Z Sex Forsch 2016; 29(04): 335-339
DOI: 10.1055/s-0042-124495
40 Jahre Foucaults „Sexualität und Wahrheit“
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Hinter die Dinge schauen und neue Seinsformen erschaffen (mit Michel Foucault)

Christian Klesse
a   Department of Sociology, Manchester Metropolitan University
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Publication Date:
22 February 2017 (online)

Michel Foucaults „Sexualität und Wahrheit“ hat mein eigenes Schreiben, Forschen und Lehren zum Thema Sexualität stark beeinflusst. Dank dem diesem Text innewohnenden beharrlichen Drängen, hinter die Dinge zu schauen und sich nicht mit der Armseligkeit und Gewalttätigkeit der gegebenen Geschlechter- und Sexualitätsordnung abzufinden, motivieren die drei Bände, über den Erwerb historischen Wissens hinaus kritische Fragen zu stellen. Dies sind Fragen, die sich wiederum als Teil einer Suchbewegung verstehen lassen, neue (und gerechtere) Formen des Seins zu entwickeln, also herauszutreten aus der Unmöglichkeit des Unmittelbaren, historisch Übermittelten. Meines Erachtens begründet die Kritik Foucaults eine kulturrevolutionäre Perspektive, ohne einem Autoritarismus im Namen der Kollektivität oder im Sinne eines absoluten Wahrheitsbegriffes anheim zu fallen.

Die Kritik des Sexualitätsdiskurses in „Der Wille zum Wissen“ (Foucault 1977) hat mir unter anderem geholfen, ein umfassenderes Verständnis von Heteronormativität zu entwickeln, das ich in meinem Buch „The Spectre of Promiscuity. Gay Male and Bisexual Non-monogamies and Polyamories“ (Klesse 2007) beschrieben habe. Foucaults Kritik des Sexualitätsdispositivs impliziert einen Heteronormativitätsbegiff, der über die Kontrolle der geschlechtlichen Objektwahl (z. B. durch eine Naturalisierung der Heterosexualität oder eine Stigmatisierung lesbisch-schwuler, „fluider“ oder queerer Identitäten oder Begehrensdynamiken) hinausgeht, um auch Normen hinsichtlich der Emotionalität, Beziehungsgestaltung, Konstellation, Körperpräsentation, kulturellen Positionierung, aber auch des Berührungs- oder Begehrensstiles kritisch zu erfassen. Das bedeutet, dass beispielsweise auch Mononormativität (die Privilegierung monogamer Paar- und Familienformationen), die Geringschätzung von BDSM und anderen nicht-koitalen Leidenschaften, die Pathologisierung von Trans*-Körperlichkeit und -Sexualität sowie die sterotype Konstruktion „ethnisierter“ Sexualität und Intimität als Bestandteile spezifischer Regime der Heteronormativität gedeutet werden können. Heteronormativität ist somit kein monolithisches Machtverhältnis, sondern ein Punkt kondensierter Machterfahrung in einem weit gestrickten – situativ operierenden – Netzwerk von Ausschluss- und Normierungspraxen.

„Der Gebrauch der Lüste“ (Foucault 1986a) und „Die Sorge um Sich“ (Foucault 1986b) beinhalten für mich vor allem eine Einladung (mit der damit einhergehenden Bereitstellung eines nützlichen, wenn auch begrenzten Instrumentariums an Begriffen und Konzepten), sich über eine Widerständigkeit des Seins Gedanken zu machen. Ich sage hier ein begrenztes Instrumentarium, weil, wie viele Kommentator*innen zu Recht angemerkt haben, dass auch die Hinwendung zu einer Philosophie der Technologien des Selbst den pessimistischen Determinismus, der sich aus Foucaults Macht-/Diskursanalyse ableitet, nicht völlig aufheben kann. Es besteht eine letztendlich ungelöste Spannung zwischen Foucaults frühem und spätem Werk und die Öffnung hin zu einer Analyse des Widerstandes durch (kollektives oder eigenmächtiges) Handeln ist zaghaft. Foucault kritisierte eine Politik der Befreiung als eine der Macht innewohnende Illusion und er selbst war in seinem Leben Zeuge des Scheiterns vieler Befreiungsbewegungen.

Trotz all dieser Ambivalenz hat der Vorschlag Foucaults, der Macht der Diskurse zu entweichen oder sich ihnen strategisch entgegenzustellen, durchaus die Kraft, mich anzurühren und eine Hoffnung auf Wandel zu nähren. Diese Ambivalenz kann vielleicht am Beispiel der Gouvernementalität erläutert werden. Gouvernementalität als eine Logik des Regierens spricht die Sprache der Macht und Kontrolle, sie benennt eine Technik (oder eine Anzahl von Techniken), um menschliches Verhalten zu formen. Gouvernmentalität im Sinne der Logik einer Technologie des Selbst verweist auf ein Element der Autonomie und kann die Formen der Verweigerung, Gestaltung oder des Sich- Widersetzens annehmen. Viele Politiken derjenigen, die durch herrschende Sexualmoral ausgegrenzt werden, bewegen sich in diesem Spannungsfeld oder Zwiespalt. Foucault selbst hat diese Ambivalenz sehr gut in seinen kritischen Anmerkungen zu lesbisch-schwuler Identitätspolitik ausgedrückt, die er in den 1970er-Jahren in einigen Interviews formulierte. Hier beschreibt er Identität – auch eine widerständige Identität – als Sackgasse und Prozess widersprüchlicher Machteffekte. Auch Entwicklungen in heutigen sexualpolitischen Bewegungen sind oft von einer solchen Ambivalenz gekennzeichnet. Um ein Beispiel aus meiner Forschung zu wählen: Die Forderung, Polyamorie auch rechtlich als eine sexuelle Orientierung anzuerkennen, würde es sicherlich polyamorösen Personen und Beziehungen ermöglichen, die Schutzfunktion von Antidiskriminierungsgesetzen für sich nutzbar zu machen. Gleichzeitig würde ein solcher Schritt jedoch eine glasklare Kategorisierung derer nötig machen, die Polyamorie im Sinne des Gesetzes zu repräsentieren gedenken oder die eine so definierte Schutzfunktion für sich in Anspruch nehmen wollen. Dies wiederum würde zu unausweichlichen Ausschlüssen führen und das dekonstruktive und „queere Potential“ von Polyamorie unterminieren. Es würde höchstwahrscheinlich auch Koalitionen mit anderen diskriminierten (nicht-monogamen) Gruppen, wenn nicht verunmöglichen, so doch zumindest erschweren. In den letzten zwei Jahren habe ich manche dieser Widersprüchlichkeiten hinsichtlich unterschiedlicher Teilbereiche des Rechts in akademischen Zeitschriften bearbeitet. Michel Foucaults Denkweise, die er nicht zuletzt in „Sexualität und Wahrheit“ dargelegt hat, hat mich in meinen Fragestellungen und in meiner Argumentation sicherlich beeinflusst.

Als eine Methode des kritischen Denkens hat sich das Werk Foucaults für mich noch lange nicht erschöpft. Natürlich gibt es viele Schwachstellen. Siobhan B. Somerville (1994) und Ann Laura Stoler (1995) haben zu Recht darauf hingewiesen, dass Foucaults Genealogie kolonialen Beziehungen und rassistischen Praxen nicht genug Aufmerksamkeit schenkt. Race und Ethnizität sind tief in Sexualitätswissen eingearbeitet, was diese Konzepte wiederum zu unabdingbaren Analyseperspektiven der Sexualitätsforschung macht. Viele Feminist*innen verweisen auf eine implizite Untertheoretisierung der Geschlechtlichkeit in Foucaults Werk. Das allerdings stand explizit feministischen und auch queer-feministischen Entwicklungen Foucault’scher Diskurskritik nicht im Wege (siehe z. B. Jana Sawicki (1991), Lois McNay (1992), Margaret A. McLaren (2002), Judith Butler (1991), Paul B. Preciado (2003, 2014) und viele mehr).

In den letzten Jahren bin ich mir stärker über die Unzulänglichkeit einer stark an Foucault angelegten queeren Theoriebildung bewusst geworden, die sich aus der chronischen Unterbetonung ökonomischer und staatsbezogener Prozesse ableitet. Michel Foucault hat großen Wert darauf gelegt, Einflüsse marxistischer Theorien auf seine Arbeit zu vermeiden. Foucault lehnte Marx‘ (auf Kapitalbeziehungen fundierten) systemischen Theorieansatz ab und betonte das Ineinanderspielen multipler Apparate und Machtzentren. Er beschrieb Macht als diskursgebunden, netzwerkartig organisiert und an vielfältige strategische Machtbeziehungen geknüpft. Marx’ Modell einer Gesellschaft, deren zentrale Machtkonflikte auf Klassengegensätzen beruhen, erschien ihm als zu eindimensional. Das Wissenschaftspathos orthodoxer Parteimarxist*innen seiner Zeit empfand er als wenig überzeugend. Hegelsche Geschichtsphilosophie, eine Dialektik des Fortschritts und Gedanken gesellschaftlicher Totalität lehnte er ab. Foucault bezog sich lieber auf eine durch Nietzsche inspirierte Philosophie der Multiplizität.

Doch es gibt sicher auch Berührungspunkte. So beschäftige sich Foucault z. B. mit Arbeitshäusern, und das Motiv der Ausbeutung in einer kapitalistischen Klassengesellschaft fungiert, wenn auch nicht explizit benannt, als eine Art Hintergrundmotiv der Analysen in „Überwachen und Strafen“ (Foucault 1976). Jacques Bidet (2016) ist daher der Meinung, dass es trotz aller epistemologischen Differenzen möglich sei, Foucault und Marx als sich ergänzende Theorieansätze zu sehen, die auf unterschiedliche Art das Problem der Moderne bearbeiten. Der starke Einfluss eines Foucault’schen Machtparadigmas hat sicher einiges dazu beigetragen, dass Fragen der politischen Ökonomie in der queer-inspirierten Geschlechter-und Sexualforschung für lange Zeit unbearbeitet blieben. Ist es aber möglich, um hier bei einem meiner persönlichen Forschungsschwerpunkte zu bleiben, den fast ausschließlichen Mittelklassecharakter vieler Polyamorie-Communities in Europa und in Nordamerika und deren Mangel an ethnischer Differenz ohne eine Analyse der Rolle bestimmter Lebensformen, Sexualitäten und Identitäten in gegenwärtigen Kapitalbeziehungen zu verstehen? Und ist – dies ist ein anderes Forschungsthema, dem ich mich gemeinsam mit meinem Kollegen Jon Binnie gewidmet habe – ein Fokus auf Fragen von Klasse, Race/Ethnizität und geopolitischer Hegemonie nicht von enormer Bedeutung, um Kooperationen und Konflikte in transnationalen Zirkeln von LGBTQ-Aktivist*innen zu verstehen?

Fragen des Staates sind innerhalb eines Foucault’schen Paradigmas viel einfacher zu bearbeiten. Z. B. das Konzept der Biopolitik, das in „Der Wille zum Wissen“ (Foucault 1977) kurz angedacht ist, aber in Vorlesungen eine stärkere Ausarbeitung erfuhr, ist ein Kernbegriff in Foucaults Kritik moderner Gouvernementalität und Staatsräson. Doch selbst hier scheint der Fokus auf den Staat, auf Bevölkerungskontrolle und sexuelle Regulierung sich zunehmend zu verwässern, was letztendlich zu einer Umdeutung des Konzeptes hin auf eine viel abstraktere Form der „Kontrolle des Lebens“ resultiert. Fragen des Rechts (z. B. Strafrecht, Familienrecht, Menschenrecht) sind ein Kernbereich der Regulierung von Geschlecht und Sexualität. Es gibt nichts im Werk von Michel Foucault, das Forscher*innen daran hindern würde, sich detailierter mit dem Recht auseinanderzusetzen. Viele kritische Rechtswissenschaftler*innen beziehen sich in ihrer poststrukturalistischen Dekonstruktion juristischer Kategorien und den damit verbundenen Subjektbegriffen direkt auf Foucault. Gleichzeitig ist es auffällig, dass z. B. Jeffrey Weeks, der anhand sehr ähnlicher Prämissen wie Michel Foucault zur Geschichte der Sexualität forscht, sich viel dezidierter mit Fragen des Gesetzes auseinandersetzt, als Foucault selbst es tat. Meine These hierzu ist, dass die Rolle des Staates (als Bündel machtvoller Institutionen), ebenso wie die Funktion von Klasse und Kapitalbeziehungen, Foucault aufgrund ihrer prominenten Position in marxistischer Theorie als zu suspekt und mit „systemischem Ballast“ behaftet erschienen, um bei seinem Bemühen, ein neues Paradigma der Machtbeziehungen zu entwickeln, hilfreich zu sein.

Michel Foucaults Werk (und insbesondere „Sexualität und Wahrheit“) haben mein Denken und Forschen über die letzten zwei Jahrzehnte hinweg sehr stark beeinflusst. Manche Konzepte beflügeln. Die Methodik ist eine ständige Herausforderung, sich nicht zur Selbstgefälligkeit hinreißen zu lassen. Und es gibt, wie überall, Schwach- oder Leerstellen. Diese könnten uns, zumindest wenn wir nicht einer rigiden Orthodoxie oder einer Neigung zum Personenkult verfallen sind, ermutigen, neue Verknüpfungen zu erstellen und an notwendigen Revisionen mitzuwirken.