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DOI: 10.1055/s-0033-1335630
Sexualität zwischen Alltag und Exzess
Zur 6. Klinischen Tagung der DGfS am 21. und 22. September 2012 in MünsterPublikationsverlauf
Publikationsdatum:
24. Juni 2013 (online)

„Sexualität zwischen Alltag und Exzess“ – im Vergleich mit früheren Themen haben sich die Organisatoren für die 6. Klinischen Tagung der DGfS ein fast reißerisch anmutendes Motto ausgedacht. Gunter Schmidt, Nestor des sexualtherapeutischen Teils der DGfS und Gründer des Hamburger Modells zur Paartherapie bei sexuellen Störungen, konnotierte Sexualität im Alltag schon in den 90er-Jahren mit Tristesse. Das saß damals, und fand scheinbar breiten Konsens in der therapeutischen Gemeinde. Mit „Exzess“ hingegen wird Sexualität zumindest im klinischen Bereich in der Regel nicht in Zusammenhang gebracht, allenfalls werden dort Häufigkeiten bestimmter Sexualpraktiken, z. B. Masturbation oder Pornokonsum, als „exzessiv“ beschrieben.
Dabei, so scheint es, lässt gerade beim Blick auf die Sexualität die Trennschärfe zwischen Exzessivem und Alltäglichen nach. Im Allgemeinen lassen sich solche Verhaltensweisen als exzessiv bezeichnen, die selbst- und/oder fremdgefährdend sind, oder die an die Grenze solcher Schädigungen gehen und damit die Lebensqualität drastisch einschränken können. Was als sexueller Exzess empfunden wird, hängt aber außerordentlich stark von der jeweiligen Zeit und Kultur ab. So genügt ein Blick in das monumentale Werk Richard von Krafft-Ebings, um einige der ausführlich beschriebenen, damals als pervers verstandenen sexuellen Verhaltensweisen heute als alltäglich und banal zu empfinden.
Doch wie nimmt sich die verschwimmende Polarität zwischen Exzess und Alltag in der Therapeutenstube aus, im Raum des Klinikers, des Psychotherapeuten, dem Leiden mit dem Auftrag angedient wird, zu lindern, neue Entwürfe zu fördern, Gefahr abzuwenden? Mit welchen Begriffen wird dort der Unterschied zur „Normalität“ markiert und wie wird damit umgegangen? Im Folgenden sollen die fünf Hauptvorträge der Tagung zusammengefasst werden.
Als Eingangsredner hielt sich Birger Dulz, ein angesehener Experte für die Behandlung von Persönlichkeitsstörungen, an das Phänomenologische. Er beschrieb die sexuellen Verhaltensweisen von Menschen mit Borderline-Störungen, die er stationär behandelt, und deren sexuelle Wünsche lange unterdrückt gewesen seien. Subversiv hätten sie sexualitätshemmende Medikamente nur zum Schein genommen, sich zudem heimlich und ohne Kenntnis des Pflegepersonals in einem Wäldchen getroffen. Unter größerer Permissivität würden jedoch langsam auch riskante sexuelle Praktiken Gesprächsgegenstand. Menschen, die keine Sexualität haben und auch keine sexuellen Phantasien, seien besonders schwer zu behandeln. Der Vortrag zog dadurch, dass er sich hauptsächlich auf der beschreibenden Ebene bewegte und dabei im Subtext den Eindruck erweckte, es würden Geheimnisse gelüftet, die Aufmerksamkeit mehr auf die Person des Referenten und dessen narrativen Stil, als auf den Inhalt. Fast wirkte es, als sei er dem Thema der Tagung ein wenig auf den Leim gegangen.
Ganz anders die PsychoanalytikerInnen Andreas Weber-Meewes und Sabine Cassel-Bähr, die beide in der Therapie von Menschen erfahren sind, die dem Label „pervers“ zugeordnet werden können. Keine Rede von Sensation oder Geheimnistuereien, vielmehr ging es um die Beantwortung der Frage, wie ein Mensch dazu kommt, ein Verhalten zu entwickeln, das ihm oder seinen Mitmenschen gravierend schaden kann.
Beide ReferentInnen wandten sich in Ihren Vorträgen über weibliche bzw. männliche Entwickung im Spanungsfeld von Perversion und Normalität dem je eigenen Geschlecht zu. Cassel-Bähr verstand dabei weibliche perverse Entwicklungen nicht analog zu den männlichen, noch unterstützte sie dekonstruktionistische Überlegungen zur Geschlechterdifferenz, da damit „die Bedeutung der Körperlichkeit völlig verleugnet“ werde. Ausgehend von Pfäfflins Beobachtung, dass es eine auch nur annähernd einheitliche und konsensfähige inhaltliche Definition von Perversion nicht gebe, ging die Referentin auf zahlreiche Theorien der Perversionsbildung ein und spitzte sie auf die Frage zu, warum Perversionen bei der Frau „so selten die Form einer manifest ‚sexuellen Perversion‘ im klassisch-männlichen Sinn annehmen“. Vor dem Hintergrund dieser Theorien sah sie es als plausibel an, dass eine perverse Entwicklung geschlechtsübergreifend ihren Ausgangspunkt in „Folgen einer ungenügenden frühen Bemutterung“ finde. Diese erzwinge eine übermäßige Phantasiebildung, die die Realität ersetze, so dass eine „ungeheure Spannung zwischen Selbst und der äußeren Realität“ entstehe. Der perverse Akt sei dann als „Plombe“ zu verstehen, als rachevolle Reinszenierung des Traumas in erotisierter und sexualisierter Erscheinungsform, um es ungeschehen zu machen.
Nach Estella Weldon hätten Perversionen den Anschein von Sexualität, seien jedoch „gänzlich von prägenitalen Verhaltensweisen geprägt“. So verstanden bezögen sich perverse Phantasien und Handlungen immer auf das Benutzen des eigenen oder eines anderen Körpers. Weibliche Perversionen gestalteten sich dabei exklusiv nach diesem Prinzip, summiert in der Ausagierung einer „perversen Mütterlichkeit“. Nach Weldon handele es sich dabei um den fetischisierenden Gebrauch des ganzen Körpers, der Fortpflanzungsorgane im Besonderen und um die Nutzung des Kindes als „manipuliertes Partialobjekt“. Den ganzen Körper oder ein Organ als Fetisch zu gebrauchen, wirkt zunächst befremdlich, wird ein Fetisch doch gemeinhin als ein sexuell besetztes Objekt außerhalb des Körpers verstanden. Doch diese erweiterte Definition ergibt Sinn, wenn eine desolate prä-ödipale/prä-genitale Ausgangslage mit der Bindung an den Körper als Ursache in Rechnung gestellt wird. So könnten als pervers konnotierte Phänomene, die nur im weiblichen Kontext auftauchen, Plausibilität erlangen, und derer gebe es viele: selbstschädigendes und destruktives Agieren mit Schwangerschaft, Anorexie, Bulimie, Selbstverstümmelung u. a.
Die Referentin fokussierte dann auf den erst spät von Freud und in der Folge u. a. von Dinnerstein hervorgehobenen Umstand, dass die erste Bezugsperson des Mädchens in der Regel das identische Geschlecht habe. Für die Mädchen sei daher die „narzisstische Objektwahl“ kennzeichnend, während Jungen die Objektwahl nach dem Anlehnungstypus treffen. Für das Mädchen koche mit Eintritt in die Pubertät nicht nur die frühe Kränkung hoch, dass die Mutter einen anderen, meist männlichen Liebespartner ihr gegenüber bevorzugt, sondern sie sehe sich mit dem von der Mutter gesetzten Homosexualitätstabu konfrontiert. Dies erlebe die Tochter als zutiefst kränkende Liebesenttäuschung, die sich gegen ihr eigenes Geschlecht wende. Werde eine totale Zurückweisung von der Mutter erlebt, sei dies die Voraussetzung für die Entwicklung einer Perversion. Es komme folglich darauf an, inwieweit die Mutter das homosexuelle Begehren ihrer Tochter ebenso liebevoll beantworten wie begrenzen kann.
Der in ernst-konzentriertem Duktus gehaltene Vortrag von Cassel-Bähr stellte pointiert die im Vergleich zur männlichen so andersartige Gestaltung der weiblichen Perversion dar, die vornehmlich auf den eigenen Körper ziele und pathogene Folgen auch für die folgende Generation habe. Wie verheerend diese Folgen sein können, ließ der Vortrag nur ahnen. Durch die implosiv wirkende Zielgerichtetheit auf den weiblichen Körper entstand dabei auf den ersten Blick der Eindruck, dass der weiblichen Täterschaft nicht genug Raum gegeben wurde.
Ganz anders die fast stürmische Eingangsfigur des Referenten Andreas Weber-Meewes, der zunächst dem Phänomen nachging, dass ganz normale Männer, wenn eine kulturelle Ordnung in Kriegs- oder Bürgerkriegszeiten zusammenbricht, abseits des Kampfgeschehens zu Vergewaltigern mutierten, ohne dass sie einem Befehl oder Zwang unterlägen. So sei zwingend anzunehmen, dass es „in vielen, vielleicht den meisten“ Männern eine Bereitschaft zu sexueller Lust an Gewalt gebe. Medial verbreitete Narrative über den Triumph des Guten bereiteten ihnen wohl Befriedigung, blutrünstige Triumphe des Bösen jedoch eine wenig eingestandene Faszination. Wo bleiben also, so die Frage des Referenten, die sadistischen Lüste in Friedenszeiten?
Weber-Meewes griff die Beobachtung Freuds auf, dass bei Männern der Ursprung sexueller Probleme just diese sadistischen Regungen seien. Männer könnten einer geliebten Frau nicht mit ambivalenter Lust begegnen, weshalb sie zur Entfaltung ihres sadistischen Begehrens auf Frauen zurückgriffen, auf die sie keine Rücksicht zu nehmen bräuchten. Erst dann entwickle der Mann seine ganze Potenz dadurch, „dass in seine Sexualziele perverse Komponenten eingehen, die er am geachteten Weibe zu befriedigen sich nicht getraut“ (Freud 1912:85).
Den Einwand, dass sich seit k. u. k.-Zeiten Wesentliches in der Einstellung der Männer verändert habe, zerstreut Weber mit dem Hinweis auf zwei zeitgenössische Oberflächenphänomene:
Zum einen lieferte Weber-Meewes ein frappierendes Zahlenwerk zum Massenkonsum sexueller Dienstleistungen von Prostituierten: Schon vor zehn Jahren habe es in Deutschland jährlich mutmaßlich120 Millionen Prostituiertenkontakte gegeben. Wer jemals mit Prostituierten therapeutisch gearbeitet habe, „wisse, wie viel Gemeinheit diese Frauen im Zuge ihrer Arbeit in sich aufnehmen“.
Zum anderen verwies der Referent auf den globalen Pornografiekonsum. Hier werde die Erniedrigung der Frau inszeniert und die scheinbaren Lustäußerungen der Actricen zeigten bei genauerem Hinsehen Indifferenz oder Schmerz. Dabei komme die lautstark gespielte Lust der Frau einem Wunsch nach Wiedergutmachung entgegen. Es werde ein Tagtraum aufgetischt, der ein Opfer brauche, das keine weitergehenden emotionale Ansprüche stellt. Damit werde insbesondere für junge Männer die Realität auf bemerkenswerte Weise strukturiert. Weber-Meewes zitierte beispielhaft für das Genre der Jugendmusikprodukte den „Arschficksong“ von Sido, der mit der Schilderung einer sexuellen Körperverletzung an einem Mädchen an Herzlosigkeit kaum zu überbieten ist.
Derlei zeitgenössische Oberflächenphänomene belegten, dass ihr Konsum außerhalb einer Partnerschaft zumindest über einen „Ruch realer Gemeinheit“ sadistischen Wünschen entgegenkomme, dass derart motiviertes Phantasieren und Agieren „eine weit verbreitete Komponente männlicher Sexualität“ darstelle.
Diese „perversogene Spaltung von Liebe und ganzer Lust“ werde über ein Verständnis der männlichen Geschlechtsidentität plausibel. Diese sei initial noch verschweißt mit der Mutter, der ersten Bezugsperson. Sobald der Junge des Geschlechtsunterschieds zur Mutter gewahr werde, löse sich diese „Ichverfugung“ auf verwirrende Weise, es entstehe ein „Einriss“, eine „Sollbruchstelle mit Verbindung zu Ängsten vor Identitätsdiffusion und gar Identitätsverlust“.
Wenn auch nicht so pointiert wie Cassel-Bähr, verwies auch Weber-Meewes auf frühere (prä-ödopale) Erfahrungen des Jungen, die „Minderwertigkeitsgefühle und Ohnmachtsangst“ hervorbrächten, wenn mütterliche Pflege verletzend wirke. Die Erkenntnis des Geschlechtsunterschieds potenziere diese Erfahrungen dramatisch, bringe Neid hervor und zwinge den Jungen zu einer Gegenbewegung, zur „Abspaltung und weit reichenden Verleugnung“ dieser Reaktionen, gepaart mit der „Idealisierung des Bildes von der versorgenden guten Mutter“. Dies führe dazu, dass Jungen allgemein als das „unruhige Geschlecht“ beobachtet würden. In der Pubertät seien Kränkungssensibilität und ein fixiertes Interesse am eigenen Genital und am eigenen Muskelkörper zu beobachten. Homoerotische Lust werde als „vermeintlich verweiblichende Schwächung gefürchtet“. Entsprechend seien Masturbationsphantasien von untergründigem Neid und Wut auf die Frau gefärbt. Der Junge durchlaufe so eine „perverse Position“, und „fast jeder Mann“ könne später auf diesen Modus zurückgreifen, der wütender Kränkungskompensation diene.
Im günstigen Fall könne die perverse Position in mildere Ausdrucksformen transformiert werden, liebevoller Stolz der Mutter auf den Sohn und ein frühzeitig zugewandter Vater vorausgesetzt. Im ungünstigeren Fall, bei ungenügendem Halt der Mutter und ungenügender Unterstützung durch den Vater, entstehe das Bild einer „durchtriebenen, gemeinen und gierigen Frau“, die es zu unterwerfen gelte – die Pornodarsteller erledigten dies stellvertretend. In „extremeren“ Fällen, „wenn eine reife Phantasietätigkeit sich entlang auch kumulativer Traumata nie entwickeln konnte“, halte permanent perverses Agieren den brüchigen Charakterpanzer zusammen.
Weber-Meewes setzte die perverse Position als „ubiquitäres Stadium der heterosexuellen männlichen Entwicklung“ als ein Axiom. Ähnlich wie die Schilderung der perversen Entwicklung der Frau bei Cassel-Bähr produzierte dies automatisch Unbehagen. Der Referent forderte die männlichen Zuhörer zu einer unbequemen Selbstbefragung heraus, welche mysogynen Impulsdurchbrüche in ihnen schlummern, wie gut es die eigenen Eltern gemeint haben, und wie die eigene Gewissensinstanz einem zu einem liebenden Selbst verhelfen kann. Weber-Meewes verfolgte dazu im Subtext konsequent den Duktus der Mahnung, auch an die eigene Zunft. Jeder 333. Kassenpatient – zumeist Frauen – sei „von einem sexuellen Grenzübertritt real betroffen“. Schade, dass er dabei die im Diskurs über inflationäre Missbrauchsszenarien so häufig auffallende begriffliche Verwischung zwischen „sexueller Grenzverletzung“, „Übergriff/Übertritt“ und sexuellem „Missbrauch“ übernahm, sich überhaupt einer Operationalisierung dieser Begriffe enthielt. Auch problematisierte er nicht die Möglichkeit falscher Beschuldigungen. Derlei Indifferenzen bergen die realistische Gefahr, Wasser auf die Mühlen der Kleinredner und Verleugner zu gießen.
Im vierten Hauptvortrag widmete sich der Soziologe Sven Lewandowski den latenten Bedeutungsgehalten der heterosexuellen Mainstream-Pornografie. Mitnichten Exzess! Der Referent wandte sich deutlich gegen die „Leier“, Pornografie sei pervers und abartig, auf jeden Fall schädlich – und damit gegen ihre „moralisch induzierte Ablehnung“. Sein Referenzsystem waren dabei neben der aufwendig und kenntnisreich abgeleiteten psychoanalytischen Theorie (dieser gegenüber weist sich Lewandowski untertreibend als „wildernder“ Soziologe aus) u. a. die Cultural Studies (denen zufolge populärkulturelle Produkte erst durch mehrere Lesarten attraktiv werden, üblicherweise hegemoniale und subversive).
Lewandowski bediente sich der aus der psychoanalytischen Deutung von Kinofilmen bekannten Analogie, das Material als Trauminhalt zu deuten. Er fokussierte folgerichtig auf den latenten Inhalt der Darstellungen und stellte sich das fertige, manifeste Produkt als Ergebnis der „Pornografiearbeit“ im Sinne einer Kompromissbildung für und durch den Konsumenten vor. So biete die Pornografie „die Erfüllung unbewusster Wünsche in psychisch akzeptabler Form“. Was den Traum angehe, führe misslungene Kompromissbildung,, zur Unterbrechung des Schlafes, im Falle der Pornografie zum Zusammenbruch der Erregung“. Sexuelle Erregung erlaube dabei „ganz ähnlich wie der Schlaf – eine Überschreitung von Grenzen des Ekels und der Moral“. Das entscheidende Element der Erregung des Betrachters rühre nicht von den manifesten Inhalten her – diese blendeten ihn nur – sondern von deren Subtexten und latenten Bedeutungsinhalten. So erzähle die Pornografie neben ihrer herkömmlichen Lesart als einer „oft überaus selbstherrlichen männlichen Sexualität“ unterschwellig auch andere Geschichten. Latent werde die Urszene aktiviert, die Zeugenschaft des Kindes am elterlichen Geschlechtsverkehr. An der manifesten Darstellung eines heterosexuellen Geschlechtsverkehrs fielen die Gesichtslosigkeit und die nur auf den Geschlechtsakt reduzierte Aktivität des Mannes auf, wohingegen auf den die Szene gestaltenden Körper, die Genitalien, die Mimik und die Lautäußerungen der oft mit Schminke und Dessous drapierten Darstellerin fokussiert werde. In Abgrenzung von romantischen Verschmelzungsphantasien diene die das Szenario in der Regel abschließende extracorporale Ejakulation der Abgrenzung und der Rettung des männlichen Subjekts, einer „Wiedergewinnung der männlichen Souveränität“. Seien mehrere Männer mit einer Frau involviert, so falle auf, dass alles, was an homosexuelle Annäherungen gemahnen könnte, strikt vermieden werde. Der weibliche Körper könne so als Medium für diese Strebungen verstanden werden. Dasselbe könne für die protopornografische Praktik des Analverkehrs angenommen werden. Der latenten Bedeutung dieser Praxis wohne jedoch zugleich eine Abwertung des Weiblichen inne, eine Negierung, die bis zur Verleugnung gehe: Die Frau wie einen Mann zu nutzen, gleiche einer Omnipotenzphantasie. Der Kompromiss bestehe darin, dass der Anus als Stellvertreter des Männlichen am weiblichen Körper fungiere. Zudem ermögliche er die Leugnung der Phantasie von der Kastration der Frau. Exemplarisch stellt Lewandowski eine weitere Determinierung des heterosexuelle Analverkehrs heraus. Im Manifesten werde der Verschmutzungs- und Ekelaspekt ausgeblendet, nur der Unterwerfungsaspekt erschließe sich der unter Erregung reduzierten Wahrnehmung. Dass dabei deutliche Parallelen z. B. zum Perversionskonzept Stollers auftreten, Hardcore-Inszenierung als Hass in erotisierter Form, sei nachvollziehbar, könne aber angesichts der massenhaften Attraktion des Genres nicht eins zu eins übertragen werden.
Für einen Soziologen überraschend war Lewandowskis routinierte Anwendung des psychoanalytischen Theorems in Verknüpfung mit den Cultural Studies auf die Pornografie. Dabei hatte er den Vorteil, dass ihm die in Sorge um die Patienten angestrengte Selbstbefragung erspart blieb – er transportiert derlei Operationen in einen möglichst transparenten Überbau. Der Vortrag hat dies geleistet und dem Auditorium eine erweiterte Perspektive ermöglicht.
Die abschließende Veranstaltung erinnerte dann daran, dass eine klinische Tagung stattfand. Gleichberechtigt – und dann hört der Spaß auf? Egalitäre Beziehungsbestrebungen und ihr Einfluss auf die Sexualität heterosexueller Paare hieß der Schlussvortrag, von Annette Schwarte mit Verve vorgetragen, einer erfahrenen Paartherapeutin, die als neue Sprecherin des Fort-und Weiterbildungsausschusses der DGfS auch an der Programmgestaltung teilhatte. „Wie leben egalitäre, gleichberechtigte Paare Sexualität?“ fragte sie und notierte, dass sich bis auf Masturbation und Konsum von Pornografie die Geschlechter weder in der Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs, noch des Oralsex oder des Fremdgehens unterschieden. So frage sie sich, ob bei derartiger „Unordnung“ der herkömmlichen Rollen der Geschlechter der Spaß aufhöre. Zur Illustration griff sie eine soziologische Studie von Cornelia Koppetsch und Günter Burkart (1999) zur scheinbar trivialen Frage der Verteilung der Hausarbeit auf. Dieser Untersuchung zufolge unterscheide sich bei ungleicher Arbeitsteilung das „traditionelle“ vom „familistischen“ Milieu darin, dass das letztere auf das „männliche Machtwort“ verzichte, mehr eine emotionale denn eine Zweckgemeinschaft sei als das erstere. In einem dritten, „individualistischen“ Milieu gehe es um Aushandlung von Kompromissen, Aufopferungen seien nicht erwünscht. Gleichwohl werde im individualistischen Milieu der Anspruch auf eine egalitäre Arbeitsteilung nicht erfüllt. Offenbar nicht nur in Sachen Hausarbeit: wie derart wirksame latente Geschlechtsnormen und geschlechtsspezifische Gewohnheiten sich bei Paaren mit sexuellen Störungen offenbaren, exemplifizierte Schwarte konkret anhand der Prozessbeschreibung einer Paartherapie. Sie beschrieb dabei ein Paar, das sie – fast prototypisch – aufgesucht hat wegen einer Funktionsstörung des Mannes, jahrelanger Vermeidung von Sexualität und einer damit verknüpften Selbstwertproblematik der Frau, die noch nie einen Orgasmus erleben konnte. Die Patientin kommt aus einem konfliktvermeidenden und die Sexualität tabuisierenden Elternhaus, das (wie das des Mannes) dem traditionellen Milieu verhaftet ist, mit einem kriegstraumatisierten Vater und einer depressiven Mutter. Der Mann stammt aus einem konfliktreichen Elternhaus ohne Zärtlichkeit bei einem alkoholaffinen Vater und einer ihn idealisierenden Mutter. Beider Pubertät war von Unsicherheiten gezeichnet, Selbstbefriedigung bei ihm mit Schuldgefühlen verbunden, bei ihr gar nicht vorhanden.
Beide gelangten auf Umwegen zum Beruf ihrer Wahl, den die Frau unterbrach, um sich dem Haushalt und den Kindern zu widmen. Gemeinsam bauten sie ein familistisches Milieu auf, dessen jahrelanges gutes Funktionieren zum einen nicht für die „sexuelle Sackgasse“ verantwortlich gewesen sei, ihnen zum andern aber ermöglicht habe, die Bedeutung ihrer sexuellen Probleme zu verharmlosen, es habe mithin als deren Stabilisator gewirkt. Auslösend dafür, dass die Frau um therapeutische Hilfe nachsuchte, sei das Driften des Mannes in Richtung des individualistischen Milieus gewesen. Im Verlauf der Paartherapie nach dem Hamburger Modell, dessen Essenz aus einer „gleichwertigen Verteilung der Verantwortung für die sexuelle Interaktion“ bestehe, machten beide zunächst enorme Fortschritte für sich, in ihrer Autoerotik – so weit, dass die Symptome der Orgasmuslosigkeit und der Unfähigkeit, den Samenerguss zu kontrollieren, verschwanden.
Als es jedoch daran ging, sich wechselseitig stimulierend zu streicheln, sei der Prozess ins Stocken gekommen. Die Patientin dachte, „dass ihr Mann das schon macht“. Der Patient seinerseits habe Angst gehabt, „dass ich dann doch einer dieser Männer bin, die sich einfach sexuell etwas nehmen“. Schwarte interpretierte dies so, dass die beiden ihren traditionellen Rollen verhaftet geblieben seien. So lohne es sich, „die Einflussnahme der verinnerlichten Rollenzuschreibungen im Blick zu haben“. Im weiteren Verlauf der Therapie habe die Frau die Verantwortung übernommen, so dass sie dabei Erregung und Orgasmus erlebt habe. Schwarte schrieb beim Herauswickeln aus diesem Traditionskokon in diesem Fall der Frau die Rolle der Initiatorin zu, kommentierte dann aber in übergeschlechtlicher Zusammenfassung, dass „in vielen Lebensbereichen der schwierigere Part oft nur möglich ist, wenn er vom anderen übernommen wird“. Für Paare bedeute das in der sexuellen Beziehung mehr Gleichberechtigung, und dass sie „die Spannung entstehen und aushalten, die sich entwickelt, wenn es darum geht, sich zu nehmen und sich nehmen zu lassen.“
„Und“, so fragte die Referentin sich in frohgemuter Ausschau „vielleicht fängt dann der Spaß erst richtig an?“