Z Sex Forsch 2016; 29(04): 361-364
DOI: 10.1055/s-0042-121639
40 Jahre Foucaults „Sexualität und Wahrheit“
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Ein Ausweg aus dem Dilemma zwischen Dispositiv und Deutung?

Martin Zandanell
a   Praxis für Psychotherapie und Psychoanalyse, Hamburg
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Publication Date:
22 February 2017 (online)

Immer, wenn ich Foucault lese, denke ich, dass ich keinen Tag mehr als Therapeut weiterarbeiten kann. Doch ich lese ihn wieder, und arbeite weiter.

In der Schrift „Die Ordnung der Dinge“ (1971) hatte ich zunächst verstanden, dass Foucault die Psychoanalyse, Seite an Seite mit der Ethnologie, als Wissenschaft im eigentlichen Sinn hervorhob, da beide das Fremde ohne den Anspruch seiner letztendlichen Aufklärung betrachten, dem „Unbekannten“ respektive dem „Unbewussten“ ein Refugium lassen. Ich fühlte mich sicher und in meiner Ausbildung zum Psychoanalytiker bestätigt – zunächst! Denn Foucault zu lesen heißt auch, immer wieder die Sicherheit zu verlieren, die Widersprüchlichkeit der Diskurse zu begreifen: ihre Produktivität, unsere Einbindung in sie, und das gegenseitige Wechselspiel. Er zeigt, wie sich aus der Formation und Erschaffung des Wissens eine Macht bildet, die auf uns und unsere Körper zugreift und diese gleichsam erst erschafft. Wer Foucault gelesen hat, weiß um dessen Konzept der Biomacht, einer Macht, die keines Souveräns bedarf, einer Macht, die gleichsam aus sich selbst herrscht.

„Der Wille zum Wissen“ (1977) führt diesen Gedanken aus, wendet ihn auf die moderne Sexualität an und macht deutlich, dass gerade hier und in unserer Vorstellung vom Sex diese Macht liegt und wirkt. Schon nach den ersten Seiten ist die These formuliert: Die Sexualität unterliegt eben nicht einer Repression, deren Aufhebung uns leichterdings befreien würde, auch wenn „eigene Aufseher dafür bezahlt werden, dass sie jedem zuhören, der sich ihnen über seinen Sex anvertrauen will, […] weshalb bestimmte Leute schon ihre Ohren vermietet haben“ (ebd.: 16). Im Gegenteil! – Es geht ihm darum aufzuzeigen, dass der Wille zum Wissen selbst „sich vielmehr eifrigst bemüht hat … eine Wissenschaft von der Sexualität zu konstituieren“ (ebd.: 23).

Wie beschrieben, hatte ich Foucault schon früher gelesen. La volonté de savoir (dt. „Der Wille zum Wissen“) las ich jedoch erst, als ich am Institut für Sexualforschung in Hamburg arbeitete. Das kleine Buch ist für mich verstörend und beglückend zugleich – und auch, wie es den Gegenstand seiner Untersuchung beschreibt: Das Dispositiv der Sexualität.

Schnell vermittelt Foucault einen Abriss der Geschichte der politischen, ökonomischen und technischen Anreize, die seit dem 17. Jahrhundert in der abendländischen Kultur dazu führten, vom Sex zu sprechen, als auch über diesen zu schweigen. Für Foucault hat das Abendland zwei große Regelsysteme verfasst, um den Sex zu regieren – das „Gesetz der Ehe“ und die „Ordnung der Begehren“ (ebd.: 54). Beide formieren mit ihrer Ausgrenzung die andersartige Sexualität als pervers, diejenige der Kinder, der Irren, der Homosexuellen, der Kriminellen. Sie tragen damit zur Medizinisierung und Kontrolle dieser bei, einem Prozess, auf dem für Foucault die abendländische Tradition der scientia sexualis, also des Wissens über die Sexualität, fußt.

Freuds Postulat einer frühen, psychosexuellen Entwicklung des Seelenlebens ist für Foucault insofern bedeutsam, als sich Freud damit der Sexualität der Kinder zuwendet. Doch die Freud’sche Theorie bleibt für ihn immer auch ein möglicher Ausdruck des bürgerlichen Dispositivs der Sexualität – aufklärerisch-provokant, und darin doch nur eine Variante des diskursiven Wissens über den Sex?

Dieses Wissen ist für Foucault durch eine spezifische Form der Erpressung von Geständnissen geprägt, deren Ursprung in der kirchlichen Tradition des christlichen Buß-Sakraments liegt: Mit ihren Prinzipien, den anderen zum Sprechen zu bringen, Kausalitäten herzustellen, eine Latenz der Sexualität anzunehmen, Erfahrenes zu interpretieren und zu diagnostizieren, legt die scientia sexualis einen Rahmen, der sich in dieser Weise ebenso in den Formen unserer heutigen Psychotherapien zeigt. Auch das zurückhaltende Vorgehen der Psychoanalyse, die auf der freien Assoziation des Patienten fußt, das Schweigen als Teil der Behandlung schätzt und Erfahrenes deutend betrachtet, kann sich von diesen Prinzipien der scientia sexualis respektive der Humanwissenschaften wohl nicht freisprechen.

Anders, so Foucault, sei es um die ars erotica bestellt, die „weder vollkommen aus der abendländischen Zivilisation verschwunden, noch stets der Bewegung fremd gewesen ist, durch die man die Wahrheit des Sexuellen zu produzieren suchte“ (ebd.: 90). In ihr werde die Wahrheit aus der Lust selbst gezogen. Nicht unter Bezugnahme auf ein Nützlichkeitskriterium, sondern in Bezug auf sich selbst, „ihre Intensität, ihre spezifische Qualität, ihre Dauer und ihre Ausstrahlung im Körper und in der Seele“ (ebd.: 74).

Betrachtet man die Psychoanalyse jenseits der viel zitierten Wissenschaftlichkeit eines Chirurgen, mit der sich Freud der Erforschung des Seelenlebens zuwenden wollte, sondern in Bezug auf die Situation der analytischen Behandlung, so zeigt sich ein Bild, das meines Erachtens dem der ars erotica nahesteht:

Die lange eigene Analyse im Rahmen der Ausbildung wird oft als unzeitgemäß kritisiert und mit mittelalterlichem Lehrer-Schüler-Denken verglichen. Was man, mit den Worten Foucaults, als eine Art „Leitung durch einen Lehrmeister auf einem Initiationsweg“ (ebd.: 90) verstehen kann, dient der Intensivierung der Erfahrung, die man mit sich und einem anderen macht, und dem Versuch von deren Bewältigung. Dies sollte sich später in einer entsprechenden Haltung in den eigenen Behandlungen der Analytikerinnen und Analytiker, deren Regelhaftigkeit und Regelmäßigkeit, und schließlich wohl dem, was Freud als unendliches Weiterführen der Analyse verstehen mochte, replizieren.

Hier liegt meines Erachtens der Schlüssel zu einem Verständnis der Psychoanalyse als diskursive Technik eines immer wieder Sich-Hinterfragens und Neu-Verstehens, das eigentlich an kein Ende kommt und auch keinen Endzustand im Sinne einer Heilung verspricht. Wo keine endgültige Heilung erwartbar ist, ist aber auch die Vorstellung der Krankheit ihrer Absolutheit enthoben. Gesund versus krank? Wahr versus unwahr? – Die Psychoanalyse hat hier mit der Annahme des Unbewussten und der Verdrängung eine Herangehensweise entwickelt, die jenseits solcher Dichotomien funktionieren, sie dekonstruieren kann.

Doch auch die Psychoanalyse unterliegt sozialen Praktiken, die auf Selektion und Ausschluss beruhen; auch ihre Anhänger haben Wahrheitsansprüche formiert, davon legt ihr Umgang mit vermeintlichen Dissidenten einer „reinen Lehre“ mehr als einmal Zeugnis ab. Wir wären blind, dies nicht zu sehen. Und auch die Psychoanalyse kann nicht nur als eine reine Technik zur Ergründung der eigenen psychischen und sexuellen Dynamik funktionieren. Wie sollte das gehen? – Sie besitzt einen Korpus von Theorien zum Verständnis der Wechselwirkung zwischen Sexualität und Individuum. Mit ihrer Annahme, dass unser seelisch-geistiges Sein aus dem Körper entsteht, scheint sie von dem Foucault’schen Denken nicht weit entfernt. Doch Freuds Konzeption einer psychosexuellen Entwicklung des Kindes, die in der Vorstellung einer gelingenden oder nicht gelingenden Bewältigung des Ödipuskomplexes gipfelt, muss von Foucault als Mythos einer bürgerlichen Gesellschaft abgelehnt werden. Für ihn scheint auch die Psychoanalyse ein Produkt dieser Kultur zu sein, in der ein komplexes Dispositiv der Sexualität immer neue wahre Diskurse über den Sex produziert.

Ist die Psychoanalyse selbst also wahr und niemals wahr? In einem immerwährenden Spannungsfeld? So, wie es ihre Konzepte des Triebgeschehens und des Unbewussten in gewisser Weise nahelegen? – Wenn ich Foucault lese, erscheint die Sexualität als omnipräsent und doch nie greifbar. Mit den Worten eines Freundes: Mal banal und alltäglich, und dann doch so, dass man mit einem Mal alles für sie aufs Spiel setzen würde.

Mir scheint, dass die Psychoanalyse ihre größte Kraft an den Punkten entfaltet, die in der Theorie am umstrittensten sind. Ich meine das Postulat einer primären großen Lust an uns selbst, die wir vielleicht schon von Anfang an in uns tragen, und die Anziehung, die auch die Zerstörung für uns hat. Es sind die Konzepte des primären Narzissmus und des Todestriebs. Hier sind wir tief berührbar, im Positiven wie im Negativen, im Besitz wie im Mangel. Was dann geschieht, könnte man als ars erotica bezeichnen, auch in einer Behandlung. Wenn ich Foucault lese, dann glaube ich nicht mehr an die Möglichkeit oder auch nur Notwendigkeit einer guten Deutung dessen, was uns ausmacht; dann spüre ich, dass es darum geht, sich niemals sicher zu werden und darin eine Kraft zu finden.