Z Sex Forsch 2024; 37(01): 45-46
DOI: 10.1055/a-2231-4585
Bericht

Sexuell gesund – selbstbewusst schön

Bericht zur Jahrestagung der Gesellschaft für Sexualwissenschaft e. V.
Anja Jonas
Promotionszentrum für Gesundheit, Wirtschaft und Soziales; Hochschule Merseburg
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Die diesjährige Fachtagung der Gesellschaft für Sexualwissenschaft e. V. fand erstmalig in den Räumen des Instituts für Psychologische Therapie e. V. in Leipzig statt und widmete sich verschiedenen Facetten sexueller Gesundheit. Dabei stand in Anlehnung an die Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die respektvolle und positive Haltung zu Sexualität und sexuellen Beziehungen als Grundvoraussetzung für sexuelle Gesundheit im Fokus, verbunden mit der Möglichkeit, angenehme und sichere sexuelle Erfahrungen frei von Gewalt und Diskriminierung zu erleben. Die individuelle und selbstbestimmte Entwicklung der geschlechtlichen Identität und deren angstfreies Ausgestalten sind wichtige Bedingungen für sexuelle Gesundheit. Der Fachtag war in vier themenspezifische Blöcke unterteilt. Neben den Bereichen Geschlechtergesundheit, sexuelle reproduktive Selbstbestimmung und Sexarbeit wurden ausgewählte Ergebnisse der Studien „Gesundheit und Sexualität in Deutschland“ (GeSiD) und „Erfahrungen und Lebenslagen ungewollt Schwangerer – Angebote der Beratung und Versorgung“ (ELSA) vorgestellt.

Innerhalb des ersten Themenblocks zu Funktionsstörungen und Verhaltensmustern männlicher Sexualität betonte Dr. med. Christian Kriegel (niedergelassener Urologe, Leipzig) die Bedeutung psychogener, stressbedingter Ursachen als Auslöser für erektile Dysfunktionen neben den oft beschriebenen organischen Ursachen. Bekanntlich existieren die Symptome in vielen Fällen nicht isoliert, sondern erfahren Verstärkung beispielsweise durch Versagensängste oder divergierende Erwartungshaltungen innerhalb von (neu konstituierten) Paarbeziehungen. Neben Ausführungen zum diagnostischen Vorgehen wurden aktuell praktizierte ambulante und stationäre Therapieansätze vorgestellt und detailliert erläutert, z. T. unterstützt durch Gesundheits-Apps und die Möglichkeit professioneller psychosozialer Begleitung.

Eine andere Perspektive auf männliche Sexualität gewährte der Sozialwissenschaftler und wissenschaftliche Vorstand der Stiftung Männergesundheit e. V. Dr. phil. Matthias Stiehler (Gesundheitsamt Dresden), der auf umfangreiche Erfahrungen in der Beratung zu sexuell übertragbaren Infektionen (STI) und Präventionsarbeit zurückblicken kann. In seinem Vortrag standen neben statistischen Eckpunkten auch individuelle Beratungsbedarfe zum Risikoverhalten im Vordergrund. So skizzierte er verschiedene Prinzipien männlicher Sexualität mit den Schwerpunkten Lust, Emotionalität, Ängste und Sehnsüchte. In der anschließenden Diskussion wurden verschiedene Gesprächsformate vorgestellt und aktuelle Testverfahren der Aids/STI-Beratung aufgezeigt.

Im zweiten Themenblock, der sich der weiblichen Sexualität aus fertiler, funktionaler und ästhetischer Perspektive widmete, stellte anfangs Dr. med. Alexander Jank (Gynäkologe mit Schwerpunkt gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin, Leipzig) verschiedene Möglichkeiten konservativer Kinderwunschtherapien bei unterschiedlichen Paarkonstellationen vor. Neben einem kurzen statistischen Abriss ging er auf die Veränderungen und Diversifizierungen in der Reproduktionsmedizin ein, stets mit Fokus auf die individuelle reproduktive Selbstbestimmung. Innerhalb seiner jahrelangen Berufspraxis würden Paare zunehmend die Möglichkeit der psychosozialen Begleitung durch integrierte Kinderwunschberatung in Anspruch nehmen. In der anschließenden Diskussionsrunde kam es zu einem kurzen Exkurs zu rechtlichen Rahmenbedingungen der Reproduktionsmedizin im europäischen Ausland.

Dr. med. Tom Kempe (Urogynäkologe, Universitätsklinikum Leipzig) referierte über Bedeutung und Funktion des weiblichen Beckenbodens. Dabei ging er umfassend auf aktuelle Diagnoseverfahren und Therapieansätze bei Funktionsstörungen ein. Hierbei wurde der Zusammenhang zwischen Art und Anzahl an Geburten, prädisponierenden Faktoren wie Bewegungsmangel, Adipositas und daraus resultierenden möglichen funktionellen Beeinträchtigungen des Beckenbodens aufgezeigt. 2022 erhielt Tom Kempe im Rahmen der Zertifizierung Urogynäkologie und plastische Beckenbodenrekonstruktion erneut das höchste Qualitätssiegel AGUB III. Neben rekonstruktiven Verfahren kommen auch konservative Therapieansätze wie Beckenbodentraining, postpartale Rückbildungsgymnastik und die Anwendung von Pessaren zur Unterstützung bei bestehenden Funktionseinschränkungen sehr erfolgreich zum Einsatz.

Im anschließenden Vortrag widmete sich Dr. med. Marwan Nuwayhid (Gynäkologe/Präsident der International Society of Reconstructive and Aesthetic Intimate Treatments – ISRAIT) selbstbestimmter Sexualität am Beispiel von ästhetischer Intimchirurgie. Neben rekonstruktiven Maßnahmen bei Erkrankungen, Verletzungen oder Unfällen würden ästhetische Anpassungen im weiblichen Intimbereich – oft tabuisiert – auch in Deutschland zunehmend nachgefragt. Der Wunsch nach selbstdefinierter Schönheit werde somit Ausdruck und Grundlage für körperliches Wohlbefinden und erfüllte Sexualität. Marwan Nuwayhid visualisierte Ergebnisse verschiedener Operationsmethoden und stellte unterschiedliche Erwartungen aus Patient*innensicht vor. Als Mitbegründer der Gesellschaft für ästhetische und rekonstruktive Intimchirurgie Deutschland (GAERID e. V.) setzt er sich aktiv gegen weibliche Genitalverstümmelung ein und bietet Betroffenen rekonstruktive Hilfe an. In der anschließenden Diskussion wurden teils sehr divergierende Haltungen zu Schönheitsdefinitionen weiblicher Körper mit Verweis auf Idealisierungen insbesondere in medialen Kontexten deutlich.

Herausforderungen in eigenverantwortlicher Entscheidung demonstrierte Susanne Rau (Selbstbestimmt steril e. V.) am Beispiel des Sterilisationswunsches von Personen mit Uterus. Rau berichtete über die Entstehung des Vereins, dessen Ziele und Aufgaben u. a. hinsichtlich der Bereitstellung einer Liste kooperierenden Ärzt*innen in Deutschland. Sie schilderte eigene Erfahrungen, kombiniert mit Berichten Betroffener, die wie sie mehrfach Ablehnung und Verweigerung erfahren mussten. Nur wenige Ärzt*innen seien in Deutschland bereit, dem Wunsch bestimmter Altersgruppen nach einer Operation zur dauerhaften Empfängnisverhütung (Tubenligatur bzw. laparoskopische Koagulation) nach entsprechender professioneller Beratung nachzukommen. Susanne Rau betonte, dass den invasiven Maßnahmen intensive Auseinandersetzungen mit der Entscheidung für ein Leben ohne eigene Kinder vorausgingen, die Rate angestrebter Refertilisierungen ihren Recherchen nach sehr gering sei. In der Diskussionsrunde wurde die nicht völlig auszuschließende Möglichkeit von ektopen Schwangerschaften (Extrauteringraviditäten) nach Sterilisation ergänzend erwähnt.

Der dritte Block der Fachtagung widmete sich aktuellen Studien mit Schwerpunkt sexueller, aber auch reproduktiver Gesundheit. Laura Pietras (Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf) präsentierte ausgewählte Ergebnisse der 2019 durchgeführten Studie „Gesundheit und Sexualität in Deutschland“ (GeSiD). Bundesweit wurden 4 955 Erwachsene zu sexuellen Erfahrungen, Beziehungen und Einstellungen befragt. So ließe sich beispielsweise ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Informiertheit, dem Kommunikationsverhalten über STI und dem Alter der Befragten nachweisen. Grundsätzlich scheinen 18- bis 35-Jährige über STI besser informiert zu sein als ältere Altersgruppen, was im Zusammenhang mit zunehmender schulischer Sexualaufklärung stehen könnte. Weiterhin äußerten Frauen bis 35 Jahre am häufigsten den Wunsch nach einer offenen Thematisierung innerhalb von Arztgesprächen, insgesamt sprachen laut Studie Frauen häufiger als Männer und jüngere Personen häufiger als ältere mit ihrem Arzt oder ihrer Ärztin über STI.

Über die ELSA-Studie zu Erfahrungen und Lebenslagen ungewollt Schwangerer informierte Tilmann Knittel (SoFFI F. Freiburg). Das Kooperationsprojekt mit sechs Hochschulen und Universitäten untersucht Einflussfaktoren auf das Erleben und Verarbeiten einer ungewollten Schwangerschaft. Erste Ergebnisse verdeutlichen, dass schwierige Lebensumstände bei ungewollten Schwangerschaften häufiger in Zusammenhang mit einem geringeren Wohlbefinden stehen, sowohl während als auch bereits vor Eintreten einer Schwangerschaft. Gleichzeitig wurden die heterogenen Lebenslagen von ungewollt Schwangeren im Vergleich zu den eher homogenen Lebenslagen gewollt Schwangerer sichtbar. Tilmann Knittel konkretisierte, welche Schwierigkeiten sich im Forschungsprozess mit der definitorischen Auseinandersetzung der Begrifflichkeiten ungewollt, ungeplant und geplant schwanger ergaben und in Ansätzen wurde auch die Entstehungsgeschichte der Studie kritisch hinterfragt.

Der vierte Block des Fachtages setzte sich mit Sexarbeit auseinander und mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie und den Änderungen des Prostituiertenschutzgesetzes. Lydia (Sexarbeiterin, Leipzig) präsentierte Einblicke in Erotikdienstleistungen aus persönlicher Perspektive vor dem Hintergrund aktueller gesetzlicher Verordnungen. Sie berichtete von eigenen Erfahrungen in Beratungen im Zwangskontext und zeigte potenzielle Gefahren im Umgang mit dem Aliasausweis auf inkl. medizinischer Versorgungslücken. Noch immer führten Stigmatisierungen zu Illegalität und damit zu mehr Vulnerabilität unter Sexarbeiter*innen. Zudem existiere weiterhin ein erschwerter Zugang zu Hilfesystemen, weshalb sie auf die Notwendigkeit der Unterstützung durch Interessenvertretungen und Berufsverbände verwies. Info-Material des Berufsverbandes für erotische und sexuelle Dienstleistungen e. V. (BesD) zur Aktion Roter Stöckelschuh lag für Teilnehmende der Tagung bereit.

Linda Apsel und Roxana Schwitalla (Leila Fachberatungsstelle Sexarbeit der aidshilfe leipzig e. V.) verdeutlichten in ihrem Beitrag die Notwendigkeit der professionellen Beratungsarbeit. Rückblickend wurden zahlreiche Einschränkungen während der Corona-Pandemie (vor allem Arbeitsverbote) sichtbar. Die Arbeitsrealitäten von Sexarbeiter*innen, aber auch die Wahrnehmung von Unterstützungsangeboten hätten sich stark verändert, Pflichtberatungen mit Behördencharakter erschwerten die Kontaktaufnahme und den Vertrauensaufbau. Der Schutz von Sexarbeiter*innen und Mitarbeitenden der Erotikbranche müsse oberstes Ziel der Versorgung und Unterstützung sein, damit niederschwellige Angebote wie Fachberatungsstellen als Anlaufstellen für Fragen zu sexueller Gesundheit oder für rechtliche Aspekte stärker wahrgenommen und genutzt würden. Dies schließe den Zugang zur medizinischen Versorgung als Teil sexueller Gesundheit grundlegend mit ein.

Der Fachtag wurde seitens der Sächsischen Landesärztekammer als Fortbildungsveranstaltung zertifiziert. Die Auswertung der eingegangenen Evaluierungsbögen ergab, dass es auch 2023 gelungen ist, die GSW-Tagung interdisziplinär, informativ und abwechslungsreich zu gestalten und Diversität sowohl hinsichtlich der Einzelvorträge als auch der Referierenden zu bieten. Die nächste GSW-Tagung ist für Herbst 2024 geplant.



Publication History

Article published online:
12 March 2024

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