Z Sex Forsch 2011; 24(2): 191-195
DOI: 10.1055/s-0031-1271552
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Publication Date:
15 June 2011 (online)

Volkmar Sigusch, Günter Grau (Hrsg.): Personenlexikon der Sexualforschung. Frankfurt/New York: Campus-Verlag 2009. 813 Seiten, mit Abbildungen, 179,– EUR [1]

Die Scheu des Rezensenten vor einem so monumentalen Werk spiegelt sich in einem Traum, der mich während der Lektüre überkam: Unerwartet erschien Volkmar Sigusch als Besuch in (m)einer Wohngemeinschaft. Ich fuhr dann mit ihm zum Busbahnhof. Hinter der Glaswand des Wartebereichs tauchte ein junger Mann auf, der drei reis(/z)ende spanische Mädchen abholte, die sich darüber unbändig freuten, wozu Volkmar bemerkte, dass das umgekehrt (ein Mädchen holt drei Männer ab) kulturell bei uns nicht möglich sei, woran man sehe, dass die Emanzipation noch nicht weit fort­geschritten sei (es klang wie eine heftige Kritik an den Männern). Nachdem Volkmar schließlich seine Siebensachen zusammengepackt und ich auf den Wartesaalsesseln die Lederhülle meines Reiseweckers gefunden hatte, erbot ich mich, seinen alten Lederkoffer zu tragen, mit der unpassenden Bemerkung: „Aber nur, wenn da nichts drin ist, was nur Du tragen darfst“ und der dazugehörigen Idee, dass es peinlich wäre, wenn irgendwo ein Foto von mir mit dem Koffer auftauchen sollte, falls die Kenntnis der Papiere darin tatsächlich nur Volkmar zugedacht gewesen sein sollte. (Er ließ es aber geschehen.) Wir stiegen dann eine alte, ausgetretene Treppe mit wackeligem Geländer (klassischer Berliner Seitenflügel) hinauf und wurden von der durch die Treppenfenster einfallende Sonne so geblendet, dass ich fast nur mit geschlossenen Augen steigen konnte. Mit mühsam wieder geöffneten Augen mache ich mich ans Schreiben.

Vorab: Selbstverständlich muss das „Personenlexikon“ im engen Zusammenhang mit Volkmar Siguschs ähnlich monumentaler „Geschichte der Sexualwissenschaft“ (2008) gelesen werden (vgl. die Rezension von Kornelia Hauser in ZfS 22.2009, S: 76–79). Beide Werke sind in den vergangenen 30 Jahren gemeinsam gewachsen und wären ohne einander unvollständig.

Das Lexikon enthält nach einem knappen Vorwort der Herausgeber den eigentlich lexikalischen Teil sowie ein Abkürzungs-, Zeitschriften und Autor/innenverzeichnis. Es gibt drei Arten von lexikalischen Einträgen: Erstens den Kurzeintrag, der auf einer knappen Druckseite Lebensdaten referiert und den Grund angibt, warum der/die Namensträger/in in einem Personenlexikon der Sexualforschung aufgeführt wird, dazu ein Verzeichnis der in diesem Kontext wesentlichen Schriften und der Literatur. Zweitens: Der Standardeintrag ist auf drei bis vier Druckseiten vierfach gegliedert: Am Anfang steht als Einstimmung eine kurze Würdigung der Person, anschließend folgen biografische Details und im dritten Abschnitt eine Darstellung des Werkes. Abschließend wird eine Auswahl der relevanten Publikationen und des Schrifttums geboten, ggf. unter Voranstellung des Hin­weises auf eine Personalbibliografie. Den Großen des Faches wird drittens, bei gleicher Gliederung, etwa doppelt so viel Raum zugestanden. Alle Einträge, soweit das denn überhaupt eruierbar war, enthalten neben den Lebensdaten Hinweise auf konfessionelle Zugehörigkeit oder Hintergründe. Ob sich daraus nun ergibt, dass die Sexualwissenschaft eine „jüdische“ Wissenschaft war, habe ich nicht nachgezählt.

Von Abderhalden, Emil, bis Wyneken, Gustav zähle ich 195 Einträge (nicht 197, wie das Vorwort angibt) über 197, statt 199, Protagonisten: In zweien davon (Paul und Maria Krische sowie William Masters und Virginia Johnson), werden Paare portraitiert, deren gemeinsame Arbeiten es schwer machen, die Partner separat abzuhandeln (Gegenbeispiel: Fritz Brupbacher und Paula Brupbacher-Rajgrodski). Die meisten Einträge sind mit einem Bild versehen.

Verfasst wurden die Texte von 60 Autorinnen und Autoren, von denen die meisten nur einen Beitrag geliefert haben; von den Herausgebern stammen 36 (Volkmar Sigusch) bzw. 23 Stichworte (Günter Grau), ebenfalls 23 von Richard Kühl. Mehrere Beiträge lieferten auch: Manfred Herzer (12), Andreas Hill (8), Florian Mildenberger (9), Rüdiger Lautmann (7), Bernd-Ulrich Hergemöller, Holger Tiedemann (je 6), Rainer Herrn (4), Pierre E. Frevert, Amy M. Hay/Julia Woesthoff, Franz Schindler, Gunter Schmidt (je 3), Karl Braun, Karin Huser, Marita Keilson-Lauritz, Brunhild Kring, Christiane Leidinger, Bernd Nitzschke, Ilka Quindeau, Reimut Reiche, Albrecht Scholz (je 2). Auf der Suchliste der Herausgeber standen ursprünglich 500 abzuhandelnde Namen (S. 10), von denen schließlich zwei Fünftel bearbeitet werden konnten. Man kann sich vorstellen, dass angesichts der Notwendigkeit, sich auf einen Band mit etwa 800 Lexikonseiten zu beschränken, auch manche pragmatische Entscheidung gefällt werden musste: Gibt es überhaupt jemanden, die/der über Person und Werk hinreichend unterrichtet, bereit und fähig ist, um einen Eintrag zu liefern? So hat Richard Kühl offenkundig manche Beiträge übernommen, für die sich niemand fand, der dazu in der Lage und/oder bereit war, und es ist dem Autor zu danken, dass er auch in diesen Fällen die wesentlichen Informationen über Leben und Werk präzise zusammengetragen hat.

Die zeitliche Eingrenzung folgt der „Geschichte der Sexualwissenschaft“, d. h. sie datiert den Beginn des „modernen“ Sexualitätskonzepts auf „um 1800“ und den Beginn der Sexualforschung auf die Mitte des 19. Jahrhunderts (Ulrichs, Mantegazza), mit Berücksichtigung einiger Vorläufer: S. A. A. D. Tissot, dessen Wirken endlich einmal nicht auf das Verfassen von aus heutiger Sicht grauslichen Anti-Onanieschriften reduziert wird) (Braun), Mary Wollstonecraft als Pionierin der Frauenbewegung (Grau) und F. W. B. von Ramdohr (Herzer) auf literarischem Gebiet. Schwieriger als die zeitliche Abgrenzung ist zweifellos die Grenzziehung, wer denn in einem Personenlexikon der Sexualforschung genannt werden soll oder muss und wer nicht: Die sich entwickelnde Forschung zu sexuellen Themen (wie die spätere explizite Sexualwissenschaft) lässt sich nicht disziplinär eingrenzen (Medizin, Psychiatrie, Psychologie, Jura, Kulturgeschichte u. a. m.), und eine Beschränkung auf akademische Autoren (hier fielen die Autorinnen gleich ganz aus) verbietet sich von selbst: Kaum einer der frühen Protagonisten gehörte einer Universität als Mitglied an. Insofern ist die Entscheidung, bei den Pionieren und Pionierinnen die Sexualreformerinnen und Sexualreformer samt den Publizisten und Verlegern einzubeziehen, sofern sie einen fachlichen Beitrag geleistet haben, richtig und nachvollziehbar. Die Herausgeber begründen ihre Beschränkung: „Durch die Fokussierung auf Sexualforscherinnen und Sexualforscher im engeren Sinne kommen Frauenrechtlerinnen, Reproduktionsforscher, Sexualreformer der verschiedenen Richtungen, Lebensreformer, Sexualpädagogen, Venerologen, Sexualberater, Psychoanalytiker, Bevölkerungswissenschaftler, Eugeniker, sog. Rassenhygieniker usw. nur dann vor, wenn wichtige Verbindungen zur Sexualwissenschaft existierten oder eindrucksvolle Forschungsergebnisse vorlagen“ (S. 14).

Damit fehlen natürlich die Gegenaufklärer: Friedrich Wilhelm Förster und Albert Niedermeier etwa, oder für die fünfziger Jahre der BRD: Gerhard Ockel. Bei den verlegerischen Pionieren fehlt mir Max Spohr. Hinsichtlich der Reformerinnen und Reformer sind die Deutschen (von den Herausgebern eingestandener Weise) überrepräsentiert, die Auswahl der anderen erscheint mir etwas willkürlich – was aber auch der oben erwähnten Unmöglichkeit, geeignete Autor/innen zu finden, geschuldet sein mag. Wo sind Edward Carpenter, Elise Ottesen-Jensen, Bertie Albrecht, Hildegart?[1] Mir fehlt auch der indische Herausgeber der „Marriage Hygiene“, A. P. Pillay, der ab 1934 deutschen Emigranten Publikationsmöglichkeiten im Exil bot; mir fehlt der französische Kolonialbeamte und Sexualethiker René Guyon. Die Reihe ließe sich fortsetzen. Wer übernimmt die Rolle, die Alma Kreuter für diejenigen Neurologen und Psychiater gespielt hat, die es nicht ins Lexikon der „großen“ Neurologen geschafft haben?[2]

Hinsichtlich der älteren französischen Beiträge zum Fach bedauern die Herausgeber, dass sie keine Autorinnen/Autoren finden konnten – anscheinend war die 1996 verstorbene Annemarie Wettley die letzte, die hierzulande die ältere französische Literatur umfassend kannte. Völlig fehlen die Spanier (Marañon). Durch die Einschränkung auf bereits verstorbene Forscherinnen und Forscher fehlt die „jüngere“ Generation der amerikanischen Autorinnen und Autoren.

Ein Personenlexikon von vorn bis hinten durchzulesen ist ungefähr so sinnvoll wie das gleiche mit einem Telefonbuch zu tun. Im Telefonbuch sind die Einträge allerdings eintöniger. Zum Glück haben die Herausgeber die unterschiedlichen Stile der Beiträge nicht vereinheitlicht, die (bei kontinuierlicher Lektüre irritierend) mal im Präsens, mal im Präteritum gehalten sind. So wechseln sich sachlichnüchterne Darstellungen etwa Richard Kühls oder Günter Graus ab mit den engagiert involvierten von Volkmar Sigusch, der, in einem Lexikon erfrischend, gern deutliche (und manchmal abgelegene) Worte in die Feder nimmt. Das „wir“ Siguschs ist übrigens nicht das „wir“ der Herausgeber, am deutlichsten in seinem spannenden Text über William Masters und Virginia Johnson und deren Rezeption durch die Mitarbeiter/Innen des Hamburger und Frankfurter Instituts. Lexika dieser Art sind auf Jahrzehnte gedacht: wird ein Rezipient um 2080 diese Involviertheit noch entschlüsseln können?

Im Lexikon mischen sich auf spannende Weise die verstorbenen Zeitgenossen und Lehrer, mit denen die Autoren noch interagiert haben, mit den Vorläufern, die nur noch durch ihr Werk bekannt sind; dazwischen mahnen die aus Deutschland und aus der Wissenschaft Vertriebenen und Ermordeten, deren Lebensschicksal (und manchmal sogar deren Lebensdaten) im Dunkel bleiben.

Der Rezensent ist bei weitem nicht für alle abgehandelten Personen und ihr Werk kompetent. Die nachfolgenden, willkürlichen Anmerkungen beschränken sich deshalb auf einzelne Beiträge und Lesefrüchte, hier nach den Lemmata geordnet:

Iwan Bloch (Grau): Ich bin unbescheiden genug ergänzend darauf hinzuweisen, dass ein Restnachlass 1991 von der Schwiegertochter Erika Bloch der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft geschenkt wurde und ich das Nachlassverzeichnis erstellt habe. Der Teilnachlass enthält Bruchstücke der Korrespondenz Iwan Blochs und (umfangreicher) Korrespondenz des Sohnes Robert Bloch mit den diversen Verlegern seines Vaters.

Norman Haire (Herzer) hat den Kongress der Weltliga für Sexualreform in London 1929 ganz sicher nicht „im Wesentlichen allein geplant und organisiert“ (S. 254). Die Rolle Dora Russells bei der Gewinnung der Referenten (und die von Haires langjähriger Sekretärin Ruby Lockie bei der Organisation) bleiben völlig unbelichtet. Beide waren auch nach dem Kongress viele Jahre für die englische Sektion der Weltliga für Sexualreform tätig. Dora Russells Nachlass im International Institut vor Sociaal Geschiedenis (IISG), Amsterdam, gibt darüber hinreichend Aufschluss.[3] Über Haire gibt es zudem ein, leider meines Wissens immer noch nicht publiziertes, umfangreiches Manuskript von Diana Wyndham, das seinem Wirken meines Erachtens gerechter wird als die Arbeiten von Ivan Crozier (von denen die jüngere fehlt ).[4]

Das Pseudonym „A. Willy“ (in der Literaturliste; auch als Mitautor bei Hans Giese) hatte Agnes Katzenbach mir gegenüber vor langer Zeit einmal aufgelöst als Henri Gauthier Villars (so auch in der „Geschichte der Sexualwissenschaft“, S. 571), Schriftsteller und Ehemann der Colette, Verfasser von „Le troisième sexe“, Paris 1927, der allerdings schon 1931 gestorben ist, wie konnte er Mitautor von Hans Giese 1954 werden?

Hans v. Hattingberg: In Günter Graus profunden Texten, soweit sie Autoren aus der Zeit des deutschen Faschismus behandeln, ist auffällig, dass jede Erwähnung der NS-Gesundheits- oder Bevölkerungspolitik mit dem Adjektiv „inhuman“ oder „antihuman“ apostrophiert wird – käme denn irgend jemand auf die Idee, die (Gesundheits-)Politik der Nazis nicht so zu verstehen?

Wilhelm Hammer (Herzer): Zum Schrifttum ist anzumerken, dass Dietmar Jazbinseks Arbeit über Hammer in den Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft erschienen ist.[5]

Hans Harmsen: Frage an den Autor Florian Mildenberger: Wie viele sind „etwa zehn Kinder“? (S. 262)

Karl-Günther Heimsoth: Woher hat der Autor (Hergemöller) die Idee, dass Hirschfeld „Tortengrafiken“ (S. 272) verwandt hat, um Kombinationsmöglichkeiten sexueller Bindungen zu schematisieren?

Kurt Hiller: „wird weder eingesegnet noch beschnitten, sondern protestantisch erzogen“, Günter Grau zitiert hier den Eintrag aus Hergemöllers Lexikon „Mann für Mann“ (in allen drei Ausgaben gleichlautend). Dort erschien mir diese Aussage genauso rätselhaft. „Einsegnung“ ist im mir bekannten norddeutschen Raum ein Synonym für die evangelische Konfirmation, die Hiller, da nicht getauft, selbstverständlich trotz protestantischer Erziehung nicht zuteil werden konnte.

Joachim S. Hohmann (Hergemöller): Der Beitrag gibt zwar einen Überblick über Hohmanns Arbeiten, enthält sich aber im Gegensatz zur Darstellung des gleichen Autors in seinem Lexikon „Mann für Mann“ (nur in der Ausgabe 2010) jeder kritischen Würdigung. Warum?

An den Einträgen über Helmut Kentler (Sielert) und Ellen Key (Kühl) wird überaus deutlich, wie sehr sich das Konzept der „freien Liebe“ in den letzten 100 Jahren verändert hat. Ging es Ellen Key noch um die Befreiung der Liebe vom Korsett der bürgerlichen Ehe, aber immer in einer eugenischen Bindung und Verantwortung der Sexualität, steht bei Helmut Kentler der Partnerbezug als wichtigste moralische Rechtfertigung. Sehr schön auf den Punkt gebracht hat Uwe Sielert Kentlers Idee der Liebe mit dem Zitat „Das zutreffende Bild für Liebesverhältnisse ist nicht die Umschlingung, sondern die gegenseitige Rückendeckung“.

Theobald Lang (Mildenberger): Hier fehlt mir in der Literatur (S. 402) Rainer Herrns ausführliche Darstellung der Forschungskontinuitäten.[6]

Werner Leibbrand (Weber): Auch wenn der direkte Bezug zum Thema Sexualforschung nicht gegeben ist: Im Schriftenverzeichnis hätte ich gern seine bemerkenswerte Rede zum 100jährigen Bestehen der Erlanger Heil- und Pflegeanstalt gesehen.[7]

Richard Linsert (Herzer): Einer der meines Erachtens wichtigsten Beiträge Linserts zur (Methodik der) Sexualforschung fehlt leider völlig in der Darstellung: seine Enquete unter homosexuellen Strichjungen, für die er eine Art Interview-Leitfaden entwickelt hatte. Das komprimierte und auf die gewünschte politische Aussage zugerichtete Ergebnis hat Linsert zwar in „§ 297: Unzucht zwischen Männern“ publiziert. Dort ist aber die Art der Datengewinnung (aus guten Gründen) nicht mehr nachvollziehbar. Es ist jedoch eine Rohauswertung der rund 100 Interviews überliefert und in den zentralen Punkten auch publiziert.[8] Auch erwähnt Manfred Herzer kurz Linserts Tätigkeit für die KPD (genauer: deren Abwehrapparat), gibt aber leider die weiterführende Literatur dazu nicht an.[9]

Siegfried Placzek (Sigusch): Durch die Auseinandersetzungen der Zwanziger Jahre geistert gelegentlich der Hinweis auf ein Verwandtschaftsverhältnis Placzeks mit dem von ihm so heftig bekämpften Magnus Hirschfeld. Das lässt sich aus neu aufgefundenen Unterlagen heute verifizieren: Hirschfeld war ein Cousin zweiten Grades der geschiedenen ersten Ehefrau Siegfried Placzeks.

Eugen Steinach (Mildenberger): Leider fehlt hier jeder Hinweis auf die Filme und deren Analyse im Kontext des medizinischen Aufklärungsfilms der Weimarer Zeit in medien- und wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive[10]; in der Literatur vermisse ich die zentrale Arbeit von Heiko Stoff.[11]

Carl Westphal (Herzer): Hier fehlt mir der ausdrückliche Hinweis auf die Überwindung der älteren Anusdiagnose (Casper) zur Agnostizierung der (passiven) Homosexuellen.

Eugen Wilhelm (Herzer): Nachzutragen ist, dass es der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft aufgrund der Angaben in den erwähnten Nachkriegs-Briefen Eugen Wilhelms an Kurt Hiller gelungen ist, einen großen Teil des Nachlasses zu lokalisieren. Ein umfangreiches Editions- und Forschungsprojekt zu den Tagebüchern Wilhelms, die dieser zwischen 1885 und 1951 geführt hat, befindet sich in Vorbereitung.

Manchmal wünscht man sich ein zusätzliches Namensverzeichnis der im Text erwähnten Personen, um die Vernetzungen der genannten Personen schneller erfassen zu können. Auch Pseudonyme ließen sich dann schneller aufklären: Wer außerhalb der engsten Profession weiß schon, dass „Georg Back“ als Pseudonym unter M wie Merzbach zu suchen ist, wenn er/sie nicht das Pseudonymenverzeichnis der „Geschichte der Sexualwissenschaft“ zur Hand hat? Aber dieser Wunsch hieße, die Erwartungen an die Herausgeber überzustrapazieren; und angesichts der ohnehin unausweichlichen künftigen Digitalisierung derartiger Lexika wird dieses Desiderat im Laufe der Zeit einfach obsolet.

Einige kleine Mäkeleien, Druckfehler und andere Lapsus: Warum an einer einzigen Stelle die „Anthropophyteia“ (S. 350, Schrifttum über Alfred Kind) griechisch geschrieben werden muss, während sonst, auch bei russischen Namen, konsequent transliteriert wird, hat sich mir nicht erschlossen.

Im Text über Max Hodann ist von seiner Beteiligung an einer „Vereinigung sozialistischer Ärzte“ (S. 297) die Rede, der VSÄ (Verein sozialistischer Ärzte) ist doch erforscht genug um ihn richtig zu benennen.

Ärgerlich ist, dass im Text über Benedikt Friedlaender der Druckfehler aus der Zeitschrift für Sexualforschung (18.2005, 318) „Lichtenfelder Parkfriedhof“ (S. 200) stehen geblieben ist. Es handelt sich um den Parkfriedhof in Berlin-Lichterfelde. Ähnlich störend ist der Druckfehler „Ann Arber Universität“ (S. 264). Im Vorspann zur Bibliographie Hans Ostwald mutiert der sonst richtig geschriebene Ralf Thies zu „Theis“ (S. 554, das ist nun jemand ganz Anderes), und der in der Literatur zu Tarnowsky genannte „Dean“ Healey heißt recte: Dan (S. 695). Schließlich bin ich im Artikel über Gustav Wyneken gestolpert und lang hingeschlagen: Seit wann sind die Adjektive „deutsch“ und „edel“ Verben? (S. 791)

Bei unseren Arbeiten über das Hirschfeldsche Institut für Sexualwissenschaft haben wir immer ein Personenlexikon zum Nachschlagen vermisst, und uns ein Kompendium zur Geschichte der Sexualwissenschaft gewünscht, um unsere Funde besser in den Lauf der Fachgeschichte einordnen zu können. Volkmar Sigusch und Günter Grau (und allen am Lexikon beteiligten Autorinnen und Autoren) ist zu danken, dass es diese für eine wissenschaftliche Disziplin unerlässlichen Handbücher nun endlich und in exzellenter Form gibt. Man muss sie sich nur noch leisten können.

Ralf Dose

  • 1 Sigusch Volkmar, Grau Günter (Hrsg.). Personenlexikon der Sexualforschung.. Frankfurt/New York: Campus-Verlag; 2009. 813 Seiten, mit Abbildungen, 179,– EUR

1 Zu letzterer vgl. neuerdings die hervorragende Arbeit von Sinclair A. Sex and Society in Early Twentieth-Century Spain. Cardiff: 2007

2 Kreuter A. Deutschsprachige Neurologen und Psychiater. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon von den Vorläufern bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. München u. a.: Saur 1996

3 Vgl. dazu Dose R. Thesen zur Weltliga für Sexualreform – Notizen aus der Werkstatt. In: MittMHG 1993, 19, 23–39 und ders: The World League for Sexual Reform: Some Possible Approaches. In: Eder FX, Hall L, Hekma G. eds. Sexual Cultures in Europe. National Histories. Manchester: Manchester University Press 1999; 242–259

4 Crozier I. “All the World’s a Stage”: Dora Russell, Norman Haire, and the 1929 London World League for Sexual Reform Congress. In: JHS 2003: 12, 16–37

5 Jazbinsek D. Lebensgeschichte und Eigensinn. Über die Biographie und die Biographieforschung des Dirnenarztes Wilhelm Hammer. MittMHG 2007, 37/38, 32–61

6 Herrn R. Über genetische Erklärungsansätze der Homosexualität. MittMHG 1991,16, 21–50

7 Leibbrand W. Um die Menschenrechte der Geisteskranken. Erlangen: Egge 1946

8 Vgl. hierzu Dose R. Gay Studies im Institut für Sexualwissenschaft? Zu einem unbekannten Manuskript Richard Linserts. MittMHG 1997, 24/25, 123–138; oder zuletzt auch Lücke M. Männlichkeit in Unordnung. Frankfurt a. M.: Campus 2008, 97–111

9 Kaufmann B. u. a. Der Nachrichtendienst der KPD 1919–1937. Berlin: Dietz 1993

10 Vgl. etwa Herrn R./Brinckmann CN. Von Ratten und Männern. Der Steinach-Film. Montage AV 2005, 14, 78–100

11 Stoff H. Ewige Jugend. Konzepte der Verjüngung vom späten 19. Jahrhundert bis ins Dritte Reich. Köln: Böhlau 2004