Z Sex Forsch 2014; 27(1): 1-3
DOI: 10.1055/s-0034-1366122
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Leitlinienentwicklung Geschlechtsdysphorie

Bernhard Strauß
a   Institut für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie, Klinikum der Friedrich-Schiller-Universität Jena
,
Timo O. Nieder
b   Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
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Publication Date:
25 March 2014 (online)

Die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung (DGfS) hat im Mail 2011 einen Prozess initiiert, an dessen Ende eine von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) anerkannte Leitlinie zur Diagnostik, Beratung und Behandlung der Geschlechtsdysphorie vorliegen soll. Dieser Prozess ist Anlass für das vorliegende Schwerpunktheft der Zeitschrift für Sexualforschung.

Mit der 5. Revision des Diagnostic and Statistical Manual for Mental Disorders (DSM, APA 2013), des Klassifikationssystems der American Psychiatric Association (APA), ist der Begriff der Geschlechtsidentitätsstörung (Gender Identity Disorder) aus dem Diagnosekatalog verschwunden. Stattdessen gibt es nun die diagnostische Kategorie der Geschlechtsdysphorie (Gender Dysphoria).

Innerhalb der diagnostischen Kriterien werden Geschlechtsidentitätserleben („experienced gender“; APA 2013: 452), Geschlechtsrollenverhalten („expressed gender“; APA 2013: 452) sowie das zugewiesene Geschlecht („assigned gender“; APA 2013: 452) als für sich genommen unbedeutend aufgefasst. Auch die Inkongruenz zwischen dem Geschlechtsidentitätserleben bzw. Geschlechtsrollenverhalten auf der einen Seite und dem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht auf der anderen Seite wird als pathologiefreie Normvariante angesehen. Erst wenn sich auf Basis der Inkongruenz ein Leidensdruck entwickelt („clinically significant distress or impairment“; APA 2013: 453), wird im DSM-5 ein Störungswert zugeschrieben. Positiv an dem Konzept ist, dass es ausschließlich den klinisch relevanten Leidensdruck diagnostisch erfasst, weder das Geschlechtsidentitätserleben noch das Geschlechtsrollenverhalten. Auch wird mit dem Begriff Gender Dysphoria die Re-Normierung von Geschlecht vermieden, da im Gegensatz zu den Begriffen der Geschlechtsidentitätsstörung (Gender Identity Disorder) und der Geschlechtsinkongruenz (Gender Incongruence) nicht benannt wird, was ungestört bzw. kongruent sein soll. Mit der Benennung alternativer, non-binärer Geschlechtsentwürfe („some alternative gender different from one´s assigned gender“; APA 2013: 452) wird zudem die Ausprägung geschlechtlicher Diversität in der Population anerkannt. Auch Menschen mit einer Variation der Geschlechtsentwicklung („disorder of sex development“; APA 2013: 453) können sich als geschlechtsdysphorisch erleben.

Diese von der APA (und zuvor von der World Professional Association for Transgender Health, WPATH) initiierte Entwicklung war einer der Gründe dafür, die oben genannte Leitlinie zu entwickeln. Klinisch Tätigen soll eine Orientierung im Umgang mit dem Phänomen der Geschlechtsdysphorie gegeben werden.

Für die Behandlung des Transsexualismus, so die Diagnose in der Internationalen Klassifikation der Erkrankungen (ICD-10), die über lange Zeit im Hinblick auf deren Strukturierung und Qualität ungenügend war, wurden in den 1990er-Jahren unter Federführung von Sophinette Becker „Standards der Behandlung und Begutachtung von Transsexuellen“ entwickelt (Becker et al. 1997). Diese stellten damals wahrlich einen Meilenstein dar, trugen sie doch das bestehende klinische Wissen und die wissenschaftlichen Befunde zur Transsexualität in einer Form zusammen, die zu einer deutlichen Verbesserung der Versorgung beitrug. Bedauerlicherweise wurden die Standards bald in dem Sinne fehlinterpretiert, dass optionale Behandlungselemente, wie bspw. eine begleitende psychotherapeutische Behandlung, die Alltagserfahrungen oder die Empfehlung bestimmter Abfolgen von Behandlungselementen insbesondere von den Kostenträgern in sehr rigider Form übernommen wurden. Dies führte dazu, dass Menschen, die medizinische Leistungen in Anspruch nehmen wollten, sich einem unbegründet strengen „Regime“ unterwerfen mussten.

Allerdings haben sich Trans*-Menschen seit 1997 nicht nur sehr viel besser organisiert, sondern im Hinblick auf die mögliche Novellierung des Transsexuellengesetzes (vgl. Schweizer und Strauß 2013) sowie im Hinblick auf die Gesundheitsversorgung positioniert.

In dem Beitrag von Hamm und Sauer (2014, in diesem Heft) schlagen die Autor_innen vor, menschenrechts- und bedürfnisorientierte Versorgungsaspekte in den Vordergrund zu rücken. Die Forderungen sind aus Sicht der Herausgeber zum Großteil berechtigt. Sie zeigen aber auch das Dilemma, in dem sich die Gesundheitsberufe sehen, wenn einerseits das Recht auf Privatsphäre gefordert wird, bis hin zu einer Einschränkung von Fragen, die vermeintlich nicht von Behandlungsrelevanz sind, andererseits aber eine bedürfnisgerechte und adäquate Gesundheitsversorgung gewünscht ist, die auch unangenehme Fragen und – zu welchem Zeitpunkt des Prozesses auch immer – Psychotherapie beinhalten kann.

So sind die Sichtweisen von Hamm und Sauer (ebd.) klar aus der Perspektive der Trans*-Menschen formuliert, während Löwenberg und Ettmeier (2014, in diesem Heft) aus der Sicht psychotherapeutisch tätiger Ärzte argumentieren, die viele Jahre transsexuelle Menschen betreut und behandelt haben. Sie plädieren für das bedarfsgerechte Angebot psychotherapeutischer Maßnahmen nach hohen Qualitäts- und Weiterbildungsstandards.

Bei der Entwicklung der Leitlinien ist es heute Standard, die Adressierten der Leitlinie in deren Entwicklungsprozess einzubeziehen. Dies war und ist im Zusammenhang mit der geplanten Leitlinie zur Geschlechtsdysphorie nicht einfach, wie dies in unserem Beitrag dargelegt wird (Nieder und Strauß 2014, in diesem Heft). Ausführlich dokumentieren wir den bisherigen Prozess der Leitlinienentwicklung, dessen Vorgeschichte und Perspektive.

Dass Modelle der Beteiligung, die u. a. das Empowerment von Patient_innen und deren Rechte verbessert haben, in der Behandlung der Geschlechtsdysphorie ebenfalls funktionieren, verdeutlicht der Beitrag von Radix und Eisfeld (2014, in diesem Heft). Aus der Perspektive eines US-amerikanischen Community Health Centers beschreiben sie das Modell der Informierten Zustimmung (Informed Consent) und stellen ihre Erfahrungen insbesondere im Zusammenhang mit der gegengeschlechtlichen Hormonbehandlung vor.

Wir haben versucht, in diesem Heft die verschiedenen Schichten und Perspektiven darzustellen, die für die Entwicklung einer AWMF-S3-Leitlinie zur Diagnostik, Beratung und Behandlung der Geschlechtsdysphorie berücksichtigt werden sollten, wobei auch eine weitergehende soziologische Diskussion der Thematik im Kontext der Leitlinienentwicklung sinnvoll und notwendig sein wird. Im Endeffekt zeigen die hier dargestellten Beiträge die Schwierigkeit, im Zusammenhang mit der Geschlechtsdysphorie zwischen der Skylla einer notwendigen, aus medizinischer und psychotherapeutischer Sicht sinnvollen Unterstützung und der Charybdis der „aufgezwungenen Maßnahmen und Krankheitszuschreibung“ (Hamm und Sauer 2014: 4) zu manövrieren.