Z Sex Forsch 2016; 29(02): 170-175
DOI: 10.1055/s-0042-108003
Debatte
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Flibanserin: Offene Forschungsfragen[1]

Stephen B. Levine
a   Center for Marital and Sexual Health, Beachwood, Ohio/USA
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Publication Date:
23 June 2016 (online)

Bis August 2015 gab es kein von der US-amerikanischen Behörde für Lebensmittel- und Arzneimittelsicherheit (Food and Drug Administration, FDA) zugelassenes Medikament für Frauen, die unter dem offenbar verbreiteten Problem verminderten sexuellen Verlangens in festen Beziehungen leiden. Bedenken gegen eine Medikalisierung von Sexualität gibt es schon lange. Besonders kontrovers diskutiert wurden diese, nachdem die FDA im Oktober 2010 die Zulassung von Flibanserin zunächst mit der Begründung abgelehnt hatte, dass die Daten aus den klinischen Studien eine solche nicht rechtfertigten. Die fachliche Diskussion erreichte dann im Oktober 2014 bei der FDA-Anhörung zur Bewertung der sexuellen Reaktionen der Frauen in den klinischen Flibanserin-Studien ihren Höhepunkt und wird in den Medien unter Beteiligung verschiedener Interessengruppen seitdem fortgesetzt.

Das Pharmaunternehmen Boehringer-Ingelheim, das drei Studien mit Flibanserin durchgeführt hatte, verkaufte die Produktrechte nach der ersten einstimmigen Ablehnung der Zulassung durch die FDA an das Privatunternehmen Sprout Pharmaceuticals. Sprout reichte den Zulassungsantrag erneut ein und scheiterte damit ebenfalls. Daraufhin ließ sich das Unternehmen im Jahr 2013 von der FDA beraten, welche Studien zusätzlich notwendig wären. Im Juni 2015 erkannte ein Beraterausschuss Flibanserin als wirksam an, das sexuelle Verlangen zu steigern und die Anzahl der befriedigenden sexuellen Erlebnisse zu erhöhen, und stimmte mit 18:6 für die Zulassung. Sofort nach der Zulassung erwarb Valeant Pharmaceuticals den Hersteller Sprout für ungefähr eine Milliarde US-Dollar. Manche halten dies für eine Erfolgsgeschichte.

Diejenigen, die Arzneimittel entwickeln, klinische Studien durchführen oder der Öffentlichkeit nach der Zulassung die Anwendung eines Produkts erklären, werden zutreffenderweise als Vertreter wirtschaftlicher Interessen in Bezug auf das jeweilige Produkt angesehen. Die Fachwelt und die Allgemeinheit fragen sich natürlich, inwieweit die Beteiligung an dem mühsamen Prozess, ein Arzneimittel auf den Markt zu bringen, die Bewertung desselben unangemessen beeinflusst. Interessenvertreter aus der Wirtschaft argumentieren dagegen mit objektiven Fakten und politischen Empfindlichkeiten.

Für diejenigen Skeptiker, die die Förderung und die Akzeptanz von Flibanserin kritisch betrachten, ist die Flibanserin-Zulassung ein haarsträubender Fall, in dem die Risiko-Nutzen-Abwägung durch eine organisierte PR-Kampagne subversiv beeinflusst wurde. Sie befürchten, dass Flibanserin bestenfalls die Erwartungen der Patientinnen enttäuscht und schlimmstenfalls ihr Wohlbefinden gefährdet. Viele dieser Kritiker glauben, dass ein geringes sexuelles Verlangen eher Ausdruck der zu wenig untersuchten normalen Komplexität von Lebensvorgängen ist als eine Krankheit.

Beide Seiten sprechen über Frauen, als ob diese als einheitliche Gruppe entweder unter einem nicht definierten Problem im Gehirn oder unter einem definierten psychosozialen Problem litten. Die Positionen in der Flibanserin-Kontroverse werden vehementer vertreten, ähneln aber denen vor der Einführung von Viagra, als es darum ging, ob die erektile Dysfunktion bei körperlich gesunden Männern in den meisten Fällen psychogen oder organisch bedingt sei. Viagra und das Educational Marketing dafür basierten jedoch auf der offensichtlichen Wirksamkeit von Sildenafil (ca. 82 %) im Vergleich mit Placebo (ca. 24 %). Viele Meinungsführer postulieren, dass eine erektile Dysfunktion mit einer kleinen Blutgefäßstörung im Penis beginnt, mit einem PDE-5-Inhibitor behandelt werden kann und kein ausreichend praktischer oder kosteneffizienter Grund ist, um das Gefühlsleben eines Mannes zu erforschen. Das Marketing für diese Arzneimittel hat den Eindruck erweckt, dass üblicherweise kein Psychotherapeut einbezogen werden muss. Dies findet bei vielen Patienten Anklang. Diverse kontroverse Diskussionen über die Behandlung von sexuellen Problemen zeigen, dass Interessenvertreter den Forschungsstand jeweils so interpretieren, wie es ihren jeweiligen politischen Ideologien, ökonomischen Interessen oder Kompetenzen nutzt. Die Sorge in Bezug auf Flibanserin ist, dass Ärzte nicht die Zeit, das Interesse oder die Fähigkeiten haben, die Pathogenese des verringerten sexuellen Verlangens bei Frauen aufzuklären.

Im Vergleich zur Placebogruppe kam es in jeder der klinischen Flibanserin-Studien zu einem zusätzlichen befriedigenden sexuellen Erlebnis (Geschlechtsverkehr, Oralverkehr, Masturbation oder Stimulation der Genitalien durch den Partner) gegenüber dem Ausgangswert im letzten Monat der Studie. In zwei der drei klinischen Studien wies das durchschnittliche tägliche sexuelle Verlangen, das in einem elektronischen Tagebuch dokumentiert wurde, im letzten Monat der Studie keinen signifikanten Unterschied zwischen den Gruppen auf. In der dritten Studie wurde kein elektronisches Tagebuch verwendet. In allen drei Studien wurden ein statistisch signifikant verbesserter Punktwert für das Verlangen gegenüber dem vorhergehenden Monat, gemessen mit zwei Items des Female Sexual Function Index (FSFI), sowie eine signifikante Verringerung des Leidensdrucks in Woche 24 festgestellt. Sprout führte noch eine vierte Studie durch, die eine Zunahme von 0,5 befriedigenden sexuellen Ereignissen sowie eine Zunahme bei der Bewertung der beiden FSFI-Items von 0,3 zeigte. Wenn in den ursprünglichen drei Studien die Anzahl der befriedigenden sexuellen Erlebnisse bei denjenigen Frauen, die sich selbst als sehr stark oder stark verbessert eingeschätzt hatten, in der Flibanserin- und in der Placebogruppe verglichen wurden, ergaben sich 29 – 39 % vs. 21 – 31 % (Unterschied von 8 – 9 %). Bei der Auswertung der Fragen zum sexuellen Verlangen ergaben sich 43 – 48 % vs. 31 – 38 % (Unterschied von 10 – 12 %) und bei Verwendung der Leidensdruck-Skala betrugen die Ergebnisse 21 – 34 % vs. 14 – 25 % (Unterschied von 7 – 9 %).

Nun steht Ärzten also mit Flibanserin ein täglich einzunehmendes SSRI (selektives Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) Arzneimittel zur Verfügung, dessen Wirkung frühestens nach 30 Tagen einsetzt. Patientinnen werden angehalten, das Medikament acht Wochen lang einzunehmen, bevor sie einen Nutzen ausschließen. Im positiven Fall kann Flibanserin das Lustempfinden in den Genitalien (entweder spontan oder als Reaktion auf Vorspiel) steigern, zu vermehrter Masturbation, erotischen Fantasien, sexueller Initiative oder sexueller Reaktionsfähigkeit mit stärkerer Erregung bis zum Orgasmus (wenn zuvor schon Orgasmen aufgetreten sind) führen. Ungefähr 10 % der Patientinnen müssen mit einer der folgenden Nebenwirkungen rechnen: Schläfrigkeit, Müdigkeit, Schwindel oder Übelkeit. Das Arzneimittel darf nicht mit Alkohol eingenommen werden, um einen gefährlich niedrigen Blutdruck und Ohnmacht zu vermeiden. Ärzte und Apotheker müssen sehr sorgfältig prüfen, dass keines von ungefähr 25 Arzneimitteln, die CYP3A4 oder CYP2C19 stark hemmen, gleichzeitig verabreicht wird (orale Kontrazeptiva sind schwache CYP3A4- Inhibitoren). Die Patientinnen müssen eine normale Leberfunktion haben. Die verordnenden Ärzte können davon ausgehen, dass ungefähr 45 % der fachgerecht diagnostizierten Frauen einen Nutzen des Medikaments feststellen, wenn es ordnungsgemäß eingenommen wird. Manche dieser Frauen werden Placebo-Responder sein.

Bei sexualwissenschaftlichen Fachzeitschriften werden in den kommenden Jahren vermutlich verstärkt Manuskripte zu einigen der folgenden offenen Forschungsfragen eingereicht werden:

  1. Entsprechen die Verbesserungsraten bei den Frauen, die das Medikament regelmäßig einnehmen, den Daten aus den klinischen Studien? Die Erfahrung mit zugelassenen Arzneimitteln lehrt, dass Effekte in der Anwendungspraxis geringer ausfallen als in klinischen Studien.

  2. Verhält sich die Mehrheit der Frauen, die die Einnahme von Flibanserin beginnen, acht Wochen lang kooperativ (69 % der Patientinnen schlossen die 24-wöchigen Studien ab; 13 % gaben an, die Teilnahme aufgrund von Nebenwirkungen abgebrochen zu haben)?

  3. Wie lange bleiben die positiven Ergebnisse erhalten? Mit 738 Respondern am Ende der Zulassungsstudie, die randomisiert zu Placebo oder Flibanserin zugeordnet wurden und die Studie weitere 24 Wochen fortsetzten, war die Flibanseringruppe bei allen Parametern überlegen (Goldfischer et al. 2011). In einer separaten offenen Erweiterungsstudie über 52 Wochen mit 962 Frauen bildete sich die sexuelle Funktionsstörung bei 42 % der Frauen zurück, die zuvor nicht angesprochen hatten (Non-Remitter), und bei 90 % der Frauen, bei denen sich die sexuelle Funktionsstörung zuvor zurückgebildet hatte (Remitter), blieb der verbesserte Zustand erhalten (Jayne et al. 2012).

  4. Halten die Verbesserungen an, wenn das Medikament abgesetzt wird? Dies ist bislang nicht bekannt.

  5. Wird allein die Bereitschaft, dieses Medikament einzunehmen, die Dynamik der Paarbeziehung verändern und sofort oder später zu einer Verbesserung oder Verschlechterung des Sexuallebens führen? Sowohl Placebo- als auch Nocebo-Effekte der Mitwirkung und des Medikaments können auftreten.

  6. Werden die Spezialisten für sexuelle Funktionsstörungen, von denen die meisten keine Arzneimittel verschreiben dürfen, eine Möglichkeit finden, Flibanserin zu empfehlen und einzusetzen? Obwohl dies den Rahmen ihrer Zulassung überschreitet, können sie das Arzneimittel durch einen Arzt verschreiben lassen und die klinische Überwachung selbst durchführen.

  7. Werden Gynäkologen und Hausärzte Flibanserin so unkritisch verschreiben wie Ärzte PDE-5-Inhibitoren verschreiben? Pfizer hat viel Geld in die entsprechende Fortbildung der Ärzte investiert; einige würden den Erfolg dieser Maßnahme aber als gering bezeichnen.

  8. Werden die Flibanserin verschreibenden Ärzte mehrheitlich die Anforderung der FDA erfüllen und an dem Online-Kurs zur Risikomanagementstrategie (Risk Evaluation und Mitigation Strategy, REMS) teilnehmen, um dieses Medikament verordnen zu können? Vor dem Hintergrund, dass Ärzte andere viel gefährlichere Arzneimittel ohne zusätzliche Zertifizierung verschreiben können, sehen einige dies als Diskriminierung von Frauen und Ärzten. PDE-5-Inhibitoren, für die kein entsprechender Kurs nötig ist, können beispielsweise zusammen mit bestimmten Begleitmedikamenten eine gefährliche Hypotonie hervorrufen.

  9. Wird die Tatsache, dass Flibanserin nicht zusammen mit Alkohol eingenommen werden darf, den Nutzen des Produkts verringern? Das Medikament wird nicht nur Frauen verschrieben werden, die denen in den Zulassungsstudien ähnlich sind; und einige von ihnen werden Alkohol konsumieren.

Das sexuelle Verlangen ist ein grundlegender Bestandteil der menschlichen Sexualität. Kein sexuelles Thema kann ohne Bezug zu ihm diskutiert werden. Das Verlangen ist eng mit der psychischen und biologischen Entwicklung, der Entstehung und Weiterentwicklung von Beziehungen bei Jugendlichen und Erwachsenen, mit Krankheitserfahrung und dem Altern verbunden. Es wird durch das biologische Geschlecht und die Kultur erheblich beeinflusst. Es lassen sich kaum wesentliche Aspekte des privaten und öffentlichen Lebens benennen, die für das sexuelle Verlangen belanglos wären. Menschen in den Bereichen der Kunst, Literatur und Psychologie, des Geschäftslebens, der Erziehung, des Rechtswesens, der Religion, Philosophie, Medizin und der Psychotherapie sowie die pharmazeutische Industrie haben alle ihre eigenen Interessen an den bekannten Launen des sexuellen Verlangens. Die Rolle des sexuellen Verlangens in der Kultur ist allerdings eine andere als in der ergebnisorientierten Welt der Medizin und Psychotherapie.

Nachdem das sexuelle Verlangen mehr als 80 Jahre lang in der Psychotherapie etwas diffus als Libido bezeichnet wurde, entwickelte man 1980 eine Diagnose für das Fehlen von Verlangen. Mit der „Hypoaktiven Sexualfunktionsstörung“ (Hypoactive Sexual Desire Disorder, kurz HSDD) wurden vor allem Frauen diagnostiziert, weil bei Männern dasselbe Phänomen als „erektile Dysfunktion“ verkannt wurde. Zwar wurde eine Diagnose definiert, jedoch nicht das sexuelle Verlangen selbst. Im DSM-5 wird das Problem bei Frauen jetzt anders benannt und darauf hingewiesen, dass Verlangen und Erregung untrennbar verbunden sind und getrennte Diagnosen bezüglich des Verlangens und der Erregung nicht genau unterschieden werden können. In den Arzneimittelentwicklungsprozessen wurden die verschiedenen Erscheinungsformen des Verlangens zerstückelt und unterteilt, um sie in wissenschaftlichen Untersuchungen messbar zu machen. In der pharmakologischen Forschung qualifizieren sich Versuchspersonen nicht einfach aufgrund ihrer Vorgeschichte, sondern durch Cut-Off-Werte auf Bewertungsskalen.

Als sich zeigte, dass Probleme mit dem sexuellen Verlangen nicht ohne weiteres durch Psychotherapie verbessert werden können, kam die Idee der medikamentösen Behandlung und – untrennbar damit – der biologischen Ätiologie auf. Flibanserin ist das Ergebnis einer pharmakologischen Suche, die mit Sildenafil für Frauen begann und weiter über verschiedene Formen von Testosteron, DHEA und anderen weniger bekannten Substanzen ihren Weg nahm. In 35 Jahren gelangten wir von dem Versuch, das nicht eindeutig zu beschreibende sexuelle Verlangen zu definieren, über die Präzisierung der Diagnose einer seiner problematischen Ausprägungen bis zur Entwicklung eines Medikaments zur Behandlung des Gehirns, in dem bestimmte fehlerhafte chemische Prozesse vermutet werden.

Die klinisch tätigen Fachleute wissen bereits, dass es in diesem Bereich keine einfachen Lösungen gibt. Das liegt daran, dass Störungen des sexuellen Interesses und der Erregung nur ein kleiner Aspekt in einer komplexen Lebenssituation sind. So manche berufliche Laufbahn wird darauf verwendet, die Sexualität zu erforschen, die Nosologie genauer zu definieren, einen Behandlungsansatz festzulegen und die wissenschaftlichen Verfahren der Untersuchung oder die unmittelbare Behandlungspraxis zu verbessern. Jeder von uns kann dazu etwas beitragen, aber wir sollten uns unserer Misserfolge beim Streben nach dem Ideal der Heilkünste – eine Diagnose zu stellen, die zu einer spezifischen Behandlung führt, die das Problem schnell behebt – bewusst sein.

Hoffen wir, dass Flibanserin Frauen und ihren Partnern messbar dabei helfen kann, ein befriedigenderes Intimleben zu führen. Egal, ob sich Flibanserin als ein hilfreiches Medikament erweist oder nicht, es ist in jedem Fall der Beginn neuer Therapieverfahren für Frauen. Die Suche nach pharmakologischen Wirkstoffen wird fortschreiten. Manche werden sich als „Me-Too“-Präparate erweisen und andere werden schrittweise Verbesserungen bedeuten. Ich bin der Ansicht, dass sich die heftige Diskussion über Flibanserin um viel mehr dreht als um dieses spezielle Medikament. Es geht ganz generell darum, ein wirksames und sicheres Arzneimittel für Frauen zu haben. Bleiben Sie dran. Dies ist erst der Anfang.

Hinweis: Dr. Levine war Prüfarzt eines Prüfzentrums in einer der Flibanserin-Studien und ist zurzeit Prüfarzt eines Prüfzentrums einer Bremelanotid-Studie.

1 Dieser Beitrag basiert auf dem englischsprachigen Artikel „Flibanserin“, der zuerst in der Zeitschrift „Archives of Sexual Behavior“ (2015; 44: 2107 – 2109) erschienen ist.