Z Sex Forsch 2016; 29(04): 318-322
DOI: 10.1055/s-0042-124494
40 Jahre Foucaults „Sexualität und Wahrheit“
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Diskursive Körper?

Arne Dekker
a   Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
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Publication Date:
22 February 2017 (online)

In den 1990er-Jahren war Michel Foucault im deutschsprachigen akademischen Diskurs bereits etabliert, seine Werke fanden sich – anders als diejenigen anderer französischer Großtheoretiker – auf den Literaturlisten philosophischer und sozialwissenschaftlicher Proseminare. Wer also, wie ich, Anfang der 1990er-Jahre ein Soziologiestudium begann, hatte mit hoher Wahrscheinlichkeit bald mit Foucault zu tun – wenigstens wenn er sich für Kultursoziologie interessierte. Zweierlei war mit dieser Etablierung und Institutionalisierung verbunden:

Erstens war Foucault zu dieser Zeit bereits mehr als bloß ein wichtiger Bezugspunkt des soziologischen Denkens, er war auch zu einer Ikone der Popkultur geworden und wurde als solche von einer wachsenden Zahl studentischer Anhänger_innen bewundert. In nicht wenigen WG-Küchen hingen Fotos, die den charismatischen Glatzkopf vor der Bücherwand zeigten, oder nachdenklich im Rollkragenpulli, oder demonstrierend an der Seite Jean-Paul Sartres. Der popkulturelle Foucault besaß auch posthum eine erhebliche Verführungskraft, er kam in Romanen vor (gelungenen und weniger gelungenen, u. a. von Rainald Götz, Patricia Duncker, Thomas Meinecke), er war Namenspatron von Techno-Partys und sein Antlitz zierte eine Karte in einem Sammelkartenspiel – kurz: Foucault war cool. Warum, so mag sich mancher gefragt haben, sollte man also nicht auch das ein oder andere seiner Bücher lesen, z. B. das mit dem interessanten Titel, in dem es irgendwie um Sex geht?

Mit der Foucault-Welle der 1990er ging daher zweitens eine leidenschaftliche, aber bisweilen unterkomplexe Rezeption seines Werkes einher. Für mich und viele andere stellte „Der Wille zum Wissen“ (Foucault 1977) die erste Konfrontation mit „konstruktivistischem“ Denken dar. Ausgerechnet Sexualität, die nicht erst seit Freud als eine Art unhinterfragter Kern von Subjekten angenommen wurde, als triebhaft und „innere Natur“ im psychoanalytischen Sinne, erschien plötzlich nicht mehr als natürliche Tatsache. Vielmehr bringe – nichts anderes bedeutet Foucaults „Kritik der Repressionshypothese“ – das Reden über die Unterdrückung der Sexualität die moderne Sexualität erst hervor, und mit ihr das moderne Subjekt. Denn das sei das Wesentliche, schreibt Foucault: „[S]eit dem Christentum hat das Abendland unaufhörlich wiederholt: ‚Um zu wissen wer Du bist, mußt Du wissen, was mit deinem Sex los ist‘“ (1978: 176).

Eine solche Historisierung der Sexualsubjekte berührt unmittelbar die Frage nach der Bedeutung des natürlichen, biologischen Körpers. Bei uns Studierenden kam damals vor allem an: Der sexuelle Körper existiert nicht biologisch und prä-diskursiv, vielmehr wird er durch Sprache hergestellt, er steht „unmittelbar im Feld des Politischen“ (Foucault 1976: 37). Das passte zu Judith Butler, deren „Unbehagen der Geschlechter“ (1991) wir fast zeitgleich lasen, und die sich kritisch mit der Vorstellung eines prä-diskursiven biologischen Geschlechts (Sex) jenseits des sozialen (Gender) auseinandersetzte. Und es passte auch zu den Vorstellungen der Kritiker_innen Foucaults und Butlers, die den beiden „linguistischen Monismus“ vorwarfen und – oft aus feministischer Perspektive – beklagten, Poststrukturalist_innen lösten den sexuellen bzw. Geschlechtskörper im Diskurs auf (vgl. Becker 2007).

Schon damals stießen wir mit dieser ausschließlich diskursorientierten Foucault-Interpretation an unsere Grenzen und ein wenig missmutig nahmen wir zur Kenntnis, dass Foucault selbst als „Stützpunkt des Gegenangriffs“ gegen das diskursiv erzeugte Sexualitätsdispositiv ausgerechnet „die Körper und die Lüste“ vorschlägt, um sie „in Ihrer Vielfältigkeit und Widerstandsfähigkeit gegen die Macht auszuspielen“ (1977: 187). Mit unserem Missmut waren wir nicht allein, und so stand in einer damals viel gelesenen Junius-Einführung: „[A]n keiner Stelle wird uns erklärt, was unter ‚den Körpern und den Lüsten‘ zu verstehen ist, wenn nicht Begehren, Sex oder Sexualität. Das ganz andere gibt es also doch. […] Trotz ihrer im einzelnen wichtigen und überzeugenden Einsichten ist Foucaults Machttheorie im ganzen gescheitert“ (Fink-Eitel 1992: 94).

Nun hat Foucault tatsächlich nicht angestrebt, seine Theorie als monolithisches und widerspruchsfreies Gesamtwerk aufzubauen, und stattdessen Schreiben als konstitutiven Bestandteil des Weiterdenkens betrieben; sein Werk ist daher voll von Brüchen. Und doch ist das nicht das Einzige, was sich zugunsten von Foucaults Macht- und Körpertheorie ins Feld führen lässt. Die Analyse der modernen Sexualität, die Foucault in „Der Wille zum Wissen“ (1977) beginnt, basiert wesentlich auf dem zunächst dort entwickelten Konzept der Bio-Macht. Kurz gesagt lautet seine These, dass an die Stelle der vordem repressiv organisierten, klassisch-juridischen Macht (die auch heute noch unsere Vorstellung von Macht bestimmt) seit dem 17. Jahrhundert sukzessiv neue, produktive Machtpraktiken getreten seien, die sich „des Lebens der Menschen angenommen haben, der Menschen als lebender Körper“ (Foucault 1977: 110). Diese Erkenntnis stellt die geläufige Vorstellung von Macht als Mittel der Herrschaft auf den Kopf – Foucault beschreibt den menschlichen Körper nun nicht mehr als unterdrückt, unterworfen und beherrscht, vielmehr sei er selbst von der Macht durchzogen, werde erzeugt, geformt und verbessert.

Foucault schildert in diesem Zusammenhang zwei verschiedene Machttechnologien, die sich seit dem 17. bzw. seit Mitte des 18. Jahrhunderts zunächst unabhängig voneinander entwickelten und die im 19. Jahrhundert – nun miteinander verknüpft – zur Bio-Macht aufgestiegen seien: gemeint sind erstens Disziplinarmacht und zweitens Biopolitik (vgl. 1977: 161 ff.). Beide zeichnet ihr im Vergleich zu repressiven Machttechnologien genuin produktiver Charakter aus. Die Disziplinarmacht setzt am individuellen Körper an. Bereits in „Überwachen und Strafen“ (1976) beschreibt Foucault eine Reihe von Praktiken, mit denen seit dem 17. Jahrhundert die Körper kontrolliert und leistungsfähig gemacht worden seien. Geht es in „Überwachen und Strafen“ aber in erster Linie um nicht-diskursive Praktiken körperlicher Disziplinierung, wird in „Der Wille zum Wissen“ (1977) nun mit dem Paradigma des „Geständniszwangs“ eine zentrale diskursive Praktik körperlicher Disziplinierung thematisiert: Der Geständniszwang sei – im 13. Jahrhundert als Bußsakrament installiert – ab dem 17. Jahrhundert zur „Regel für alle“ (ebd.: 31) geworden. Geständnis, Subjektivierung und Sexualität seien seither untrennbar miteinander verbunden, weil „seit drei Jahrhunderten der abendländische Mensch an den Imperativ gebunden ist, alles über seinen Sex zu sagen“ (ebd.: 34).

Während sich die Disziplinarmacht auf den Individualkörper richtet, adressiert die zweite der oben genannten Technologie der Bio-Macht, die Bio-Politik, den Gesellschaftskörper. Denn im 18. Jahrhundert trat allmählich die Bevölkerung als ein ökonomisches und politisches Problem auf (vgl. ebd.: 37), sie erschien als eine Ressource, die es zu schützen und zu regulieren galt. Neben der Disziplinierung des Individualkörpers wurde also die Regulierung des Gattungskörpers zur entscheidenden gesellschaftlichen Aufgabe, verbunden mit der Entwicklung der Demografie und mit der Abschätzung des Verhältnisses zwischen Ressourcen und Einwohnern sowie der Leben und ihrer Dauer (vgl. ebd.: 167). Disziplinarmacht und Biopolitik sind seit dem 19. Jahrhundert zunehmend miteinander verschränkt worden und, wie bereits gesagt, zur Bio-Macht kristallisiert. In Gestalt der Bio-Macht wird die Disziplinierung des Individualkörpers mit der Regulierung des Gesellschaftskörpers verknüpft. Und dies ist der eigentliche Coup, der Foucault in seinem ersten Sex-Buch gelingt: dass er den Körper als jene Stätte begreift, an der vermittels des Sexualitätsdispositivs gesellschaftliche Mikropraktiken mit der Makroorganisation der Macht verbunden sind (vgl. Dreyfus und Rabinow 1987: 22 f.).

Die Bevölkerungsregulierung wird damit zum ureigenen Anliegen der Subjekte, sie wird zum Bestandteil ihrer inneren Natur. Körperdisziplinierung und Bevölkerungsregulierung gerinnen zu ein- und demselben Projekt der Sexualität, an deren Konstitution auch die Wissenschaft, die sie doch nur zu entdecken vorgibt, entscheidend beteiligt ist. Ist es also doch richtig zu sagen, in Foucaults Theorien liege die körperliche Natur (als Ort sexueller Subjektivität) stets vollständig im Inneren der Diskurse?

Zumindest in seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche scheint Foucault zu diesem Ergebnis zu gelangen: „Nichts am Menschen – auch nicht sein Leib – ist so fest, um auch die anderen Menschen verstehen und sich in ihnen wiedererkennen zu können“ (1987: 97). Wie aber ist es dann gemeint, dass Foucault in Auseinandersetzung mit der Disziplinarmacht schildert, wie die Machtverhältnisse „Hand an den Körper legen, ihn umkleiden, markieren, dressieren, martern“ (1976: 37) und sich in die Körper einschreiben, wie wir immer wieder lesen können? Arbeitet Foucault mit zwei unterschiedlichen Körpertheorien? Robert Gugutzer legt dies nahe, indem er in seiner Einführung in die Körpersoziologie (2004) den diskursiven Körper und den disziplinierten Körper in zwei verschiedenen Kapiteln behandelt, ohne sich um eine Vermittlung beider Modelle zu bemühen. Oder wird am Ende gar das zunächst essentialistische Modell des disziplinierten Körpers in „Der Wille zum Wissen“ (Foucault 1977) durch ein konstruktivistisches Modell des diskursiven Körpers abgelöst? Nein, denn auch in diesem Buch lässt Foucault wenig Zweifel daran, dass er mit seiner genealogischen Analyse nicht auf eine Negation der Anatomie, des Biologischen, des Funktionellen zusteuert. Die Untersuchung der Disziplinarmacht zeige vielmehr, wie sich „Machtdispositive direkt an die Körper schalten“ (ebd.: 180). Gleichwohl gehe es in der Analyse nicht darum, das Historische auf das Biologische folgen zu lassen „wie im Evolutionismus der alten Soziologen“ (ebd.: 181), sondern darum, beider komplexe Verschränkung in den und durch die Technologien der Bio-Macht herauszuarbeiten. Gerade in der Auseinandersetzung mit den Körpern zeigt sich also, wie unbefriedigend der Versuch bleiben muss, den Macht-Wissens-Komplex nach einer Seite hin auszulösen. Weder gehen die Körper im über sie produzierten Wissen auf, noch existieren sie unabhängig von diesem Wissen.

Bei all dem muss sich Foucault den Vorwurf gefallen lassen, eine Reihe von Widersprüchen in seiner körpertheoretischen Position bewusst in Kauf genommen zu haben. Selbst im genannten Nietzsche-Aufsatz erscheint der Leib immer wieder auch als eine Art untergründiger Entität, die, wie Judith Butler sagt, als „Bühne kultureller Einschreibungen“ (1991: 191) dient: „Dem Leib prägen sich die Ereignisse ein“ (Foucault 1987: 75), er sei von Geschichte durchdrungen. Aber so einfach ist die Sache nicht. Denn die zwei vordergründig widersprüchlichen Körpertheorien Foucaults – auf der einen Seite das vermeintlich vorgängige Substrat, in das sich die Macht einschreibt, auf der anderen Seite der diskursive Körper, der vollständig im Inneren der Diskurse, im Feld des Politischen steht und an dem sich nichts Substantielles finden lässt –, diese zwei widersprüchlichen Formen sind einander nicht äußerlich, sie sind untrennbar miteinander verwoben und stehen in einem paradoxalen Verhältnis. Sie sind immer schon vollständig von der Macht durchzogen und existieren nicht jenseits der Macht, lassen sich andererseits aber nicht auf einen Effekt der Macht reduzieren und in der Macht auflösen.

Anfang der 1990er-Jahre haben wir uns diese Gedanken nicht gemacht und uns weitgehend mit der Vorstellung des diskursiven Körpers begnügt. Verbunden war dies auch mit einem voluntaristischen Missverständnis von Diskurstheorien – denn Diskurse, so schien es uns damals, müssten sich eigentlich leicht verändern lassen, zumindest leichter als biologische Körper. Die ersten textbasierten Internetdienste schienen hierfür die geeignete elektronische Probebühne darzustellen: vielleicht ließen sich hier Sexualität und kulturelle Zweigeschlechtlichkeit von den materiellen Körpern entkoppeln? Es war nicht zuletzt diese Frage, die mich für eines meiner auch heute noch zentralen Forschungsgebiete begeisterte – auch wenn ich sie heute schlicht mit „nein“ beantworten würde.