Z Sex Forsch 2016; 29(04): 327-330
DOI: 10.1055/s-0042-120069
40 Jahre Foucaults „Sexualität und Wahrheit“
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Wissen Wollen

Michel Foucaults „Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen“
Sabine Hark
a   Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung (ZIFG), Technische Universität Berlin
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Publication History

Publication Date:
22 February 2017 (online)

Ein handschriftlicher Eintrag auf dem Vorsatzblatt, „Sabine, November 1984“, verrät untrüglich, wann ich mein bis heute einziges Exemplar von „Sexualität und Wahrheit I. Der Wille zum Wissen“ (deutsche Erstauflage 1977) erwarb. Foucault war nur wenige Monate zuvor, im Juni desselben Jahres, in Paris an den Folgen von Aids verstorben – was ich vielleicht wahrgenommen hatte, vielleicht aber auch nicht. Eine Erinnerung daran hat mein Gedächtnis jedenfalls nicht aufbewahrt. Auch ohne Eintrag erinnere ich freilich, wo ich das Buch erstand. Die „Gutenberg-Buchhandlung Dr. Kohl“ befand sich seit der Neugründung der Mainzer Universität durch die französische Militärregierung im Jahr 1946 in den Eingangskolonnaden des Campus. Der kasernenartige Charakter des Universitätsvorplatzes und der zentralen Universitätsgebäude war auch in den frühen 1980er-Jahren noch deutlich spür- und erkennbar – die französische Militärverwaltung hatte die Universität in einer 1938 von den Nationalsozialisten erbauten Luftwaffenkaserne untergebracht. Ich war kurz zuvor nach fünf Semestern Magister-Studium der Politikwissenschaft, der Soziologie und der Pädagogik in Mainz an die Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main in den Diplomstudiengang Soziologie gewechselt – und ich war auf der Suche. Nach neuen, anderen Perspektiven als jenen, die das Studium in Mainz mir bis dahin in Lehrveranstaltungen wie „Das Museumspublikum als Teil des Kunstpublikums“ oder auch „Die praktische Wissenschaft bei Aristoteles“ angeboten hatte und in denen der Autor Foucault nicht vorkam. Nach neuen, anderen Fragen, die mich im Studium halten würden. Vielleicht war ich aber auch einfach nur auf der Suche nach mir selbst.

Geschlecht und Geschlechterverhältnisse waren als Themen noch kaum am Mainzer akademischen Horizont aufgetaucht. Dass Sexualität ein sozialwissenschaftlicher Gegenstand sein könnte, war außerhalb des Denkbaren und feministische Perspektiven hatten im Grunde akademisch keine Chance. Das studentische Leben auf dem Campus war noch stark von auch schlagenden Burschenschaften geprägt, die sich regelmäßig kleine Scharmützel mit uns wenigen Feminist*innen aus dem autonomen Frauenreferat des AStA lieferten und im studentischen Parlament sahen wir uns den Anfeindungen nicht nur der Vertreter*innen des RCDS ausgesetzt. Wir reagierten mit einem Misstrauensantrag gegen das Patriarchat, für das wir stellvertretend das Studierendenparlament nahmen. Im Studium hatte ich mit einer Freundin ein Theorie-Seminar „Methodologischer Individualismus als Theorieprogramm“ unter schriftlich formuliertem Protest verlassen und in einem familiensoziologischen Seminar zu „Interaktionen in der Familie“ war meine Hausarbeit über das Thema „Die sanfte Macht der Familie oder: Was hat Mütterlichkeit mit Patriarchat zu tun“ vom Dozenten mit einem „ausreichend“ abgestraft worden.

In Frankfurt sollte mir Foucault dann bald als Autor begegnen, der auch im Studium gelesen wurde. Zwar dominierte dort zu jener Zeit noch die Kritische Theorie, sowohl in ihrer klassischen Gestalt, dem Werk von Adorno, Horkheimer und Marcuse, als auch in der reformulierten Fassung von Jürgen Habermas, dessen 1981 erschienenes zweibändiges Werk „Theorie des kommunikativen Handelns“ die Studierenden und die Seminare in Anhänger*innen und Gegner*innen teilte. Habermas hatte Foucault zudem scharf kritisiert. Sein Werk sei normativ beliebig und zu selbstbezüglich; er überschätze die Macht und unterschätze die Wahrheit. Doch Foucaults Schriften zirkulierten, wenn auch oft noch als gleichsam intellektuelle Bückware. Ein Hauch von Verwegenheit wehte durch jene Seminare, in denen Foucault auf der Leseliste stand. Claudia Honegger hatte ihn aus Paris mitgebracht. Sie hatte mehrere seiner Vorlesungen gehört, erste Aufsätze über ihn publiziert. In einer gemeinsam von ihr mit Heinz Steinert angebotenen Lehrveranstaltung im Sommer 1985 zu „Männerkultur – Frauenkultur“ lasen wir dann auch den „Willen zum Wissen“ (1977). Und ich schrieb in diesem Seminar meine erste Hausarbeit zu einem lesbischen Thema. In einer Arbeitsgruppe bearbeiteten wir das Thema „Die schwule und lesbische Subkultur – Zur Geschichte und Theorie homosexueller Subkulturen“.

Von alldem wusste ich freilich nichts im Herbst 1984, als ich Foucaults schmales, nicht einmal 200 Seiten starkes Buch zum ersten Mal in der Hand hielt. Es war nicht der Name Foucault, der mich angesprochen hatte, es war der Titel, der mich motiviert hatte, das Buch zu kaufen: „Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen“. Eher intuitiv als wissend ahnte ich, dass ich hier die Fragen und vielleicht sogar Antworten finden würde, nach denen ich gesucht hatte. Wissen wollte ich jedenfalls von klein auf, wenngleich mir schon lange vage bewusst war, dass das Wissen-Wollen vielleicht weniger unschuldig ist, als mir lieb war. Und dass Sexualität und Wahrheit auf zugleich peinliche wie peinvolle Weise verknüpft sind, hatte ich spätestens im katholischen Kommunionsunterricht, in dem wir auf die erste Beichte vorbereitet wurden, gelernt. Wie sehr indes das bereits im Titel „Der Wille zum Wissen“ aufscheinende Theorieprogramm mein eigenes Denken vermutlich mehr als alles andere prägen würde, war in jenem Herbst 1984 jedenfalls nicht einmal in Umrissen vorhersehbar. Schließlich war auch längst noch nicht ausgemacht, dass ich ein akademisches Leben führen würde. Und von Queer Theory konnte Mitte der 1980er-Jahre noch niemand auch nur träumen.

Doch es ist genau die von Foucault in diesem Buch wie vielleicht insgesamt in seinem Werk zentral verhandelte Frage des Zusammenhangs von Macht, Wissen und Sein, die bis heute im Zentrum (nicht nur) meines Denkens steht, und die, bezogen auf Sexualität, Foucault gleich auf der ersten Seite im Vorwort zur deutschen Ausgabe wie folgt skizziert: „[W]ie sind diese [sexuellen – S.H.] Verhaltensweisen zu Wissensobjekten geworden? Auf welchen Wegen und aus welchen Gründen hat sich der Erkenntnisbereich organisiert, den man mit dem relativ neuen Wort ‚Sexualität‘ umschreibt? Es handelt sich hier um das Werden eines Wissens, das wir an seiner Wurzel fassen möchten: in den religiösen Institutionen, in den pädagogischen Maßnahmen, in den medizinischen Praktiken, in den Familienstrukturen, in denen es sich formiert hat, aber auch in den Zwangswirkungen, die es auf die Individuen ausgeübt hat, sobald man sie davon überzeugte, sie hätten in sich selber die geheime und gefährliche Kraft einer ‚Sexualität‘ zu entdecken“ (Foucault 1977: 7). Gegen die inzwischen vielfach und wohl zu Recht auch kritisch diskutierte „Repressionshypothese“, die besage, dass die bürgerliche Gesellschaft die Sexualität unterdrücke, tabuisiere und zu verhindern suche, Sexualität also hinter einer Geschichte der Verbote und Tabus tatsächlich zu finden wäre, richtete sich Foucaults Interesse darauf zu zeigen, wie im Zusammenwirken von Wissen und Macht Sexualität historisch gebildet wurde (ebd.: 20f).

Sexualität – und das war in der Tat für mich und viele andere damals neu, aufregend und das Denken freisetzend – ist für Foucault mithin ein historisches Konstrukt, kein fundierender biologischer Referent. „Sexualität“, so Foucault entschieden, sei „der Name, den man einem geschichtlichen Dispositiv geben“ könne, „keine zugrundeliegende Realität, die nur schwer zu erfassen ist, sondern ein großes Oberflächennetz, auf dem sich die Stimulierung der Körper, die Intensivierung der Lüste, die Anreizung zum Diskurs, die Formierung der Erkenntnisse, die Verstärkung der Kontrollen und Widerstände in einigen großen Wissens- und Machtstrategien miteinander verketten“ (ebd.: 128). Und wenn das für die Sexualität gilt, warum dann nicht auch für Geschlecht – womit Foucault sich allerdings erstaunlich wenig auseinandergesetzt hat? Dass wir heute Geschlechterforschung als kritische Ontologie der Gegenwart begreifen, dass wir danach fragen können, wie Geschlecht als Gegenstand des Wissens und des Tuns sowie Geschlecht als Verkörperung dessen, was wir innerhalb einer gegebenen Wissensordnung sind und sein können, zusammenhängen, dass wir also Wissen als Teil unserer Ontologie verstehen können, verdanken wir dennoch ganz wesentlich Foucaults unbändigem Willen zum Wissen.

Foucault hat uns damit bei allen Begrenzungen, die wir mit dem Abstand von 40 Jahren in seinem Projekt auch erkennen können, ein Theorieprogramm hinterlassen, das es mir nicht nur erlaubte, den im Kommunionunterricht erlebten Zusammenhang von Sexualität und Wahrheit besser zu verstehen – und zudem eine um Längen überzeugendere Alternative zum Theorieprogramm des methodologischen Individualismus darstellt. Er hat uns auch ein Programm hinterlassen, das es erlaubt, Macht und Freiheit im selben Atemzug denken zu können. Denn sein Denken ermöglicht es uns nicht nur zu verstehen, wie wir, wie er selbst an anderer Stelle formuliert hat, „zu Gefangenen unserer eigenen Geschichte geworden sind“ (Foucault 2005: 273), es eröffnet zugleich durch die historisch-kritische Infragestellung unserer Existenz – eine Infragestellung, die abhebt von den kontingenten Umständen, die das aus uns gemacht haben, was wir tun, denken und was wir sind – die Chance, nicht länger das zu sein und zu tun, was wir sind. Und genau dies scheint mir noch immer die vornehmste Aufgabe von Kritik zu sein: Denn insofern die machtbedingten Grenzen des Wissens auch Grenzen des Seins darstellen, es Wissen ist, das die Grenzen bestimmt, innerhalb derer wir uns haben begreifen können und haben begreifen lassen, das bestimmt, was lebbar ist, wie wir unsere Körper, unsere Erfahrungen, unsere Identitäten, unser In-der-Welt-Sein begreifen können, gilt es, genau an diesen Grenzen zu arbeiten – um sie zu überschreiten.