Z Sex Forsch 2016; 29(04): 377-395
DOI: 10.1055/s-0042-121248
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Publication Date:
22 February 2017 (online)

John DeLamater und Rebecca F. Plante, Hrsg. Handbook of the Sociology of Sexualities. Cham, Heidelberg, New York, Dordrecht, London: Springer 2015. 472 Seiten, USD 249,00

Der Kalauer, es gebe mittlerweile mehr Handbücher als Hände, trifft für die Sexualsoziologie sicherlich nicht zu. Umso erfreulicher, dass nun zumindest eines vorliegt – skeptisch stimmt jedoch sein Inhalt.

Der Band gliedert sich – neben einer kurzen Einleitung über die soziologische Erforschung des Sexuellen (Kap. 1) – in fünf Teile, deren erster Texte versammelt, die einige theoretische Ansätze der Sexualsoziologie vorstellen. Zunächst skizziert Michael W. Wiederman (Kap. 2) die von Gagnon und Simon entwickelte soziologische Theorie sexueller Skripte mit ihrer Unterscheidung kultureller Szenarien, interpersoneller und intrapsychischer Skripte und grenzt sie von anderen – vornehmlich psychologischen – Ansätzen ab, die ebenfalls mit Skriptbegriffen operieren. Zuzustimmen ist Wiedermans Kritik an dem häufig laxen Umgang mit dem Skriptbegriff in der empirischen Forschung (die oftmals Skripte, Einstellungen und Normen gleichgesetzt), während negativ auffällt, dass er zwar die Schwierigkeiten der Operationalisierbarkeit der Theorie sexueller Skripte zu Zwecken der empirischen Forschung breit diskutiert, aber wenig zu Versuchen ihrer theoretischen Weiterentwicklung ausführt. Die vorgetragene Kritik fußt freilich auf einem stark verkürzten Verständnis von soziologischer Theorie, das selbst den Status eines Ansatzes als „Theorie“ an seiner empirischen Überprüfbarkeit misst: „Ideally, theories facilitate predictions in the form of testable hypotheses. […]. Due to its lack of explanatory power, many fundamental questions regarding sexual scripts remain unanswered. […]. With these deficits in conceptual foundation and elaboration through empirical data, sexual script theory’s status as a scientific theory is debatable“ (S. 16 f.). Wiederman scheint jedoch den mit der Differenzierung in drei Ebenen sexueller Skripte verbundenen Paradigmenwechsel und folglich auch die durch sie gewonnene Flexibilität und Differenziertheit des Konzepts zu unterschätzen, die es z. B. erlauben, das Zusammenspiel von kulturellen Szenarien und interpersonellen Skripten zu analysieren und so das Konzept zu dynamisieren. Verliert man zudem die Ebene sexueller Interaktion aus den Augen, so geht, je mehr man Skripte als primär kognitive Konzepte missversteht, ein entscheidender Gewinn der Theorie ebenso verloren wie mannigfaltige Anschlussmöglichkeiten. Vor allem gerät aus dem Blick, dass sich Sexualität primär als verkörperte soziale Praxis realisiert, die mit kognitivistischen Konzepten nicht erfasst werden kann. Wiederman sieht nicht, dass sexuelle Skripte verkörpert, d. h. sich mittels Praktiken in Körper einschreiben und sexuelle Interaktionen u. a. auch durch somatisierte Skripte gesteuert werden, was den Ertrag seiner Ausführungen erheblich schmälert, zumal er damit auch mögliche Anschlüsse an die Körpersoziologie wie an Praxistheorien übersieht.

Im einzig herausragendem Beitrag des Bandes stellt Adam I. Green eine Feldtheorie des Sexuellen (Sexual Fields Theory) (Kap. 3) vor, die es erlaube, „collective sexual life as a particular kind of social life in its own right“ zu verstehen und zu zeigen, wie sexuelle Felder „desire and desirability in a manner irreducible to individual desires alone“ formten (S. 24). Mittels Bourdieus Trias von Feld, Kapital und Habitus und den Konzepten „sexual sites, structure of desire, and sexual circuits“ (S. 27) lasse sich zeigen, dass sich die soziale wie sexuelle Position von Akteuren relativ zum sozialen Raum bestimme und von der jeweiligen Ausstattung mit sexuellem (und sozialem) Kapital abhängig sei, wobei gelte, dass „sexuelles Kapital“ keine Eigenschaft individueller Personen sei, sondern sein Wert von den Bedingungen und Strukturen des Feldes abhänge: „sexual capital is not simply a characteristic of individuals (…) but rather is at once a property of individuals and a property of the sexual field” (S. 28). Umgekehrt ließe sich mittels des feldtheoretischen Ansatzes erkennen, dass Begehren zumindest teilweise ein Effekt des sexuellen Feldes sei, „a product of ecological, social learning, and social psychological processes associated with the field“ (S. 27), und folglich ein sexuelles Feld formend auf das Begehren zurückwirken könne. (Sexuelle) Felder seien nicht zuletzt dadurch charakterisiert, dass auf ihnen Akteure mittels feldspezifischer Praktiken um feldspezifische Gewinne – etwa sexuelle Kontakte und Beziehungen – konkurrierten und dadurch eine stratifizierte feldspezifische (sexuelle) Ordnung (re-)produzierten.

Der anschließende Beitrag „Macro Theory in Sexual Science“ von Ira L. Reiss (Kap. 4) handelt eher von hypothesenüberprüfender quantitativer Sozialforschung als von soziologischer Theorie und segelt insofern unter falscher Flagge. Negativ fällt zudem der „werkautobiografische“ Zugang auf, der sich darin erschöpft, dass der Autor eigene Studien mit den Ergebnissen anderer Autoren abgleicht. Der Effekt ist, dass eine kritische Reflexion der Herangehensweisen, der Methoden und vor allem des theoretischen Anspruchs weitgehend unterbleibt. Zugleich liegt den Ausführungen ein stark verkürztes, auf „Hypothesentesterei“ anhand möglichst großer quantitativer Datenbestände fixiertes Verständnis von „Theorie“ zugrunde. Das Ergebnis sind entweder Theoreme, die so allgemein gehalten sind, dass ihre Aussagekraft hinsichtlich statistisch überprüfbarer Zusammenhänge zwar groß sein mag, ihre soziologische Erklärungskraft aber ebenso gering wie unterkomplex ausfällt. So beispielsweise Reiss’ „Autonomiehypothese“: „Within a modern society the higher the degree of autonomy of an individual or a courtship group, the higher the level of premarital sexual permissiveness“ (S. 47). Der Vorteil derartiger Hypothesen liegt in der leichten Überprüfbarkeit mittels quantitativer Sozialforschung – allerdings ist dies ein methodisches, jedoch kein theoretisches Gütekriterium.

Nur bedingt ins Theoriefach passen die von Laura M. Carpenter vorgestellten Ansätze, die Sexualität(en) aus der Perspektive der Lebenslaufforschung untersuchen (Kap. 5). Allerdings bietet Carpenter eine gelungene und systematische Einführung, die zunächst Grundlagen der Lebenslaufforschung auf dem Gebiet der Sexualforschung darstellt, um anschließend exemplarische Forschungsergebnisse zu präsentieren, wobei sie herausstreicht, dass „a comprehensive framework for studying gendered sexualities over the life course must attend to trajectories, transitions, and turning points in the life course and the cumulative advantages and disadvantages they produce […]“ (S. 68). Neben weiteren Faktoren sei insbesondere das Zusammenwirken von menschlichem Handeln und soziohistorischen Kontexten (S. 70) zu berücksichtigen.

Der Forschungsmethoden gewidmete zweite Teil des Bands stellt quantitative, ethnografische und Beobachtungsmethoden vor. Dass das Feld empirischer Forschungsmethoden damit bei weitem nicht abgedeckt ist, ist offensichtlich; hinzukommt, dass die Art und Weise, in der die vorgestellten Methoden behandelt werden, eigentümlich unausgewogen ist: Während etwa Anthony Paiks Ausführungen über die Minimierung von Stichprobenfehlern (Kap. 6) systematisch verfahren, sich aber auf eine anhand von Beispielen diskutierte Übersicht möglicher Fehlerquellen quantitativer Survey-Forschung beschränken, stellt María Pérez-y-Pérez’ Beitrag „Ethnography in a ‚Sexy Setting‘: Doing Research in a New Zealand Massage Parlour“ (Kap. 7) ethnografische Methoden anhand eines Forschungsprojekts vor. Leider bietet der Beitrag – trotz interessanter Ansätze – nur in sehr eingeschränktem Maße einen Überblick über ethnografische Forschungsmethoden und lässt zudem eingehendere methodische Reflexionen vermissen. Interessant sind hingegen Hinweise auf die Akteur-Netzwerk-Theorie, deren Bedeutung für die ethnografische Forschung freilich genauer auszuarbeiten (und im Theorieteil zu behandeln) wäre.

Der letzte Beitrag des Methodenteils ist Katherine Franks sehr guter und sehr gut strukturierter Überblicksartikel über „Observational Methods in Sexuality Research“ (Kap. 8), der mit seinem ausgewogenen Verhältnis von allgemeinen Überlegungen und Beispielen aus der Feldpraxis sowie praktischen Hinweisen bespielhaft für die Beiträge des Methodenteils hätte sein können.

Sowohl der Theorie- als auch der Methodenteil zeichnen sich in erster Linie durch eklatante Lücken sowie fehlende Systematik aus: Während eine Beschränkung auf ausgewählte Theorien respektive Methoden für Einzelstudien naheliegt, ist sie für ein Handbuch zumindest fragwürdig. So werden willkürlich zahlreiche und gerade auch zukunftsträchtige theoretische wie methodische Ansätze ausgelassen, die zumindest in Überblickskapiteln zu skizzieren wären. Man denke etwa an Systemtheorie, Rational Choice und Kritische Theorie einerseits, Bild- und Videoanalyse sowie Methoden der webbasierten Sexualforschung andererseits. Auch sollte ein sexualsoziologisches Handbuch Gelegenheit bieten, (neuere) soziologische Theorien und Methoden, die bisher in der Sexualsoziologie noch keine (große) Rolle spielen, vorzustellen und auf ihre Potentiale für eine soziologische Analyse des Sexuellen zu befragen (wie dies geht, führt Green – s. o. – anhand Bourdieus Feldtheorie vor).

Angesichts der Tatsache, dass die „klassische“ (Sexual-)Soziologie mitunter dazu neigt, körperliche Aspekte des Sexuellen zu vernachlässigen, ist positiv hervorzuheben, dass sich der dritte Teil des Bandes explizit dem Themenkomplex „Körper und Sexualität“ zuwendet. Freilich bewegen sich die Beiträge weder durchgehend auf der Höhe der zeitgenössischen Körpersoziologie, noch sind sie für die soziologische Analyse körperlicher Aspekte des Sexuellen durchweg einschlägig. Breanne Fahs und Eric Swanks Kapitel „Unpacking Sexual Embodiment and Embodied Resistance“ (Kap. 9) befasst sich mit Fragen der Verkörperung, jedoch kaum mit sexuellen Praktiken, d. h. verkörperten sexuellen Interaktionen, sondern bietet stattdessen einen eher oberflächlichen kursorischen Überblick. Amanda M. Jungels und Alexis A. Benders Beitrag „Missing Intersections: Contemporary Examinations of Sexuality and Disability“ (Kap. 10) bietet einen Überblick, der freilich, abgesehen davon, dass er von behinderten Körpern handelt, kaum explizite Bezüge zur Körpersoziologie aufweist. Im dritten Körperkapitel, das sich größtenteils in Aufzählungen derart, dass manche Leute möglicherweise dies tun würden, andere hingegen jenes, erschöpft, widmen sich Aaron H.Devor und Kimi Dominic, deren Ausführungen zudem mehr um Identitäten als um Sexualität bzw. sexuelle Praktiken kreisen, Trans*Sexualitäten (Kap. 11). Als bemerkenswert fällt dabei – wie auch in anderen Beiträgen – die Abwesenheit körpersoziologischer Bezüge auf.

Der vierte und der fünfte Teil des Bandes decken eine Reihe von sexualsoziologischen Themenfeldern ab. Die Themen des vierten Teils („Sexualities in Social Context“) reichen von Gelegenheitssex über nicht-monogame Sexualitäten, Sexualität in Langzeitbeziehungen, Intersektionalität, Asexualität bis zu zwei Beiträgen zum Verhältnis von Sexualität und Urbanität, während der fünfte Teil („Sexualites in Institutional Context“) Beiträge zum Wandel der Familie und ihren sexuellen wie reproduktiven Praktiken, dem Verhältnis von Religion und Sexualität bzw. Sexual Health, schulischer Sexualerziehung, Sexarbeit, Pornografie, der Medikalisierung des Sexuellen und schließlich zum Verhältnis von Sexualität und sozialen Bewegungen umfasst. Bereits bei kursorischer Durchsicht fallen jedoch eine Reihe bedeutender Themen auf, die nicht (oder nur am Rande) behandelt werden, etwa: Solosex, Jugendsexualität, Cybersex, nicht-urbane Sexualität(en) u.v.m. Außerdem ist trotz aller Heterogenität den meisten Beiträgen gemeinsam, dass sie einerseits größtenteils auf US-amerikanische Kontexte, Probleme, Debatten, Fetische und Phobien fixiert bleiben und sich andererseits recht häufig auf die Darstellung empirischer Forschungsergebnisse beschränken, ohne diese soziologisch zu reflektieren. So springt bereits im ersten Beitrag des vierten Teils ins Auge, dass die Autoren und Autorinnen – Justin R. Garcia, Susan M. Seibold-Simpson, Sean G. Massey und Ann M. Merriwether (Kap. 12) – Forschungen zu Gelegenheitssex darstellen, ohne explizit nach dessen sozialen Funktionen zu fragen. Am interessantesten ist der Beitrag an der Stelle, wo strukturelle Rahmenbedingungen – hier vor allem der soziale Kontext der US-amerikanischen Colleges – thematisiert werden. Die Forschung habe herausgefunden, dass „a variety of factors may influence these sexual patterns, including motivation, campus climate, partner pressure and alcohol use“ (S. 217). Hinzu komme, dass im Vergleich zu früheren Zeiten „many emerging adults, especially on college campuses, have time, opportunity, and socially-constructed environments to engage in casual sex“ (S. 206). Es spielen m.a.W. genau jene Faktoren eine zentrale Rolle, die man ohnehin vermutet hätte. Interessanter erscheint hingegen die Überlegung, dass „one of the more novel aspects of casual sex today […] the shifting relationship between dating and courtship practices“ sei, „including apparently, that casual sex is sometimes a courtship practice in and of itself“ (S. 205). Allerdings schließt sich hier die Frage an, ob dies auch für andere Lebensphasen bzw. -räume als das Collegeleben gilt. Ungestellt bleibt auch die Frage, ob Gelegenheitssex Seitensprüngen vergleichbar ist. Überhaupt fehlt es an Vergleichen zu anderen Sexualformen/-praktiken jenseits fester Paarbeziehungen.

Das 13. Kapitel über konsensuelle nicht-monogame Beziehungen in industrialisierten Ländern von Elisabeth Sheff und Megan M. Tesene bietet einen guten Überblick sowie eine differenzierende und typologisierende Betrachtung verschiedener nicht-monogamer Beziehungsformen und benennt eine Reihe von Forschungslücken. Betont wird vor allem, dass Formen konsensueller Nicht-Monogamie einen geschlechtsneutralen Zugang zu sexueller Vielfalt böten und ihre zunehmende Popularität „a profound shift in attitudes towards monogamy and polygamy“ indiziere (S. 223).

Amy C. Lodge widmet sich Sexualität in Langzeitbeziehungen (Kap. 14) und streicht vor allem heraus, dass mehr theoretisch fundierte Forschung benötigt werde, um zu untersuchen, „how cultural ideas about age shape the experience of sexuality across the life course as individuals ‚do‘ age in their sexual relationships, as well as how cultural ideas around gender, race/ethnicity, and other social statuses intersect with ideas about age to shape the experience of sexuality in unique ways for different groups“ (S. 249 f.). Zu berücksichtigen seien insbesondere geschlechtsspezifische Erfahrungen und Skripte, aber auch die jeweiligen Beziehungsgeschichten. Zudem sei die Vielfalt sexueller Erfahrungen in lang andauernden Beziehungen zu erforschen.

Das 15. Kapitel von Angelique Harris und Susannah Bartlow ist dem Modethema „Intersektionalität“ gewidmet und behandelt Zusammenhänge von „Race, Gender, Sexuality and Class“. Leider findet sich in diesem Beitrag – jenseits von Fragen sexueller Identität – erstaunlich wenig über Sexualität.

Die Erforschung von Asexualität, die Carol Haefner und Rebecca F. Plante in einem Beitrag vorstellen, der das Phänomen differenzierend betrachtet sowie Forschungslücken und -hindernisse benennt (Kap. 16), sei bedeutsam, weil bereits Asexualität sehr grundlegend infrage stelle, was auch sexualwissenschaftlich als normal angesehen werde. Da Asexualität weder mit der Entscheidung, keinen Sex zu haben, noch mit der Unterdrückung sexuellen Begehrens gleichzusetzen sei (S. 282), ist bereits die Definition schwierig. Ist ein Mangel an sexueller Anziehung oder an sexuellem Begehren charakteristisch oder impliziert nicht die Konzeption von Asexualität als Mangel a priori die Annahme, Sexualität wäre das Normale? Notwendig sind folglich Differenzierungen – und die (An-)Erkenntnis, dass „historical versions of asexuality may not be the same as the asexuality/asexualities we see today” (S. 275). Erst vor diesem Hintergrund lasse sich die Frage stellen, ob Asexualität eine Verhaltensweise, Identität oder Form des (Nicht-)Begehrens darstelle (S. 274).

Der Beitrag „Cities and Sexualities“ von Phil Hubbard, Andrew Gorman-Murray und Catherine J. Nash (Kap. 17) bietet einen guten Überblick über Forschungen zum Verhältnis von Urbanität und moderner Sexualität. Freilich leiden die Ausführungen ein wenig daran, dass einerseits phänomenologische Zugänge ausgelassen werden und andererseits ein vergleichender Blick auf Kleinstädte und ländliche Regionen unterbleibt. Positiv ist hingegen hervorzuheben, dass die Autoren die Bedeutung von Räumen für sexuelle Skripte betonen und so sowohl Anschluss an die Stadt- und Raumsoziologie sowie an die Theorie sexueller Felder gewinnen. Das folgende 18. Kapitel – „The Queer Metropolis“ von Amin Ghazini – befasst sich ebenfalls aus stadtsoziologischer Perspektive mit queerer Sexualität (de facto aber primär mit männlicher Homosexualität) und bietet einen guten und sinnvoll organisierten Überblick über die einschlägige Forschung, an dem besonders gefällt, dass er sowohl die Entstehung als auch das derzeit zu beobachtende Verschwinden von gayborhoods unter Berücksichtigung ökologischer, historischer, gemeinschaftlicher, sexueller, ökonomischer und politischer Bedingungen diskutiert.

Der fünfte Teil – „Sexualities in Institutional Context“ – setzt mit einem eher schwachen Beitrag über „The Family in Flux: Changing Sexual and Reproductive Pratices“ von Lauren Jade Martin ein (Kap. 19), der eher (klassische) Familiensoziologie mit Blick auf Sexualität als Sexualsoziologie bietet und dem es an einem naheliegenden ländervergleichenden Blick mangelt, der es ermöglichen würde, zwischen US-spezifischem und für moderne Gesellschaften Charakteristischem zu differenzieren. Die nämliche Kritik trifft auch den Beitrag „Understanding Religious Variations in Sexuality and Sexual Health“ von Amy M. Burdette, Terrence D. Hill und Kyl Myers (Kap. 20), der zudem beinahe ausschließlich mehr oder minder langweilige quantitative Korrelationsstudien vorstellt und – abgesehen von einem Seitenblick auf Afrika – vollkommen auf die USA fixiert bleibt.

Auch das 21. Kapitel über „Sexuality and Education: Toward the Promise of Ambiguity“ von Jessica Fields, Jen Gilbert und Michelle Miller kennzeichnet – selbst wo vereinzelt Seitenblicke auf andere Länder gewagt werden – eine beinahe völlige US-Fixierung. So werden etwa häufig Fragen diskutiert, die in keinem anderen westlichen Land eine Rolle spielen – beispielsweise, ob im schulischen Sexualkundeunterricht sexuelle Enthaltsamkeit als Verhütungsmethode zu empfehlen sei. Ein systematischer Vergleich – insbesondere mit Ländern mit (sexual-)liberaler Tradition – könnte nicht nur den Blick für manche US-amerikanische Eigentümlichkeit schärfen, sondern auch sexualpädagogische Lerneffekte zeitigen.

Susan Deweys Beitrag über Sexarbeit (Kap. 22) bietet einen guten, wenn auch mitunter etwas schematisch verfahrenden, differenzierenden und typologisierenden Überblick über das Themenfeld. „Analysis presented here demonstrates that sex work is not categorically distinct from other forms of gendered social interaction and, in most cases, relies heavily upon the sophisticated cultural referents that inform sexuality, gender roles, and notions of transgression surrounding both“ (S. 407). Ähnlich ist der Beitrag über Pornografie von Kassia R. Wosick (Kap. 23) einzuschätzen, der einen soliden Überblick bietet, der jedoch darunter leidet, dass nichts von außerhalb des anglo-amerikanischen Sprachraums Berücksichtigung findet.

Die Medikalisierung des Sexuellen, die dazu diene, soziale Normen zu schützen, verortet Thea Cacchioni (Kap. 24) zunächst historisch in einem allgemeinen Prozess der Medikalisierung und betont, dass „some key elements run through the medicalization of sexual deviance, reproduction, and sexual functioning […]. Clearly, these instances of medicalization must be contextualized within a broader socio-political context.“ Allerdings sei hervorzuheben, dass „sexual and reproductive medicalization clearly affects different groups in different ways.“ Ein besonderes Augenmerk müsse künftige Forschung darauf richten, dass „the bodies, lives, and concerns of middle and upper class people with purchasing power will be increasingly (bio)medicalized”, da die Pharmaindustrie in Bereich sexueller Gesundheit eine zunehmende Rolle spiele. Zwar sei sich die (kritische) Diskussion recht einig, dass die Medizin durch die Medikalisierung des Sexuellen ihre Grenzen überschreite (S. 449); bedeutender sei jedoch die Frage, wie Medikalisierung als ein Prozess „that offers empowering possibilities” zu deuten sei, ohne auf “the simplistic rubric of individual ‘choice‘ as promoted by many pro-medicalization figures“ zurückzugreifen (S. 450).

Im 25. Kapitel behandeln Amy L. Stone und Jill D. Weinberg schließlich das Verhältnis von Sexualität, sexuellem Wandel und sozialen Bewegungen. Wiederum fällt die Fixierung auf den US-amerikanischen Kontext negativ auf – gerade bei diesem wichtigen Thema wäre ein internationaler Vergleich zwingend erforderlich, da nur ein solcher es erlaubt, das Thema in prinzipieller und theoretisch gehaltvoller Weise anzugehen. Viel zu kurz kommt leider auch das Zusammenspiel von allgemeinem sozialstrukturellem Wandel, sexuellem Wandel und sozialen Bewegungen, so dass das Thema letztlich verschenkt wird.

Abgesehen vom geradezu obszönen Preis des Bandes sind die bereits bemängelte Unvollständigkeit des Theorie- wie des Methodenteils und die Auslassung wichtiger Themenfelder zu kritisieren. Und – last but not least – erzeugt die extreme Fixierung auf US-amerikanische Kontexte, Fragen und Debatten allzu oft den Eindruck, es gebe außerhalb des anglo-amerikanischen Sprachraums weder andere Sexualkulturen (respektive Sexualitäten) noch relevante Sexualforschung. Da mithin keine vergleichende Perspektive eingenommen wird, kann auch nicht systematisch zwischen lediglich US-spezifischen und für spätmoderne sexuelle Verhältnisse charakteristischen Phänomenen unterschieden werden (was für soziologische Ansätze überaus misslich ist). Aufgrund der genannten Mängel kann der Band – trotz einiger interessanter Beiträge – nicht den Ansprüchen gerecht werden, die man an ein Handbuch der Sexualsoziologie stellen sollte. Somit ist er als solches nur bedingt geeignet, sodass es weiterhin mehr wartende Hände als brauchbare sexualsoziologische Handbücher gibt.

Sven Lewandowski (Würzburg)