Rofo 2011; 183(3): 291-294
DOI: 10.1055/s-0029-1246067
Leserbrief

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Leserbrief: Hammer et al. Inzidenz von Kinderkrebs nach Röntgendiagnostik im Patientenkollektiv der Jahre 1976 – 2003 einer Universitäts-Kinderklinik. Fortschr Röntgenstr 2010; 182: 404 – 414

 
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22 February 2011 (online)

Die Ergebnisse der o. g. Studie [1], die auf Daten einer Münchner Universitäts-Kinderklinik und des Mainzer Kinderkrebsregisters beruhen, werden nach außen so interpretiert, als bestünde kein Risiko durch diagnostisches Röntgen im Kindesalter – „Es wurde keine erhöhte Krebsinzidenz an soliden Tumoren oder Leukämie beobachtet und auch kein Trend einer steigenden Inzidenz mit höheren Strahlendosen” – heißt es in einer Zusammenfassung der Autoren für das Mitteilungsblatt des Umweltbundesamtes (UMID Ausgabe 3 / 2010). Zu keiner der genannten Fragestellungen konnte jedoch ein signifikantes Ergebnis für oder wider eine Wirkung der Röntgendiagnostik geliefert werden. Im Interesse des medizinischen Strahlenschutzes erscheint es uns notwendig, auf die mangelnde Aussagefähigkeit dieser Studie näher einzugehen.

Von vornherein konnten mit dem gewählten methodischen Ansatz die Fragen nicht sinnvoll bearbeitet werden, da man alle exponierten Kinder bis 14,5 Jahre betrachtet und sich auf die Folgen der Exposition im Kindesalter beschränkt, d. h. auf die im Mainzer Kinderkrebsregister erfassten Fälle im Alter bis unter 15 Jahren. Nach wenigen Jahren Beobachtungszeit – in der Studie im Mittel 7,8 Jahre – verlässt das exponierte Kind diese Altersklasse und es gibt das Latenzzeitproblem.

Nur strahleninduzierte Leukämie und vielleicht die sehr seltenen Knochensarkome zeigen sich bereits nach kurzer Zeit. In [Abb. 1] sind die Latenzzeitverteilungen aus dem Hiroshima/Nagasaki-Kollektiv für Leukämie aufgetragen. Für Atombombenüberlebende, die im Alter unter 15 Jahren bestrahlt wurden, wird das Leukämierisiko etwa nach 17 Jahren unbedeutend. Man sieht, dass man in 7,8 Jahren kaum mehr als die Hälfte der Fälle erwarten kann, auch wenn man einrechnet, dass eine Untererfassung in den ersten 5 Jahren erfolgte, da danach erst das Forschungsinstitut seine Arbeit aufnahm. Die Fälle müssten allerdings schon nach einer sehr kleinen mittleren effektiven Dosis von 135 μSv (!) statistisch nachweisbar sein.

Abb. 1 Zeitlicher Verlauf der Leukämierate in Jahren in Hiroshima und Nagasaki [1] für verschiedene Altersklassen zum Zeitpunkt der Bombenexplosion (ATB).

Das ausgewählte Kollektiv war mit etwa 93 000 zwar sehr groß, erhielt aber wegen des Überwiegens von Knochenaufnahmen vornehmlich sehr kleine Dosen. Nur 3428 bestrahlte Kinder wurden in eine Dosisgruppe „oberhalb von 0,5 mSv” eingeordnet, die nicht weiter aufgeschlüsselt ist. Darin sind auch die CT-Untersuchungen enthalten.

Die Autoren machen sich nicht die Mühe abzuschätzen, wie viele Krebsfälle sie in ihrem Kollektiv überhaupt erwarten können. Für pränatale Exposition zitieren sie ein absolutes Strahlenrisiko von ca. 6 % pro Sv. Leukämie macht etwa 50 % der Fälle aus [2], entsprechend beträgt das Strahlenrisiko für Leukämie 3 % pro Sv. Da nach allgemeiner Einschätzung die Empfindlichkeit bei postnataler Exposition geringer ist, kann man daraus eine Obergrenze des Strahlenrisikos errechnen.

Das Leukämierisiko von 3 % pro Sv bedeutet, dass in einem Kollektiv von 10 000 Personen, die mit jeweils 1 Sv exponiert werden, 300 Fälle zu erwarten sind, bei einem unvollständig beobachteten Kollektiv wie in der Röntgenstudie nur vielleicht 150 Fälle. Die Studie umfasst 92 957 Personen, die mittlere Dosis war 135 µSv, die Kollektivdosis also 12,5 PersSv. Damit würde man 1,5 % × 12,5 = 0,19 zusätzliche Leukämiefälle erwarten. Das zeigt, dass eine Erhöhung um z. B. einen Faktor 2 schon aus statistischen Gründen nicht nachweisbar wäre. Im Vergleich zur Inzidenz in der kindlichen Bevölkerung der BRD ergäbe sich ein SIR von 1,007. Dieser Wert ist deutlich kleiner als das Ergebnis in der Röntgenstudie für Leukämie nach Tab. 4 mit SIR = 1,08 und einem Vertrauensbereich von 0,74 – 1,52.

Noch grotesker muten die Versuche an, etwas über die Krebserkrankungen außer Leukämie auszusagen. Bei denjenigen Atombombenüberlebenden, die im Alter bis zu 6 Jahren bestrahlt wurden, trat kein solider Tumor vor dem Lebensalter 16 Jahre auf [3]. Danach würde man in der Röntgenstudie überhaupt keinen zusätzlichen Fall erwarten. Bei Kindern, die wegen M. Hodgkin eine Strahlentherapie erhielten, waren in einer Langzeituntersuchung nach 20 Jahren erst 7 % der soliden Tumoren aufgetreten [4]. Für Lymphome nach Strahlentherapie bei Kindern wird eine mittlere Latenzzeit von 22,7 Jahren berichtet [5]. Bei ZNS-Tumoren wurden mittlere Latenzzeiten von über 30 Jahren festgestellt [6] [7] [8].

Die Autoren halten ihre Ergebnisse für so bedeutsam, dass sie sie gleich zweimal veröffentlicht haben (Radiat Res 2009; 171: 504 – 512). Selbstverständlich ist es überaus sinnvoll, danach zu fragen, ob es einen messbaren Beitrag durch Medizindiagnostik an dem Zuwachs kindlicher Krebserkrankungen gibt, der seit Jahrzehnten bei uns zu beobachten ist. Nach dem Mainzer Kinderkrebsregister lag die Erkrankungsrate für Leukämie 1980 bei 3,5 Fällen auf 100 000 pro Jahr und ist heute mit jährlich 4,7 Fällen auf 100 000 um 34 % höher [9].

Demgegenüber wird die statistische Nachweisstärke (Power) der Untersuchung so angegeben, dass ein SIR von 1,4 für Krebs insgesamt und 1,8 für Leukämie nachweisbar wäre. D. h. nur wenn die Erhöhung für Leukämie über 80 % läge, wäre sie mit ausreichender statistischer Sicherheit nachweisbar. Bei einem erwarteten Zusatzrisiko für Leukämien von 0,7 % konnte die Studie also prinzipiell nichts zur Klärung der obigen Frage beitragen, selbst wenn das ausgewählte Patientengut für den entsprechenden Zeitraum repräsentativ wäre. Das ist es aber nicht.

Der Mitautor Schneider der Studie hat sich anhand eigener Forschungen für Qualitätskriterien bei diagnostischen Aufnahmen eingesetzt. Untersuchungen im europäischen Rahmen ab 1989 hatten Unterschiede in der Exposition bis zum Faktor 50 für die gleiche Röntgenuntersuchung beim kindlichen Patienten ergeben [10]. Der Grund lag nicht nur in unterschiedlich alten Geräten, sondern auch darin, dass es durch mangelnde Optimierung und Fehlbedienung zu erheblichen Dosiserhöhungen kommen konnte.

Trotz der Geringfügigkeit des zu erwartenden Effekts in der kommentierten Studie zeigt sich ein interessanter Trend mit der Dosis. Es ist bekannt, dass Jungen bezüglich Leukämie strahlenempfindlicher sind als Mädchen [11]. In [Abb. 2] ist das relative Risiko (SIR) für alle Krebserkrankungen bei Jungen nach Dosisgruppen aufgetragen. Der positive Trend ist zwar nicht signifikant, es lässt sich aber vermuten, dass bei einer Erweiterung des Kollektivs eine Dosiswirkungsbeziehung nachweisbar wäre. Die Autoren hielten das nicht für erwähnenswert.

Abb. 2 Relatives Krebsrisiko bei Jungen in Abhängigkeit von der kumulierten Dosis nach diagnostischem Röntgen und Ergebnis einer Poissonregression. Wegen geringer Fallzahlen ist der Trend nicht signifikant (p = 0,163, zweiseitiger Test).

Hingegen wird behauptet, dass durch die neue Studie die Ergebnisse früherer Fall-Kontroll-Studien bestätigt würden, unter anderem die Ergebnisse zweier Studien des Mainzer Kinderkrebsregisters. Nicht erwähnt wird die vom Niedersächsischen Sozialminister in Auftrag gegebene „Fall-Kontroll-Studie zu den Ursachen von Leukämie bei Kindern in Niedersachsen”, die ebenfalls vom Mainzer Kinderkrebsregister durchgeführt wurde. Ihr Ausgangspunkt war eine in den Jahren 1985 – 1989 aufgetretene Häufung kindlicher Leukämiefälle in der Samtgemeinde Sittensen. Es gab Indizien dafür, dass übermäßiges Röntgen die Ursache war [12]. Unter den untersuchten Expositionen erwies sich diagnostisches Röntgen als relevanter Risikofaktor. Das Sittensen-Cluster wurde bei den Ergebnissen und in der Diskussion nicht mehr erwähnt. Jedoch heißt es in einer Publikation von Kaatsch et al. über die Niedersachsenstudie unter den zusammengefassten Ergebnissen: „Bei den mehr als viermal geröntgten Kindern ergab sich eine Assoziation mit der Häufigkeit der Leukämieerkrankungen.....” [13].

Eine der zitierten Untersuchungen aus Mainz befasst sich mit den möglichen Ursachen von ZNS-Tumoren, wiederum nur bei Kindern [14]. Ein Einfluss von postnatalem Röntgen wird nicht gefunden, konnte auch nicht gefunden werden, weil die zu erwartenden Latenzzeiten typischerweise über die Altersgrenze der untersuchten Kinder (15 Jahre) hinausreichen.

Vom Bundesamt für Strahlenschutz wird die mittlere effektive Dosis der Deutschen durch Röntgendiagnostik im Jahr 2006 zu 1,8 mSv angegeben, das ergibt bei 82,4 Millionen Einwohnern eine effektive Kollektivdosis von 148 320 PersSv. Davon sollen ca. 2 % auf kindliche Patienten entfallen, also ca. 3000 PersSv in einem einzigen Jahr. Das ist das 240-fache der Exposition in der Röntgenstudie. Die Hauptaussage der Studie, dass diagnostisches Röntgen im Kindesalter kein erhöhtes Krebsrisiko darstellt, ist kontraproduktiv, weil sie die Ärzte, auf deren Strahlenschutzbewusstsein wir uns verlassen müssen, in falscher Sicherheit wiegt.

Prof. Dr. Inge Schmitz-Feuerhake, Hannover Dr. Alfred Körblein, Nürnberg Dr. Sebastian Pflugbeil, Berlin

Literatur

  • 1 Hammer G P, Seidenbusch M C, Schneider K et al. Inzidenz von Kinderkrebs nach Röntgendiagnostik im Patientenkollektiv der Jahre 1976 – 2003 einer Universitäts-Kinderklinik.  Fortschr Röntgenstr. 2010;  182 404-414
  • 2 Bithell J F, Stewart A M. Pre-natal irradiation and childhood malignancy: a review of British data from the Oxford Survey.  Br J Cancer. 1975;  31 271-287
  • 3 Delongchamp R R, Mabuchi K, Yoshimoto Y et al. Cancer mortality among atomic bomb survivors exposed in utero or as young children, October 1950-May 1992.  Radiat Res. 1997;  147 385-395
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