Z Sex Forsch 2012; 25(1): 1-3
DOI: 10.1055/s-0031-1283943
EDITORIAL

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

25 Jahre Zeitschrift für Sexualforschung

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Publication History

Publication Date:
16 March 2012 (online)

Mit dieser Ausgabe geht die Zeitschrift für Sexualforschung in ihren 25. Jahrgang. Das Jubiläum bietet uns die Gelegenheit, den zahlreichen Autorinnen und Autoren zu danken, die seit dem Jahr 1988 für uns schreiben und geschrieben haben. Dankbar sind wir den ehemaligen Herausgeberinnen und Herausgebern Sophinette Becker, Ulrike Brandenburg (†), Martin Dannecker, Margret Hauch, Friedemann Pfäfflin, Gunter Schmidt, Eberhard Schorsch (†) und Volkmar Sigusch. Und danken möchten wir auch den gegenwärtigen wie früheren Mitgliedern des wissenschaftlichen Beirats und den zahlreichen Gutachterinnen und Gutachtern, die durch ihre Expertise und ihre konstruktive Kritik zum Gelingen der Zeitschrift beitragen. Unser Dank gilt dem Georg Thieme Verlag, der die Zeitschrift 1999 nach Übernahme des Ferdinand Enke Verlags weiter führte. Und natürlich gilt er den Leserinnen und Lesern, die sich von der multidisziplinären Vielfalt unserer Texte nicht abschrecken, sondern mit der notwendigen Mischung aus Neugier und Nachsicht inspirieren lassen. 

Die ZfS steht in der Tradition der kritischen Sexualwissenschaft, deren Grundlegung Volkmar Sigusch im ersten Text des ersten Hefts unternahm (1988: 1). Sigusch unterschied „kritische Sexualwissenschaft“ von einer geschichtsblinden und positivistisch argumentierenden „affirmativen Sexualwissenschaft“ einerseits, und von einer empiristisch verengten, dem sozialen Wandel nachlaufenden „fortschrittlichen Sexualwissenschaft“ andererseits. Und er betonte, dass kritische Sexualwissenschaft stets „vom Widerspruch her“ denken müsse (ebd.: 4). Das theoretische Erbe der Frankfurter Schule ist in diesem Entwurf unverkennbar. 25 Jahre später und mehr als 60 Jahre nach der Veröffentlichung der „Dialektik der Aufklärung“ haben sich wissenschaftliche Praxis und auch die Praxis akademischen Publizierens grundlegend verändert. Dennoch wird auch, wer Siguschs erkenntnistheoretische Prämissen nicht teilt, wesentliche Züge der kritischen Sexualwissenschaft in aktuellen Ausgaben der ZfS wieder erkennen. Dazu gehören u. a.

(1) die multiperspektivische Betrachtung der Sexualität, die bei uns zugleich eine multidisziplinäre ist. Damit hierbei aus einem vielstimmigen Nebeneinander tatsächlich ein interdisziplinärer Dialog entstehen kann, bemühen wir uns sehr um eine auf Verständlichkeit zielende redaktionelle Bearbeitung der Texte, die im Idealfall eine Verständigung über die disziplinären Tellerränder hinaus ermöglicht; 

(2) die historisch-kritische Betrachtung der Sexualität, die den Blick dafür schärft, dass Sexualität „gattungsgeschichtlich gesehen […] blutjung“ ist (ebd.: 1) und in ihrer kulturellen Form eng mit der Geschichte der Moderne verknüpft. Sexualforschung ist in diesem Sinne immer auch die Auseinandersetzung mit der Kulturgeschichte der Sexualität; 

(3) die politische Betrachtung des Sexuellen. Auch heute gehören die manchmal notwendigen Entpathologisierungen und das entschiedene Eintreten gegen sexuelle Diskriminierung zu den Aufgaben der Sexualwissenschaft. Zahlreiche Kommentare und Debattenbeiträge (besonders beeindruckend sicher jene zur Behandlung der Transsexualität) zeugen davon, wie engagiert sich unsere Autorinnen und Autoren an sexualpolitischen Kontroversen beteiligen; 

(4) ein professionelles Hilfsangebot bei sexuellen Problemen oder Störungen mit den Möglichkeiten von Beratung, Psychotherapie und Medizin, die sich selbst stetig hinterfragen. 

Als Herausgeberinnen und Herausgebern der Zeitschrift für Sexualforschung sind uns akademische Offenheit und interdisziplinärer Dialog zentrale Anliegen. Eine solche Haltung kann auch mühevoll sein, für die Leserinnen und Leser ebenso wie für die beteiligten Autorinnen und Autoren. Denn gefordert ist nicht nur, sich in teils ungewohnte Denksysteme einzulesen, sondern auch, das Nebeneinander widersprüchlicher Epistemologien, Methoden und Befunde auszuhalten. Wir sind davon überzeugt, dass die hieraus erwachsenen Debatten wertvoll sind, solange sie in angemessener und wertschätzender Form geführt werden. Untermauert wird dieser Anspruch seit 2006 auch durch die Funktion der Zeitschrift als Organ der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung (DGfS). 

Die Zeitschrift für Sexualforschung war und ist Ort zahlreicher wissenschaftlicher und politischer Auseinandersetzungen. Manche dieser Debatten sind beinahe rückstandslos verschwunden, andere tauchten wieder auf. In der Rückschau spiegeln die Beiträge der letzten 25 Jahre auf beeindruckende Weise die wechselhafte Konjunktur wissenschaftlicher Diskurse (etwa in der wiederkehrenden Auseinandersetzung mit Pornografie und sexuellem Missbrauch), aber auch die Normalisierung ehemals strittiger Positionen. Unser Jubiläumsjahrgang bietet uns Anlass und Gelegenheit, zumindest einige dieser Debatten nachzuzeichnen. Im vorliegenden und in den kommenden drei Heften werden darum vier Autorinnen und Autoren „ihre“ Geschichte der ZfS darstellen, geleitet von verschiedenen Themenschwerpunkten. Sven Lewandowski beginnt im vorliegenden Heft ab Seite 49 mit der Bedeutung der ZfS für die sozialwissenschaftliche Sexualforschung. Wolfgang Berner reflektiert in Heft 2 über das Themenfeld Psychotherapie und Psychoanalyse. In Heft 3 wird sich Hertha Richter-Appelt mit den Aspekten Geschlecht, Geschlechtsidentitätsstörungen sowie Trans- und Intersexualität beschäftigen. In Heft 4 schließlich blickt Peer Briken auf die sexualmedizinischen Beiträge zurück. Selbstverständlich sind diese Zusammenschauen subjektiv und können nicht umfassend die Geschichte unserer Zeitschrift nachzeichnen. Trotzdem hoffen wir, auf diese Weise interessierte Leserinnen und Leser zu einer eigenen Re-Lektüre einzuladen. Für einen historischen Überblick oder auch die gezielte Suche nach bestimmten Texten haben wir anlässlich des Jubiläums ein Gesamt-Inhaltsverzeichnis und ein Gesamt-Register angefertigt, die Sie ab sofort unter http://www.thieme.de/SID-889D744D-D508A82B/fz/sexualforschung-jahresverzeichnisse.html einsehen können. 

Abschließend ist es uns ein Anliegen, unsere persönliche Freude über das Jubiläum zum Ausdruck zu bringen. Als mit Ende des Jahres 2006 die Redaktion aus dem in Auflösung befindlichen Frankfurter Institut für Sexualwissenschaft ins Hamburger Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie umzog und die langjährige Redakteurin Agnes Katzenbach ausschied, war die Zukunft der Zeitschrift ungewiss. Nur ein Jahr später traten Volkmar Sigusch, Gunter Schmidt und Martin Dannecker, die die ZfS über viele Jahre entscheidend geprägt hatten, als Herausgeber zurück. Wir sind vor diesem Hintergrund über die positive Entwicklung der letzten Jahre dankbar, ebenso über das rege Interesse, das die Zeitschrift findet. Die Zeitschrift für Sexualforschung ist das einzige sexualwissenschaftliche Periodikum im deutschsprachigen Raum, das ein Peer-Review-Verfahren, also ein international übliches Beurteilungs- und Entscheidungsverfahren anwendet. Seit dem Jahr 2010 ist sie im Social Science Ciatation Index gelistet und hat einen Journal Impact Factor. Das fördert die nationale und auch internationale Beachtung der Zeitschrift. Bewährt hat sich auch die Gestaltung von Schwerpunktheften durch Gasteditoren, die eine gute Möglichkeit bietet, sich grundlegend und mit der nötigen Perspektivenvielfalt aktueller Themen anzunehmen. Wir wünschen Ihnen allen einen interessanten Jubiläumsjahrgang und freuen uns auf die nächsten 25 Jahre. 

Hamburg, März 2012
Die Herausgeberinnen und Herausgeber