Z Sex Forsch 2010; 23(1): 53-62
DOI: 10.1055/s-0030-1247273
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart ˙ New York

Geschlechtsidentität und Geschlechtsidentitätsstörungen[1]

Martin Dannecker
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Publication Date:
16 March 2010 (online)

Unsere Kultur im Allgemeinen und die psychiatrische und therapeutische im Besonderen sind durchdrungen von der Überzeugung, dass man entweder Frau oder Mann sein muss. Es gehöre „zu den elementaren mensch­lichen Bedürfnissen, sich einem von beiden Geschlechtern zugehörig und sich stimmig mit seinem Geschlechtskörper zu fühlen“, sagt der Sexualwissenschaftler Wilhelm F. Preuss in einem Vortrag zum Thema Geschlechtsidentitätsstörungen. „Wie elementar dieses Bedürfnis ist“, so fährt er fort, „sieht man gerade bei transsexuellen Frauen und Männern. Ihnen ist nicht geholfen, wenn man ihnen ein ‚Drittes Geschlecht‘ zuweist. Sie brauchen für ihr basales Selbstgefühl und für ihre Selbstsicherheit, wie nicht transsexuelle Männer und Frauen, die Zugehörigkeit zu einem von beiden Geschlechtern, so dringend wie ein Dach über dem Kopf, ein Zuhause, oder eine ­Heimat“ (2003). Fraglos möchte Preuss mit diesen Äußerungen den Transsexuellen das Recht einräumen, in jenem Körper anzukommen, welcher dem von ihnen empfundenen Geschlecht entspricht. Mit dieser strategischen Argumentation bestätigt er aber zugleich die binäre Geschlechter­ordnung, und er verwirft eine zwischen den Geschlechtern angesiedelte Geschlechtsidentität, die bei ihm „Drittes Geschlecht“ heißt, ebenso wie ­einen nicht eindeutig identifizierbaren Geschlechtskörper.[2]

Nun gibt es aber immer mehr Menschen, die innerhalb des binären Geschlechterverhältnisses Zwischenräume aufrichten und die Vorstellung, der zufolge Geschlecht auch auf der Ebene des Körpers eindeutig sein müsse, ­relativieren. Auch wenn innerhalb der Transsexuellenbewegung nach wie vor das Recht auf chirurgische Angleichung des Körpers an das empfundene Geschlecht gefordert wird, gibt es in ihr inzwischen eine anschwellende Kritik an der von dieser Bewegung lange idealisierten Zweigeschlechtlichkeit. Offen bleibt freilich die Frage, ob die mit dieser Kritik einhergehende Idee ­eines gleichsam dauerhaften Übergangs, also eines Transgender als Lebens­form, sich einer radikalen Kritik an der binären Geschlechterordnung verdankt oder aber einem Realismus, der sich daran orientiert, dass der hormonell und chirurgisch umgewandelte Körper weder in den Augen der anderen noch in den Augen der Transsexuellen das erhoffte eindeutige Geschlecht hervorbrachte.[3] Doch das ist angesichts der Menschen, die sich entschieden haben, in den Zwischenräumen des binären Geschlechterverhältnisses zu ­leben, unerheblich. Von Bedeutung ist vielmehr, dass sie mit ihrem Leben zeigen, dass man nicht unbedingt ein normgerechtes Gender sein muss und zwischen männlich und weiblich ein Kontinuum existiert, das auch mit Uneindeutigkeiten des Geschlechtskörpers einhergehen kann.

Der Rahmen, in den der Diskurs über Geschlechtsidentität in der the­rapeutischen Branche eingespannt ist, wird vom DSM-IV und dem ICD-10 ­gezogen. Diesen diagnostischen Manualen zufolge sind Störungen der Geschlechtsidentität durch ein anhaltendes und starkes Unbehagen über das eigene biologische Geschlecht und / oder das Leiden an diesem Geschlecht charakterisiert. Nach der Logik der Diagnose Geschlechtsidentitätsstörung gibt das körperliche Geschlecht die Richtung vor, in die sich die Geschlechtsidentität entwickeln soll.[4] Weil nun im Falle der Transsexualität die über den Körper bzw. das biologische Geschlecht vermittelte Norm und das Gefühl vom Geschlecht-Sein auseinanderfallen, wird solchen Menschen eine Geschlechtsidentitätsstörung zugeschrieben.

Von einigen Transsexuellengruppen wird die ihnen zugeschriebene Geschlechtsidentitätsstörung vehement kritisiert und als mangelnder Respekt vor ihrer wahren Geschlechtsidentität bezeichnet. Transsexuelle Menschen, so behaupten sie, würden auch durch „geschlechtskorrigierende Maß­nahmen“ nicht zu dem Geschlecht werden, dem sie sich zugehörig fühlen, sie seien vielmehr schon immer dieses Geschlecht gewesen. Richtig daran ist, dass keine chirurgische oder hormonelle Intervention eine andere ­Geschlechtsidentität herstellen kann. Solche Maßnahmen können nicht mehr, als den Körper an das psychisch bereits mehr oder weniger durch­gesetzte Geschlechtsempfinden bzw. die bereits durchgesetzte Geschlechtsüberzeugung anpassen. Wenn solche Gruppen beispielsweise argumen­tieren, dass ein transsexuelles Mädchen ein Mädchen sei, auch wenn es mit Penis und Hoden geboren wurde, sagen sie zugleich, dass die Kern­geschlechtsidentität solcher Menschen immer schon weiblich gewesen sei. Wir haben es demzufolge mit einer inversen Essentialisierung zu tun. Während die Diagnose Geschlechtsidentitätsstörung das biologische Geschlecht als eine Grundvoraussetzung der geschlechtlichen Entwicklung ansieht, essen­tialisieren bestimmte Transsexuellengruppen das, was sie als ihre wahre Geschlechtsidentität bezeichnen.

Über den Status der Diagnose Geschlechtsidentitätsstörung wird seit eini­gen Jahren nicht nur innerhalb der Transsexuellenbewegung heftig debat­tiert. In dieser Debatte stehen sich zwei scheinbar unversöhnliche Standpunkte gegenüber. Zum einen wird, auch von Transsexuellengruppen, gefordert, die Diagnose Geschlechtsidentitätsstörung beizubehalten, weil sie den Zugang zu einem körperlichen Geschlechtswechsel erleichtert und, was als ein wichtiges Argument angesehen wird, die Kostenübernahme durch Krankenversicherungen ermöglicht. Zum anderen wird die Streichung der Diagnose aus dem DSM verlangt, weil Transsexualität keine Störung, sondern eine der Selbstbestimmung der Individuen zu überlassende Entscheidung sei (ATME 2009) – so zuletzt geschehen auf einer Manifes­tation am 18. Mai des vergangenen Jahres, die aus Anlass eines Treffens ­einer Untergruppe der American Psychiatric Association stattfand, in der über die künftige Fassung der Diagnose Geschlechtsidentitätsstörungen ­beraten wird.

Judith Butler hat dieser Debatte in ihrem letzten Buch „Die Macht der Geschlechternormen“ ein ganzes Kapitel eingeräumt und unter anderem betont, dass die Diagnose Geschlechtsidentitätsstörung transsexuellen Menschen insofern Autonomie ermögliche, als sie jenen, die einen Wechsel des Geschlechtskörpers wollen, dazu verhelfe, dieses von ihnen gewollte Ziel durchzusetzen. Aber Butler wäre nicht Butler, machte sie nicht auch auf die andere Seite dieser Diagnose aufmerksam. Die Diagnose mache, so argumentiert sie, viele Annahmen, welche die Autonomie transsexueller Menschen untergrabe. Die Diagnose „schließt sich Formen psychologischer Beurteilung an, die davon ausgehen, dass die diagnostizierte Person von Kräften beeinflusst wird, die er oder sie nicht versteht. Sie nimmt an, dass solche Menschen unter einer Wahnvorstellung oder Dysphorie leiden. Sie nimmt an, dass bestimmte Geschlechternormen nicht richtig verkörpert wurden und ein Fehler und ein Versagen vorliegen. […] Sie übernimmt die Sprache von Korrektur, Anpassung und Normalisierung. Sie versucht, die Geschlechternormen der Welt in ihrer gegenwärtigen Verfassung zu erhalten, und neigt zur Pathologisierung eines jeden Versuchs, Gender auf eine Art und Weise zu gestalten, die den existierenden Normen nicht entspricht (oder besser gesagt, einer bestimmten herrschenden Fantasie, was die existierenden Normen eigentlich sind, nicht entspricht). Es ist eine Diagnose, die den Menschen gegen ihren Willen gestellt worden ist, und es ist eine Diagnose, die den Willen vieler Menschen, insbesondere junger Menschen, die queer oder trans sind, wirksam gebrochen hat“ (2009: 125 f.).

Die Angelegenheit scheint also kompliziert zu sein. Einerseits ermöglicht die Diagnose Geschlechtsidentitätsstörung den so genannten Geschlechtswechsel und sie ist eine bislang unabdingbare Voraussetzung für die Übernahme der damit einhergehenden Kosten durch die Krankenversicherungen. Die Diagnose befördert aber auch die Zerstreuung von Gender in das, was in den Vereinigten Staaten „gender diversity“ genannt wird, und zwar unter anderem dadurch, dass zunehmend mehr transsexuelle Frauen und Männer aus der Perspektive einer normativ verstandenen Zweigeschlechtlichkeit und der Vorstellung eines stimmigen Geschlechtskörpers gleichsam nur einen halben „Geschlechtswechsel“ an sich vollziehen lassen.[5] Andererseits ist die Diagnose Geschlechtsidentitätsstörung in den Händen von normativ gestimmten Psychiatern und Psychotherapeuten ein Instrument zur Pathologisierung nicht normgerechter Sexualität und Geschlechtsdarstellungen. Und das betrifft neben den Transsexuellen nicht zuletzt Kinder und junge Erwachsene.

Wegen der nicht von der Hand zu weisenden Auswirkung der Diagnose Geschlechtsidentitätsstörung auf Kinder und Jugendliche forderte der amerikanische Psychoanalytiker Richard Isay bereits 1997 deren Streichung aus dem DSM. Die Diagnose, so meint er, „könnte emotionalen Schaden anrichten, indem sie die Selbstachtung eines Kindes verletzt, das keine psychische Störung hat“ (1997). Im Blick hat er dabei prähomosexuelle Jungen, die häufig ein als weiblich angesehenes Verhalten zeigen, mit den Klei­dern ihrer Mutter spielen und aggressive Jungenspiele meiden. Dieses Verhalten, so meint Isay, würde von den Eltern abgelehnt, und, so ist zu ­ergänzen, solche Eltern bringen ihre feminin imponierenden Jungen nicht selten mit der Erwartung in die kinderpsychiatrische Behandlung, dass ­ihnen die Femini­tät ausgetrieben wird.[6] Dabei wird diesen Kindern unter Umständen die Diagnose Geschlechtsidentitätsstörung angeheftet, weil sie scheinbar oder tatsächlich zwei Kriterien der Geschlechtsidentitätsstörung erfüllen: das Tragen der Kleidung des anderen Geschlechts und den Wunsch, an den für das andere Geschlecht typischen Spielen und Aktivitäten teilzunehmen.

Isay befürchtet offenbar, dass die Diagnose Geschlechtsidentitätsstörung die Eltern in ihrer Ablehnung von Kindern mit geschlechtsuntypischem Verhalten bestärkt und den Zwang, aus ihrem feminin imponierenden Jungen einen „richtigen Jungen“ zu machen, gleichsam legitimiert. Tatsächlich ist die Diagnose einer Geschlechtsidentitätsstörung im Kindes- und Jugendalter in vielen Fällen gleichbedeutend mit einer Frühdiagnose der männ­lichen Homosexualität, weil davon auszugehen ist, dass die Mehrzahl der Kinder, bei denen Kinderpsychiater atypische Gender-Charakteristika feststellen, später homosexuell werden. Allen Berichten zufolge ist die weit überwiegende Mehrheit der Kinder, die von ihren Eltern wegen eines atypischen Geschlechtsverhalten in kinderpsychiatrische Behandlungen gebracht werden, männlich. Das deutet darauf hin, dass Eltern auf atypisches ­Geschlechtsverhalten von Jungen fast durchweg ablehnend reagieren und nicht fähig sind, solche „Wesenszüge“ zu tolerieren. Dagegen scheint die Ambiguitätstoleranz gegenüber Mädchen mit geschlechtsuntypischem Verhalten sehr viel höher zu sein.

Vermittelt über die Diagnose Geschlechtsidentitätsstörung wird folglich die kaum entpathologisierte Homosexualität wieder zu einer Pathologie. Aber auch unabhängig von DSM und ICD werden atypische Gender-Charakteristika von vielen, wie zum Beispiel von dem amerikanischen Psychoanalytiker Richard Friedman, als Zeichen einer Psychopathologie interpretiert. Nicht zuletzt in Abgrenzung von Friedman, der das feminine Verhalten der prähomosexuellen Jungen als Störung der Geschlechtsidentität bezeichnet und behauptet, dass der später manifesten Homosexualität Störungen der Geschlechtsidentität in der Kindheit vorausgingen (vgl. Friedman 1993: 212 f.; 1998), habe ich eine nicht pathologische Konzeptualisierung der frühen Feminität der später manifest homosexuellen Männer vorgelegt und dafür den Begriff Feminitätsschub geprägt (vgl. Dannecker 2007). Nach meiner Ansicht ist die frühe Feminität, also die mangelnde Geschlechtskonformität von später homosexuellen Männern, kein Zeichen einer Pathologie, sondern vielmehr Ausdruck der Integration weiblicher Anteile in eine ungestörte Männlichkeit. Durch seine teilweise Feminität, mit der er sich in manchen Aspekten der Mutter angleicht, versucht der prähomosexuelle Junge die Liebe des Vaters zu erringen. Denn das primäre Liebesobjekt des homosexuellen Jungen ist der Vater, was mit der bereits präödipal strukturierten sexuellen Objektwahl zusammenhängt. Homosexuelle Phantasien, so nehme ich mit Isay (1990: 38 f.) an, sind ab dem Alter von vier oder fünf Jahren nachweisbar. Dagegen erwecken die geläufigen psychoanalytischen Konzeptualisierungen der männlichen Homosexualität im Allgemeinen den Eindruck einer vollständig desexualisierten Vater-Sohn-Beziehung. Thematisiert wird in solchen Texten vor allem die Mutter-Sohn-Beziehung, die als so übermächtig und monströs dargestellt wird, dass sich der Sohn weder aus der Identifikation mit der Mutter noch aus seinem Begehren für sie lösen kann. Nimmt man dagegen auch den Vater in den Blick, dann wird ein vollständiger Ödipuskomplex in seiner positiven und negativen Ausprägung sichtbar. Kritisiert habe ich auch die Vorstellung, der Junge begehre seinen Vater nur in „femininer“ Weise, was hieße, dass er sich diesem passiv unterwirft.

Auch wenn bislang noch nicht viel über die ödipalen Wünsche der prähomosexuellen Jungen bekannt ist, so glaube ich doch, dass phallische Strebungen gegenüber dem Vater ebenfalls eine Rolle spielen. Nach meinem Dafürhalten verfestigt sich bei homosexuellen Jungen die auch bei heterosexuellen Jungen auftretende zärtlich-feminine Einstellung zum Vater, und diese Einstellung wird mit der Zeit für andere wahrnehmbar. Deren Reaktionen auf die Feminität des homosexuellen Jungen und die zunehmend ­bewusst werdenden sexuellen Fantasien konturieren dann schließlich das Gefühl, anders als andere Jungen zu sein, und das heißt gleichzeitig, anders als von der Geschlechternorm verlangt zu sein. Trotzdem – und das ist entscheidend – werden der eigene Körper und das eigene Geschlecht bejaht. Die männliche Geschlechtsidentität wird durch das gleichgeschlechtliche Begehren und die mit ihm einhergehende Feminität keineswegs in Frage gestellt. Und auch das Tragen weiblicher Kleidung in der ödipalen Phase ist kein Ausdruck der Fantasie des Jungen, eine Frau zu sein, sondern Ausdruck des Wunsches, den Vater mittels dieser weiblichen Aufmachung zu verführen.

Im Gegensatz zu Richard Friedman gehe ich nicht von einem dichotomen, polarisierten Geschlechterverhältnis aus, das sich in scharf voneinander getrennten Geschlechterrollen manifestiert. Tut man das, dann werden typische Geschlechterrollen und geläufige Geschlechterattribute zum Maßstab einer ungestörten Geschlechtsidentität, und atypische Geschlechts­eigenschaften werden als Zeichen für eine gestörte Geschlechtsidentität ­gelesen. Eine solche Lesart von Gender treibt im Falle des Auftretens nicht geschlechtskonformer Verhaltensweisen und Haltungen fast immer einen Handlungsimpuls hervor, dessen Ziel es ist, das scheinbar gestörte Verhältnis zum eigenen Geschlecht zu unterbinden und dieses an die kulturelle und individuelle Vorstellung eines geschlechtsadäquaten Verhaltens anzupassen. Dass damit häufig die Hoffnung einhergeht, eine sich entwickelnde Homosexualität zum Verschwinden zu bringen, habe ich bereits angedeutet.

Wie eine solche homophobe Praxis aussehen kann, möchte ich anhand eines Artikels, auf den ich bei meinen Recherchen für diesen Vortrag im ­Internet gestoßen bin, demonstrieren. Es handelt sich dabei um die deutsche Übersetzung des Textes eines wahrscheinlich evangelikalen US-amerikanischen Jugendpsychiaters mit dem Titel „Geschlechtsidentitätsstörungen bei Kindern“ (Fitzgibbons 2008). Ich werde die Anfangspassage dieses Textes wörtlich wiedergeben, weil man sonst auf die Idee kommen könnte, ich hätte diesen Beleg für die normative Funktion der Diagnose Geschlechtsidentitätsstörungen erfunden: „Die Mutter machte sich schon seit einiger Zeit Sorgen, weil ihr vierjähriger Sohn sich effeminiert verhielt, keine anderen Jungen als Spielkameraden hatte und mit Barbiepuppen spielte. Schließlich erkundigte sie sich beim Kinderarzt, ob diese Verhaltensweisen Anzeichen für ein Problem sein könnten. Besonders beunruhigt war sie ­darüber, dass ihr Mann zunehmend über den Sohn aufgebracht war und sich immer mehr von ihm entfremdete. Doch der Kinderarzt beruhigte sie: ‚Das ist nur eine Phase, nichts, um sich Sorgen zu machen. Das gibt sich, wenn er älter wird.‘ Doch leider spricht vieles dafür, dass sich der Kinderarzt irrt. Probleme mit der eigenen Geschlechtsidentität, wozu Cross-Dressing ­gehört […], ausschließliches Interesse an Spielen, die für das andere ­Geschlecht typisch sind, und ein Mangel an gleichgeschlechtlichen Spiel­kameraden, müssen als Zeichen eines ernsthaften Problems gesehen werden“ (ebd.: 47).

Nach diesem Aufriss des grundlegenden Problems Geschlechtsidentitätsstörung lässt der Autor seine Leserinnen und Leser wissen, wo und wie das alles enden wird, nämlich in Isolation, Depression und Homosexualität. Und die Homosexualität, so unterstellt er, führe zu Alkohol- und Drogenmissbrauch, Aids und schweren psychischen Problemen. Erwähnt wird von ihm schließlich noch, dass nur ein kleiner Prozentsatz dieser Jungen mit atypischem Geschlechtsverhalten transsexuell oder Transvestit werde.

In diesem hemmungslos homophoben Text wird zweierlei deutlich. Zum einen belegt er die Wechselwirkung zwischen der Besorgnis von Eltern über geschlechtsuntypische Verhaltensweisen ihrer Kinder und der Diag­nose Geschlechtsidentitätsstörung. Man kann angesichts dieses Textes formelhaft sagen: Die Diagnose Geschlechtsidentitätsstörung ist der in pathologisierende Terms gefasste Ausdruck der elterlichen Besorgnis über die nicht geschlechtskonforme Entwicklung ihrer Kinder. Zugleich affirmiert diese Diagnose die elterliche Besorgnis und Ablehnung einer solchen Entwicklung.

Der Text bestätigt ferner die von manchen vertretene Ansicht, dass die Diagnose Geschlechtsidentitätsstörung die Funktion übernommen hat, die vormals die Diagnose Homosexualität im DSM einnahm. Die Homosexualität basiert aber nicht auf einer Geschlechtsidentitätsstörung, wie der Autor suggeriert und auch andere annehmen. Sie ist eine sexuelle Objektwahl, und diese Objektwahl steht in keinem nachweisbaren Zusammenhang mit einer Geschlechtsidentitätsstörung. Homosexuellenfeindlich ist eine solche Position insofern, als, wie Butler in diesem Zusammenhang anmerkte, die Art, wie die Störung der Geschlechtsidentität von Forschern und Praktikern aufgegriffen wird, „stillschweigend die These voraussetzt, dass Homosexualität der Schaden ist, der aus einer solchen Geschlechtsveränderung folgen wird“ (2009: 131).

Aufgreifen möchte ich noch einen anderen Aspekt in diesem Text. Offenbar reagierte die Mutter auf das effeminierte Verhalten des Sohnes anders als der Vater. Während die Reaktion der Mutter als besorgt geschildert wird, war der Vater über das Verhalten seines Sohnes zunehmend auf­gebracht und entfremdete sich immer mehr von ihm. Es scheint so, als ob diese heftige emotionale Reaktion ihres Mannes die Mutter stärker irritiert hat als das Verhalten ihres Sohnes als solches. Nun könnte man sich fragen, welche Ängste hinter der abgestuften Besorgnis der Mutter stehen. Da wir aber nicht genug darüber wissen, brächte die Antwort auf diese Frage nur eine schlechte Spekulation hervor. Bleiben wir also bei den unterschied­lichen Reaktionen von Vater und Mutter auf das von beiden als effeminiert erlebte Verhalten ihres Sohnes und fragen uns, warum sich der Vater ­dadurch so bedroht fühlte, dass er sich von seinem Sohn entfremdete. Ich bin zwar versucht, im Anschluss an meine Überlegungen zur Erotisierung des Vaters durch den homosexuellen Jungen diese starke Reaktion des ­Vaters als Angst vor der homosexuell getönten Liebe seines Sohnes zu interpretieren. Aber auch das wäre nur eine Spekulation.

Ich möchte mich der so offenkundig geschlechtsspezifisch konnotierten Reaktion auf das „weibliche Verhalten“ eines Jungen deshalb aus einer ­anderen Perspektive nähern und fragen, ob diese Reaktion in einem Zusammenhang mit dem „Problem der männlichen Identität“ steht. Ist die männliche Identität, so wie sie in unserer Kultur konstruiert ist, möglicherweise durch die Weiblichkeit im und am Mann bedroht? Kann eine männliche Identität nur dann aufrechterhalten werden, wenn weibliche Anteile abgewehrt werden? Dass Weiblichkeit ein Problem für die männliche Entwicklung sein kann oder ist, darauf deutet eine Vielzahl von psychoanalytischen Texten hin. Eine prägnante, von Ralph Greenson stammende Formulierung zu dem Problem der männlichen Entwicklung soll als Beleg dafür aus­reichen. Ihm zufolge ist es eine „Tatsache, dass das männliche Kind, um ein ­gesundes Männlichkeitsbewusstsein zu erlangen, sein primäres Identifizierungsobjekt, die Mutter, aufgeben und sich statt dessen mit dem Vater identifizieren muss“ (1982: 257). Ilka Quindeau kommt in ihrem Buch „Verführung und Begehren“ nach der Durchsicht psychoanalytischer Arbeiten zur Männlichkeit zu folgendem Schluss: Die „Sichtweise der ‚Desidentifizierung‘ ist bis heute im psychoanalytischen Diskurs weit verbreitet und scheint das psychoanalytische Verständnis von Männlichkeit wesentlich zu bestimmen“ (2008: 192). Tatsächlich gewinnt man, nicht nur nach der Lektüre der entsprechenden psychoanalytischen Texte, sondern auch mit Blick auf die kulturelle Konstruktion von Männlichkeit, den Eindruck, der Mann müsse, um sich als Mann zu fühlen, beständig Weibliches in Männliches verwandeln bzw. umschreiben (vgl. hierzu Lidz und Lidz 1991). Und es scheint, als ob die Integration weiblicher Wünsche, die gleichbedeutend ist mit der Integration „passiv-femininer Bedürfnisse“, sich mit einer stabilen männlichen Identität nicht verträgt.

Die Identifizierung mit der Mutter und die als notwendig angesehene, offenbar aber nicht wirklich gelingende Beendigung der Identifizierung mit ihr führt nach der in der Psychoanalyse vorherrschenden Meinung ­dazu, dass Männer ihrer Männlichkeit weitaus unsicherer sind als Frauen ihrer Weiblichkeit. Wenn die Geschlechtsidentität des Mannes tatsächlich fragiler ist als die der Frauen, drängt sich die Frage auf, auf welche Art und Weise Männer versuchen, die von der fraglichen Geschlechtsidentität erzeugte Spannung zu bewältigen. Wir könnten, ausgehend von dem ­Befund der fragilen Geschlechtsidentität der Männer, auch die kulturellen Konstruktionen von Männlichkeit nach den Niederschlägen dieser fragilen Identität befragen und zugleich untersuchen, ob und inwiefern diese als ­Bewältigungsstrategien der fragilen männlichen Identität zu interpretieren sind. Eine solch detaillierte Analyse würde indes den Rahmen dieses Vortrags sprengen. So viel lässt sich jedoch sagen: Einer der Niederschläge der durch die fragile männliche Identität erzeugten Spannung ist die polare Konstruktion der Geschlechter und damit einhergehend eine rigide Konstruktion der Geschlechtsrollen. Nehmen wir beide Geschlechter in den Blick, dann erweist sich indes, dass die männliche Geschlechtsrolle sehr viel rigider konstruiert ist als die von Frauen. Abzulesen ist das schon an dem von Frauen mit größter Selbstverständlichkeit betriebenen Cross-Dressing. Frauen tragen allenthalben Hosen und verlieren dadurch nichts von ihrer Weiblichkeit, weder vor sich selbst noch in den Augen der anderen. Stünde ich aber in einem Rock vor Ihnen, wären Sie vermutlich aufs Höchste irritiert und Sie würden sich zugleich fragen, was für ein Mann ich bin und ob ich überhaupt ein Mann bin. Heftiger als die Frauen im Saal würden mit Gewissheit die Männer im Saal auf ein solches Cross-Dressing von mir reagieren. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich unter solchen Voraussetzungen bei den Männern kein Bein mehr auf den Boden bekäme.

Was, wenn das zutrifft, zeigt das? Es zeigt, dass der Mann sich als Mann nur dann sicher fühlt, wenn an ihm nichts Weibliches aufscheint, und es zeigt zugleich, dass die Männer angestrengt damit beschäftigt sind, sich Weiblichkeit, die auch sie in sich tragen, weil auch sie psychisch gesehen nicht nur ein Geschlecht sind, vom Leibe zu halten. Bislang wenigstens war die männliche Identität durch diese und andere Formen der Abwehr von Weiblichkeit gekennzeichnet. Am Horizont zeichnet sich jedoch eine andere Form von Männlichkeit ab, eine Männlichkeit, in der die Integration weib­licher Anteile möglich erscheint und, wenn auch mit unterschiedlicher ­Akzentuierung, vollzogen wird. Dafür gibt es eine Vielzahl von Gründen. Der ausschlaggebende Grund scheint mir darin zu liegen, dass die Mütter, mit denen sich Jungen in ihrer Entwicklung identifizieren und von denen sie nach der psychoanalytischen Lehre sich entidentifizieren müssen, stärker als zuvor beide Geschlechter repräsentieren. Aber auch die Väter, jedenfalls manche, sind sozusagen mütterlicher geworden. Das erleichtert den Jungen die Identifizierung mit ihren Vätern, und zwar deshalb, weil sie sie nicht mehr in scharfem Gegensatz zu ihrem ersten Identifizierungsobjekt, der Mutter, erleben, und es ermöglicht zugleich die Entidentifizierung von der Mutter, ohne Weiblichkeit verwerfen zu müssen.

Aber auch wenn die Geschlechtsidentität von Frauen weniger prekär als die von Männern ist, gilt für sie gleichermaßen, dass die Geschlechtsidentität nichts ist, was nach ihrer Grundlegung in der frühen Kindheit ein für allemal gegeben ist und worüber man ohne weiteres Zutun verfügen kann. Sie bleibt brüchig und konflikthaft und ist zu ihrer Aufrechterhaltung auf Anerkennung in der Interaktion mit anderen angewiesen. Das gilt, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß und unter Einsatz unterschiedlicher Modi der Anerkennung, sowohl für Männer als auch für Frauen.

1 Erweiterte Fassung eines Vortrags, gehalten auf dem Symposium anlässlich des 60. Geburtstages von Hertha Richter-Appelt am 19. September 2009 in Hamburg.

Literatur

1 Erweiterte Fassung eines Vortrags, gehalten auf dem Symposium anlässlich des 60. Geburtstages von Hertha Richter-Appelt am 19. September 2009 in Hamburg.

2 Die Annahme einer stimmigen und in sich konsistenten Geschlechtsidentität, die von der diagnostischen Kategorie „Geschlechtsidentitätsstörung“ nicht zu trennen ist, lässt außer Acht, dass jedwede Geschlechtsidentität auf Abwehr und Abspaltung von Vorstellungen und Handlungen basiert, die mit ihr nicht vereinbar zu sein scheinen. Diese Abwehrmanöver zur Aufrechterhaltung der Geschlechtsidentität deuten darauf hin, dass Geschlechtsidentität tatsächlich nicht eindeutig und in sich stimmig ist, sondern flüssig und labil, und dass sie beständig durch die Zweigeschlechtlichkeit, auf die sie notwendigerweise bezogen bleibt, gefährdet ist.

3 Das gilt insbesondere für Mann-zu-Frau-Transsexuelle, deren Körper auch nach sogenannten geschlechtskorrigierenden Maßnahmen häufig Männlichkeit in einer Weise repräsentiert, die der alltäglichen, von Klischees durchsetzten Wahrnehmung eine Frau zeigt, die körperlich ein Mann gewesen ist.

4 Inhärent ist der Diagnose Geschlechtsidentitätsstörung die Annahme, dass dem Körper eine Kraft innewohnt, welche die Geschlechtsidentität in der Regel in eine Richtung lenkt, die dem biologischen Körper entspricht.

5 Nach dem immer noch gültigen Transsexuellengesetz ist die Personenstandsänderung erst dann möglich, wenn Transsexuelle operative Eingriffe an den äußeren Geschlechtsmerkmalen an sich haben vollziehen lassen, die das Ziel haben, sie in körperlicher Hinsicht an das von ihnen gewünschte Geschlecht anzupassen. An dieser Voraussetzung wurde auch in dem inzwischen zurückgezogenen Entwurf zur Revision des Transsexuellengesetzes festgehalten. Die in diesem Entwurf enthaltene Vorstellung eines eindeutigen geschlechtlichen Erscheinungsbildes wurde in einer Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung (DGfS) zurück­gewiesen. In dieser Stellungnahme wurde zudem darauf hingewiesen, dass diese Voraussetzung über die Köpfe und die Wünsche vieler Transsexueller hinweggeht und in der Realität sich immer stärker eine Geschlechtsvielfalt durch­gesetzt hat. Diese Tendenz wird auch ein noch so rigide gefasstes Transsexuellengesetz nicht aufhalten können (vgl. DGfS 2009).

6 Isay verlangt von den Eltern stattdessen, dass sie die „geschlechtsuntypischen Wesens­züge“ solcher Jungen bestärken. Im Sinn hat er dabei auch, dass Eltern sich schützend vor ihre femininen Jungen stellen, wenn diese von der weiteren ­sozialen Umgebung wegen ihrer Erscheinungsweise abgelehnt und ausgegrenzt werden.

  • 1 [ATME] .Aktion Transsexualität und Menschenrecht. USA: Forderung nach Abschaffung der ­Geschlechtsidentitätsstörung, 21. Mai 2009 [Als Online-Dokument: http://www.atme-ev.de/index.php?limitstart=18]
  • 2 Butler J. Die Macht der Geschlechternormen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009
  • 3 Dannecker M. Probleme der männlichen homosexuellen Entwicklung. In: Sigusch V, Hrsg. Sexu­elle Störungen und ihre Behandlung. 4., überarb. u. erw. Aufl. Stuttgart, New York: Thieme 2007: 55–65
  • 4 [DGfS] Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung .Stellungnahme zur Reform des Trans­sexuellengesetzes, Mai 2009. [Als Online-Dokument: http://www.dgfs.info/Dok-091104%20%28DGfS,%20StellungnahmeTSG%202009%29.pdf]
  • 5 Fitzgibbons R P. Geschlechtsidentitätsstörungen bei Kindern. Bulletin 02 / 2008 [Als Online-Dokument: http://dijg.de/fileadmin/dijg-uploads/pdf/bulletin_16_2008_fitzgibbons.pdf]
  • 6 Friedman R C. Männliche Homosexualität. Berlin, Heidelberg: Springer; 1993
  • 7 Friedman R C. Gender Identity. Psychiatric News, 19. Januar 1998. [Als Online-Dokument: http://www.psychiatricnews.org/pnews/98-01-19/gender.html]
  • 8 Greenson R R. Psychoanalytische Erkundungen. Stuttgart: Klett-Cotta 1982; 257–264
  • 9 Isay R A. Schwul sein. Die Entwicklung des Homosexuellen. München, Zürich: Piper 1990
  • 10 Isay R A. Remove Gender Identity Disorder from DSM. Psychiatric News, 21. November 1997
  • 11 Lidz T, Lidz R W. Weibliches in Männliches verwandeln: Männlichkeitsrituale in Papua Neu­guinea. In: Friedman RM, Lerner L, Hrsg. Zur Psychoanalyse des Mannes. Berlin, Heidelberg: Springer 1991; 115–133
  • 12 Preuss W F. Geschlechtsidentitätsstörungen – welche Aufgabe hat die Psychotherapie?. Vortrag, gehalten vor der NGaT in Bad Malente, 13. September 2003. [Als Online-Dokument: http://www.ngat.de/download/0309Preuss.pdf]
  • 13 Quindeau I. Verführung und Begehren. Die psychoanalytische Sexualtheorie nach Freud. Stuttgart: Klett-Cotta 2008

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