Z Sex Forsch 2016; 29(04): 344-347
DOI: 10.1055/s-0042-124492
40 Jahre Foucaults „Sexualität und Wahrheit“
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Sexualität – und Wahrheit?

Über Michel Foucaults Willen zum Wissen
Sven Lewandowski
a   Institut für Politikwissenschaft und Soziologie, Julius-Maximillians-Universität Würzburg
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Publication Date:
22 February 2017 (online)

Dieses Buch hat mein Leben verändert!

Selbst unter Verzicht auf das möglicherweise mitschwingende Pathos bezeichnet die Aussage, dass Michel Foucaults schmales Bändchen „Der Wille zum Wissen“ (1977) bzw. seine Untersuchungen über „Sexualität und Wahrheit“ mein Leben verändert haben, eine schlichte Tatsache. Mit dieser Aussage geht es mir freilich nicht darum, mich in einen spezifischen Geständnisdiskurs einzuschreiben oder mich als Foucault-„Jünger“ erkennen zu geben. Und dennoch markiert „Sexualität und Wahrheit“ in meinem wissenschaftlichen (und vielleicht auch sonstigen) Denken eine fundamentale Differenz – und zwar in mindestens zweierlei Hinsicht: Zum einen bedeutete die Konfrontation mit Foucaults Denken einen Bruch in dem meinigen, da es meine erste (ernsthafte) Konfrontation mit konstruktivistischem, ja kontraintuitivem Denken darstellte. Was ich zuvor in meinem Studium der Soziologie und Politikwissenschaft gelesen und kennengelernt hatte, war zu meinem alltäglichen bzw. vorwissenschaftlichen Denken durchaus anschlussfähig, ja setzte es – zumindest zum Teil – recht bruchlos fort. Die damals in ihrer Hochphase befindliche Individualisierungstheorie leuchtete mir ebenso umstandslos ein wie Rational-Choice-Theorien. Lebte ich nicht in einer individualisierten Gesellschaft, konnte ich nicht Individualisierungsprozesse wie rational-choice-orientiertes Denken alltäglich beobachten? Im Gegensatz zu Individualisierungs- und Rational-Choice-Theorien war Foucaults Denken nicht nur nicht unmittelbar anschlussfähig, sondern geradezu inkommensurabel.[1] Der Effekt der Auseinandersetzung mit Foucault war, dass sie mein Denken revolutionierte. Wenn Foucault einmal als sein Ziel definierte, herauszufinden, ob man anders denken könne (Foucault 1986: 15 f.), so war er zumindest in meinem Falle erfolgreich – durch die Konfrontation mit seinem Denken lernte ich nicht nur „anders“ zu denken, sondern musste – später – erst wieder ein Denken lernen, dass nicht Foucaults Spuren folgt. Weiter oder wieder zu denken wie zuvor schien jedenfalls unmöglich.

Die zweite Hinsicht, in der „Sexualität und Wahrheit“ mein Leben veränderte, ist ungleich weniger komplex, ja geradezu prosaisch, aber möglicherweise länger anhaltend, jedenfalls folgenreicher: Durch Foucault entdeckte ich Sexualität als soziologisches Thema (wenngleich sich meine Hinwendung zur Sexualwissenschaft erst Jahre später auf der Suche nach einem Dissertationsthema entwickelte).

Meine Entdeckung Foucaults war freilich so trivial, dass es beinahe zu peinlich ist, davon zu erzählen – sie verdankt sich zunächst und vor allem dem Titel „Sexualität und Wahrheit“. Mag sein, dass ich naiv war, aber ich konnte mir einen Zusammenhang von Sexualität und Wahrheit nicht recht vorstellen. Deshalb erwarb ich „Der Wille zum Wissen“ (1977) als ersten Band dieses Werks. Ob ich das Buch sogleich gelesen habe, kann ich nicht mehr sagen. Was ich allerdings weiß, ist, dass ich, als ich es las, zunächst sehr wenig verstand – zu groß war die Differenz zu fast allem, was ich vorher gelesen hatte.

Freilich war ich nicht der Einzige, der Foucault zu jener Zeit entdeckte, sondern nur ein kleines Sandkörnchen, das jener „Foucault-Welle“ ausgesetzt war, die in den 1990er-Jahren die Geistes- und Sozialwissenschaften umspülte und manches, was man für sicher gehalten hatte, verschwinden ließ wie ein „Gesicht im Sande“ (vgl. Foucault 1971: 462) – im Falle der Sexualität den Glauben, die Geschichte der Sexualität sei primär eine Geschichte der Unterdrückung. Und eben jener Glaube und der Glaube, dass Sexualität etwas zu Befreiendes sei, kritisierte Foucault mit teils beißender Ironie. Paradoxerweise evozierte aber gerade diese Kritik auch ein Gefühl der Befreiung, das Foucault freilich im letzten Satz von „Der Wille zum Wissen“ mit der lakonischen Bemerkung abkühlt, dass die „Ironie“ des Sexualitätsdispositivs darin liege, dass „es […] uns glauben [macht], daß es darin um unsere ‚Befreiung‘ geht“ (1977: 190).

Dass Sexualität etwas zu Befreiendes sei, war ein wesentliches Movens der 1968er-Bewegung (und vieler anderer sexualpolitischer Bewegungen) und vielleicht lag das Befreiende von Foucaults „Leuchtbombe“ für die Kinder der 68er-Generation auch in jener ungeheuren Provokation, die es erlaubte, der Generation der Eltern ein „ihr habt euch geirrt“ entgegenzuschleudern und zugleich der Litanei der sexuellen Befreiung zu entkommen, sich von ihr zu befreien. In diesem Sinne könnte man durchaus davon sprechen, dass Foucaults Werk über Sexualität auch so etwas wie ein „Generationenbuch“ ist.

Worin liegt aber – jenseits der Generationenfrage und den mit ihr verbundenen Abgrenzungs- bzw. Distinktionsmöglichkeiten – die Bedeutung von „Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I“ (Foucault 1977)?

Neben der Kritik an der „Repressionshypothese“ sind es vor allem zwei Aspekte, die Michel Foucaults Werk für die Sexualforschung bedeutsam machen: Die These einer Diskursivierung der Sexualität einerseits und jene von Foucault entwickelte Analytik der Macht, die Macht als etwas Produktives und Subjektivität als ihr Produkt begreift, ohne dabei Macht primär repressiv zu denken.

Der Diskurs über das Sexuelle bringe, so Foucaults These, die moderne Sexualität – verstanden als ein spezifischer Sinnbereich, als ein spezifisches „Dispositiv“ – erst hervor, wobei gerade das Reden von der Unterdrückung der Sexualität Teil ebenjenes Diskurses sei. Dass Sexualität zu einem Geheimnis gemacht werde, dass man von ihrer Unterdrückung spreche, sei weniger ein Zeichen tatsächlicher Unterdrückung als vielmehr Teil jenes Prozesses, der das Sexuelle in eine diskursive Existenz treibe, es zum Sprechen bringe und einen Anreiz schaffe, das eigene Begehren nicht nur als Rätsel und Schlüssel der eigenen Subjektivität wahrzunehmen, sondern ihm in seinen unendlichen Verzweigungen nachzuspüren. Foucault geht es darum, jenen Zusammenhang zu ergründen, der mir, als ich erstmalig über sein Werk stolperte, überhaupt nicht einleuchten wollte: Was hat Sexualität mit Wahrheit zu tun?

Die Anspielung auf Nietzsche im Titel „Der Wille zum Wissen“ (1977) ist plakativ genug und so überrascht es auch nicht, dass es Foucault in diesem Werk (wie in einer Reihe seiner anderen Bücher) um Fragen der Analyse von Macht geht. Der Wille zum Wissen ist von Macht durchwoben, aber nicht im Sinne von vulgär-nietzeanischen oder umgangssprachlichen Deutungen, dass Wissen Macht sei. Auch greift man zu kurz, wenn man annimmt, dass der Wille zum Wissen ein einfacher Ausdruck eines Willens zur Macht sei. Foucault geht es vielmehr darum, feinen Verästelungen und Verwebungen von Wissen und Macht nachzuspüren: Gerade in jenem Willen zum Wissen, der die Suche nach der Wahrheit des Sexes, der Sexualität antreibt, seien Machtprozesse wirksam, ja eben jene Suche nach Wahrheit sei selbst von Macht durchdrungen. In der Suche nach der Wahrheit des Begehrens und der Sexualität entstehe zugleich die moderne, von Macht durchtränkte Subjektivität.

Die machtdurchwirkte Bindung von Subjektivität und sexuellem Begehren sei dem modernen Menschen eingeschrieben und bringe jene Formen hervor, die wir heutzutage (oder noch immer) als sexuelle Identität(en) begreifen und die uns (nach wie vor) als selbstverständlich gelten: Sage mir, was du begehrst, und ich sage dir, wer du bist…

Wie Foucault zeigt, ist der Konnex von Begehren und Identität ein historisches Produkt; aber selbst wenn man Foucault gelesen hat, kommt man nicht leicht von jener Logik los, die von sexuellen Handlungen auf sexuelles Begehren und weiter auf sexuelle Identität schließt und umgekehrt von sexueller Identität auf sexuelle Handlungen. Wer als Mann Männer begehrt, muss homosexuell sein, und wer homosexuell (und männlich) ist, begehrt und handelt homosexuell. Man kennt die Logik vom Täterprofiling: Eine bestimmte Veranlagung zwingt, so die Annahme, zu bestimmten Handlungen und bestimmte Handlungen lassen umgekehrt Rückschlüsse auf bestimmte (Täter-)Persönlichkeiten zu. Im Sexuellen zeige sich, so die Annahme, eine bestimmte Handschrift, die nur einer bestimmten Person bzw. einem bestimmten Personentypus zuzurechnen ist, während umgekehrt bestimmte Personen bzw. Personentypen ihre individuelle Handschrift nicht verleugnen können: Man wird sie zweifelsohne an ihren Taten erkennen. Ihre (sexuelle) Identität durchdringt ihre sämtlichen (sexuellen) Handlungen; sie offenbaren die Wahrheit über sie. Etwas ganz Ähnliches führt Foucault in „Der Wille zum Wissen“ (1977) vor, indem er zeigt, dass dem wechselseitigen Schluss von Begehren auf Identität und von Identität auf Begehren ein bestimmter roter Faden eingewoben ist, den man, folgt man einer Formulierung aus Ottiliens Tagebuch, „nicht herauswinden kann, ohne alles aufzulösen“. Während jedoch Goethe in ihrem Tagebuch einen „Faden der Neigung und Anhänglichkeit, der alles verbindet und das Ganze bezeichnet“, erkennt, steht im Zentrum von Foucaults Denken ein weniger sichtbarer und wohl auch nicht roter Faden – der Faden der Macht (der freilich kein Henkersstrick ist). Gleichwohl hält dieser Foucaults Werk zusammen und man darf vermuten, dass sich zwar nicht alles, wohl aber sehr vieles auflöst, wenn man diesen herauszuwinden versucht.

Als ich mich – Jahre nach meinem persönlichen „Foucault-Schock“ – der Soziologie des Sexuellen zuwandte, musste ich freilich feststellen, dass Foucault von der zeitgenössischen Sexualität und nicht zuletzt von ihren empirischen Erscheinungen relativ wenig zu wissen scheint. Ebenso fiel mir (und anderen) mit der Zeit auf, dass Foucault zwar originelle Begriffe von Macht und Subjektivität sowie von Körper und Herrschaft entwickelt, es ihm aber an einem Begriff von Gesellschaft (jenseits staatlicher bzw. herrschaftlicher Ordnungen) mangelt und man folglich schlecht beraten ist, sich primär oder ausschließlich an Foucault zu halten, wenn man auf eine Analyse von „Sexualität und Gesellschaft“ abzielt.