Z Sex Forsch 2016; 29(01): 62-66
DOI: 10.1055/s-0042-102439
Debatte
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Ein kritisches Pro zur Abschaffung der Begutachtungspflicht nach TSG bei Kindern und Jugendlichen

Saskia Fahrenkrug
a   Klinik für Kinder und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf
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Publication Date:
23 March 2016 (online)

In der Hamburger Spezialambulanz für Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie wurden von 2008 bis heute 445 minderjährige Kinder und Jugendliche im Alter von drei bis 18 Jahren gesehen – ein Großteil wurde oder wird in ihrem Entwicklungsprozess über einen Zeitraum von zwei bis vier Jahren begleitet. Nach der entscheidenden Änderung des Transsexuellen-Gesetz (TSG) im Jahr 2011 wurden mit steigender Tendenz Gutachten zur Vornamens- und Personenstandsänderung (VÄ/PÄ) durch die Autorin erstellt (insgesamt 47, davon 19 im Jahr 2015), die, bis auf zwei Fälle von präpubertären Kindern,[1] alle positiv beschieden worden sind. Weitere 38 PatientInnen, die sich bei uns in Behandlung befinden, wurden extern begutachtet, wobei es zu keiner einzigen Ablehnung eines Antrags kam.[2]

In sämtlichen Fällen handelte es sich um Jugendliche im Alter von über 14 Jahren, die sich seit mindestens sechs Monaten in psychotherapeutischer Behandlung durch einen Genderspezialisten befanden, den sozialen Rollenwechsel in allen Lebensbereichen vollzogen hatten und bei denen (mit einer Ausnahme)[3] bereits erste somatomedizinische Behandlungen mit GnrH-Analoga oder gegengeschlechtlichen Hormonen indiziert und umgesetzt worden waren. Dem nachvollziehbaren Wunsch der Jugendlichen, neben der körperlich-sozialen Anerkennung im gefühlten Geschlecht auch die rechtlich-formale Anerkennung zu erhalten, stehen einige entwicklungspsychologische und diagnostische Problembereiche gegenüber, die eine gesonderte Betrachtung notwendig machen.

1) Nicht alle jungen PatientInnen sind an eine/n BehandlerIn oder ein entsprechendes interdisziplinäres Zentrum angebunden, in dem neben einer psychotherapeutischen Begleitung des Prozesses der eigenen Identitätsfindung auch eine ausführliche und spezielle Entwicklungsdiagnostik unter genderspezifischen Aspekten stattfindet. Insofern ist unser Klientel nicht als repräsentativ für das zukünftige Procedere der VÄ/PÄ zu betrachten, da sowohl für die beteiligten Familien, als auch für die entscheidenden Instanzen (Gericht) ein hohes Maß an Sicherheit vor eventuellen oder vorschnellen (Fehl-)Entscheidungen durch die teilweise mehrjährige und multidisziplinäre Begleitung der Familien existiert. Eine externe Begutachtung durch zwei weitere ExpertInnen ist nach unseren Erfahrungen oftmals redundant und stellt vielmehr eine kaum nachvollziehbare Belastung – auch finanzieller Art – für die Familien dar. Die Jugendlichen erleben dieses Procedere teilweise als grundlegende Infragestellung ihrer gelebten Realität – mit allen dazu gehörigen Kränkungen.[4] Allerdings kann weder eine (zwangsläufige) Anbindung an ein Behandlungszentrum, noch die alleinige Entscheidungsbefugnis der betroffenen Kinder und Jugendlichen bzw. derer Eltern als Lösung für Alle betrachtet werden.

2) Eine zweite Besonderheit bemisst sich an dem Dilemma, einerseits auch Kindern und Jugendlichen die Freiheit zur eigenen Entscheidung, zu welchem Geschlecht sie sich zugehörig fühlen, zuzugestehen und andererseits die eingeschränkte rechtliche Fähigkeit selbiger, für sich selber entscheiden zu dürfen und anstelle dessen die Eltern als rechtliche Entscheidungsträger (und Beantragende) einzusetzen, ernst zu nehmen. Neben den inzwischen durch die Hirnforschung bestätigten Annahmen, dass in der Pubertät eine kognitiv-neuronale Umwälzung und Neustrukturierung des Gehirns stattfindet, zeigt sich auch in der klinischen Erfahrung, dass in diesem Zeitraum die Funktion des Denkens, der Reflektion und Antizipation, die Fähigkeiten eigene Impulse zu steuern und zu kontrollieren sowie eigene Affekte wahrzunehmen und zu differenzieren, entwicklungsgemäß in einem Prozess der Umgestaltung ist. Das heißt nicht, einem Kind seine Eigenwahrnehmung abzusprechen, sondern ist Ausdruck einer fürsorglichen Haltung, nicht aus einem aktuell als drängend und dramatisch erlebten Empfinden heraus Entscheidungen für das gesamte weitere Leben zu treffen. Eltern als formale Verantwortungsträger sind natürlich Teil der Familiendynamik, einschließlich eigener Konflikte und transgenerationaler „Aufträge“ an das Kind. Entsprechend muss die Bedeutung von etwaigen Wiedergutmachungswünschen, Schuldgefühlen und Ängsten, gerade angesichts der oft langen Vorgeschichte von transidenten Kindern betrachtet werden.[5] Letzteres muss insbesondere bei sehr jungen Jugendlichen und Kindern berücksichtigt werden, die beispielsweise nicht durch eigenen Wissenserwerb und/ oder eigenen Wunsch formalrechtliche Schritte beantragen. Mit Hilfe von einem „neutralen Dritten“,[6] im Sinne einer triangulierenden Funktion, finden viele Familien erst die Sicherheit, ihr Kind auf seinem/ihrem Weg zu begleiten.

3) Für junge PatientInnen ist die formal-rechtliche Anerkennung der Transidentität nicht selten symbolisch überdeterminiert mit dem drängenden Wunsch nach eigener Anerkennung und stabiler Wertschätzung der gefühlten und gelebten Identität. Nicht wenige erleben die Diskrepanz zwischen einer positiv spiegelnden Umwelt, die ohne Sanktionen oder Ausgrenzung die „neue“ Identität anerkennt und dem eigenen, inneren Blick auf sich selbst, der weitaus kritischer und am Defizit orientiert erscheint. Anders als erwachsene PatientInnen, die sich aufgrund ihres Alters und ihrer Lebenserfahrungen meist bewusst und lange mit ihrem „Anderssein“ auseinandergesetzt haben, kann bei Jugendlichen das Drängen nach rechtlichen Schritten (und medizinischen Maßnahmen) aus einem tiefen und eher normativ orientierten Wunsch nach vollständiger Zugehörigkeit zum gefühlten Geschlecht ohne Diskrepanzen resultieren. Eine damit verbundene mögliche Enttäuschung und die Integration der bleibenden Besonderheit der eigenen Situation, gilt es im Sinne einer realistischen Selbsteinschätzung zu bearbeiten.

4) Das gewichtigste Argument gegen eine Abschaffung der Begutachtungspflicht bei Kindern und Jugendlichen liegt in unserem bisher fehlenden Wissen über Zeitstabilität und Verlaufsentwicklung bei sehr jungen Kindern mit Geschlechtsdysphorie (vgl. Korte et al. 2008). In den wenigen Studien zum Verlauf (vgl. Becker et al. 2013; Möller et al. 2014) wird von 16 % bis 37 % persistierender Geschlechtsdysphorie in der Adoleszenz berichtet. Der wesentlich größere Teil der jüngeren Kinder findet demnach andere Wege, als einen kompletten Rollenwechsel und ein Leben im anderen Geschlecht im Jugendalter. Der entscheidende Zeitraum für das mögliche Persistieren der Geschlechtsdysphorie liegt kurz vor und zu Beginn der Pubertät im Alter zwischen zehn und 13 Jahren (Steensma et al. 2011, 2013). Auch wenn diese Zahlen u. U. nicht auf das deutsche Klientel in den spezialisierten Zentren übertragbar sind, verbietet sich damit eine autonome Selbstbestimmung in der Einleitung formal-rechtlicher Schritte vor dem Erreichen der Pubertät. Die Hürde, im Falle einer Fehlentscheidung wieder den Weg in das biologische Geschlecht zurückzufinden, wäre in der Tat hoch und widerspricht dem Grundsatz, möglichst lange Entwicklungsfreiheit und -räume zu schaffen (Steensma und Cohen-Kettenis 2011), anstatt eine frühe Festlegung eines möglicherweise zu binär gedachten Geschlechterkonzepts zu fördern.