Z Sex Forsch 2003; 16(1): 72-79
DOI: 10.1055/s-2003-38721
Bericht

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Soziale Repräsentation der Homosexualität im heutigen Ungarn [1]

Judit Takács
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Publication Date:
16 April 2003 (online)

Meine qualitative Forschung zur sozialen Repräsentation der Homosexualität basiert auf der Annahme, dass das Auftauchen homosexueller Identitäten - seien sie nun von Außenstehenden zugeschrieben oder von den Betroffenen internalisiert - als ein soziales Phänomen interpretiert werden kann. Gegenwärtig stehen die Grundlagen dieser Identitäten infrage: In mehr und mehr Gesellschaften können wir beobachten, wie Homosexualität ihre einstige identitätsstiftende Wirkung verliert. Homosexualität steht dort nicht länger im Brennpunkt gesellschaftlicher Aufmerksamkeit, und obwohl gleichgeschlechtliche sexuelle Anziehung ein wichtiger Faktor bei der Organisation des individuellen Lebens bleiben mag, behindert sie doch nicht die soziale Integration der Individuen. Hat Homosexualität in einer Gesellschaft hingegen eine starke identitätsstiftende Wirkung, so kann dies darauf hindeuten, dass diese Gesellschaft von einander ausschließenden, gleichsam monolithischen Identitätsmustern geprägt ist, die eine erfolgreiche soziale Integration von Menschen erschweren.

Sowohl das Konzept homosexueller Identität als auch seine gelebte Realisierung können als ein Ergebnis sozialer Stigmatisierung und Diskriminierung angesehen werden: Je stärker individuelle Andersartigkeit abgelehnt wird, desto umfassender werden persönliche und Gruppenidenti-täten um und durch eben diese Andersartigkeit organisiert. Verallgemeinert kann diese Art der Stigmatisierung als gesellschaftliches Symptom interpretiert werden, das die Aberkennung des Rechts auf Andersartigkeit widerspiegelt.

Der analytische Rahmen meiner qualitativen empirischen Untersuchung basiert auf Theorien sozialer Identität und sozialer Repräsentation. Diese Theorien betonen die soziale Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit durch gesellschaftliche Vorstellungen, die ihrerseits in Interaktionsprozessen konstruiert werden. Vereinfacht gesagt beschreiben soziale Repräsentationen die Art und Weise, in der Individuen und Gruppen Wirklichkeit interpretieren. Diese Interpretationen der Wirklichkeit wiederum dienen als Grundlage bei der Herausbildung von individuellen und Gruppenidentitäten. Das Zusammenspiel sozialer Repräsentationen und Identitäten steht im Zentrum von Breakwells Theorie über Identitätsprozesse (Breakwell 1986): Um zu verstehen, was Identität bedroht, d. h. die reibungslose Funktion von Identitätsprozessen behindert, und mit welchen Strategien dieser Bedrohung begegnet wird, ist es notwendig, soziale Repräsentationen zu untersuchen (hier gleichbedeutend mit gesellschaftlichen Vorstellungen und Zuschreibungen).

In diesem Sinne verstehe ich Homosexualität als einen möglichen Ausgangspunkt für die Entwicklung bedrohter Identitäten. Bei dieser Entwicklung nun spielt die soziale Repräsentation von Homosexualität eine entscheidende Rolle. Meine Analysen ergaben, dass die soziale Kategorie Homosexualität ihre identitätsstiftende Wirkung wesentlich durch die negativen Aspekte der gesellschaftlichen Vorstellung von Homosexualität erzielte.

1 Aus dem Englischen von Arne Dekker, Hamburg

Literatur

  • 1 Breakwell G. Coping with threatened identities. London: Methuen; 1986
  • 2 Kassai M. Egy szubkultúra vizsgálata. Szakdolgozat. Budapest: ELTE Szociológia Tanszék; 1983 (Unveröff. Manuskr.) 

1 Aus dem Englischen von Arne Dekker, Hamburg

2 Ich fand meine Befragten durch Anzeigen in dem einzigen in Ungarn erscheinenden Schwulenmagazin Mások (sowohl in der gedruckten als auch in der elektronischen Ausgabe im WorldWideWeb). Außerdem wandte ich ein Schneeball-Verfahren an. Zehn junge Männer gewann ich über meine Arbeit in einem Forschungsprojekt zur AIDS-Prävention für das Medical College von Wisconsin. Die Interviews dauerten durchschnittlich zwei Stunden. Bis auf zwei Ausnahmen stimmten alle Befragten einer Tonband-Aufzeichnung zu. In den meisten Fällen kontrollierten die Befragten später selbst den Ausdruck ihres transkribierten Interviews. Um die Anonymität der Befragten zu wahren, werden hier Pseudonyme verwendet, die sich die Befragten selbst ausgesucht haben.

Ph. D. Judit Takács

Institute of Sociology · Hungarian Academy of Sciences

Úri u. 49

H-1014 Budapest

Email: nyul@socio.mta.hu

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