiert; die Altersangaben beziehen sich auf den Zeitpunkt, der Gegenstand des Interviewauszugs ist.

7 Vier der 60 von uns interviewten Jugendlichen hatten, aus unterschiedlichen Gründen, noch keinen Geschlechtsverkehr; ein neues Jungfräulichkeitsideal konnten wir bei niemandem von ihnen finden.

8 Vermutlich trägt die Tatsache, dass manche Jungen einen fehlgeschlagenen ersten Koitusversuch nicht als ihr „erstes Mal” definieren, zusätzlich dazu bei, dass sie in standardisierten Befragungen ihren ersten Geschlechtsverkehr positiver bewerten als Mädchen, denen ihre typischen physischen Probleme weniger entsprechende Definitionsfreiheit lassen.

9 Vgl. Cas Wouters (1986), der in Anlehnung an die Informalisierungstheorie von Norbert Elias herausarbeitet, wie infolge wachsender Unstrukturiertheit im Verhältnis der Geschlechter hochkomplexe Selbststeuerung verhaltensleitend wird.

10 Zwar werden sozialisatorische Leistungen von Peers für den sexuellen Erfahrungs- und Lernprozess systematisch in elaborierten Ansätzen institutionalisierter Peer Education „zu Zwecken der Beratung, Unterstützung und Information” (Kleiber 1999 : 161) herangezogen. In alltäglichen Peerbeziehungen blieben sie bisher merkwürdigerweise unbeachtet.

Dr. Jutta Stich

Deutsches Jugendinstitut e. V.

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81503 München

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