Z Sex Forsch 2024; 37(01): 43-44
DOI: 10.1055/a-2160-7398
Bericht

„Schmerz und Vorurteil“

52. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe vom 18. bis 20. Mai 2023
Claudia Schumann-Doermer
Ärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, Ärztliche Psychotherapeutin, Northeim
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Für die 52. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe (DGPFG) hatte die Vorbereitungsgruppe das große Thema Schmerz gewählt, das mit Mythen und Vorurteilen besetzt ist. Zum Schmerz gehören „Leben – Leiden – Klären – Handeln“, wie die kreisförmige Anordnung dieser Begriffe auf dem Tagungsprogramm anschaulich demonstrierte. Rund 200 Interessierte kamen, überwiegend Frauenärzt*innen, aber auch Hebammen, Psycholog*innen, Physiotherapeut*innen. Für sie war ebenso wie für Studierende attraktiv, dass das Thema nicht nur medizinisch abgehandelt wurde, sondern dass auch medizingeschichtliche, kulturhistorische und philosophische Sichtweisen breiten Platz hatten. Am Eröffnungsabend stellte die Literaturkritikerin Annemarie Stoltenberg alte und neue Bücher vor, um zu erkunden, „ob literarische Zeugnisse Geheimnisse über die Geburt in sich bergen“. Die Erkundung überzeugte.

Die Tagung eröffnete die Philosophin Claudia Bozarro mit philosophischen und medizinethischen Annäherungen an das Postulat „Weh sprich: Vergeh!“. Beim chronischen Schmerz versagten aber oft alle Mittel, der*die Patient*in werde zum „Sklaven seines*ihres Körpers“. Es komme zur Isolation: „Mir fehlt mein Platz in dieser Welt.“ Aus der Hoffnungslosigkeit folge die Frage nach dem Warum und die bittere Erkenntnis der Sinnlosigkeit dieses Schmerzes. Dauer und Sinnlosigkeit seien eine besondere Qual für chronische Schmerzpatient*innen, oft verschärft durch ein mangelndes Verständnis der Umgebung. Neben dem Heilungsauftrag (cure) habe die Medizin aber gerade dann den Auftrag der fürsorglichen Begleitung (care). Schmerz sei eine Grundlage für zwischenmenschliche Solidarität. Der Arzt und Medizinhistoriker Heinz-Peter Schmiedebach stellte den „Schmerz im kulturellen Kontext“ vor. Einleitend ging er auf die historische Entstehung des modernen Schmerzverständnisses ein, das letztlich auf Descartes fuße. Die Verkörperlichung des Schmerzes sei die Voraussetzung für dessen weitgehende Integration in die Medizin gewesen. Ziel der Medizin sei die Beherrschung des Schmerzes. Neu war für viele Zuhörende die von Schmiedebach ausführlich dargestellte Methode des „Dämmerschlafes“ unter der Geburt: Diese kombinierte Skopolamin-Morphium-Injektionsmethode sei ab 1905 in Freiburg systematisch erforscht und später auch in den USA als Fortschritt propagiert worden, um „Frauen vor seelischen Erschütterungen und lebenslangen Geburtstraumatisierungen zu bewahren“. Der Trend zur höchstmöglichen Reduktion des Geburtsschmerzes sei abgelöst durch die Haltung, dass gerade das bewusste Erleben der Geburt Frauen Gelegenheit biete, ihre Stärke und Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Am weiterhin wechselhaften Umgang mit dem Geburtsschmerz zeige sich beispielhaft, dass sich der Schmerz an der Schnittstelle von Körper, Kultur und Medizinsystem gestaltet. Der Mediziner Michael Überall, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin, warnte vor dem Prinzip der Broken-Car-Konzepte, die der Chronifizierung von Schmerzen kaum Einhalt gebieten könnten. Die fehlende diagnostische Relevanz struktureller Auffälligkeiten im Bereich der Wirbelsäule bei chronischen Rückenschmerzen sei bekannt. Dennoch stiegen die Zahlen für Wirbelsäulen-MRT ebenso wie die der Rückenoperationen. Das Problem: Die Macht des Glaubens an die Reparation. Damit kam er zurück auf Descartes, der mit seinem Reflexbogen die Grundlage legte für das verbreitete „Maschinenparadigma“. Ein anderer umfassenderer Ansatz sei notwendig. Langer Applaus bestätigte ihn.

Wichtig war der Vorbereitungsgruppe, nicht nur über den Schmerz zu sprechen, sondern von Schmerzen Betroffene einzubeziehen. Auf einer Podiumsdiskussion stellten Heike Rathmann (Deutsche Schmerzliga e. V.), Anna-Lieka Gneiser (Endometriose-Selbsthilfegruppe Hamburg) und Herta Kühn (Lichen Sclerosus Deutschland e. V., Untergruppe Vulvodynie) ihre Verbände vor. „Zuhören, Verständnis finden, sich gegenseitig unterstützen, gemeinsam Probleme bewältigen“ zeichne Selbsthilfegruppen aus. Damit antworteten sie auf viele in den Hauptvorträgen benannte Probleme bei chronischem Schmerz. Dass medizinische Fachkräfte von sich aus auf die „Kraft der Selbsthilfe“ als Baustein im therapeutischen Prozess hinweisen, war abschließend allen im Raum wichtig.

Die jährlichen DGPFG-Tagungen sind seit Beginn besonders strukturiert: Nach den Hauptvorträgen mit Diskussion im Plenum sind die Nachmittage der Auseinandersetzung mit der Thematik im kleineren Kreis vorbehalten. Auch auf dieser Tagung gab es dafür unterschiedliche Angebote in Form der Gruppen „Mit Meditation Schmerzen lösen“(Marie Mannschatz), „Zapchen/zap-tschén/– Die heilsame Weisheit des Körpers entdecken – ein Weg der Selbstfürsorge zum ‚Wohlsein trotz allem‘“ (Viresha J. Bloemeke) und „Kreative Schreibtherapie im medizinischen Kontext“ (Julia Schwerdtfeger). Parallel zu den fortlaufend stattfindenden Gruppen fanden Workshops statt. Im Symposium „Vorurteil, Schmerz, Lust – Aspekte der Sexualforschung“, veranstaltet von der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung (DGfS), stellte die Psychologin Hannah Warkentin das aktuelle Wissen zu Sexualität bei Borderline-Patient*innen vor. Ihre Vorschläge für die Praxis: Sexuelle Symptomatik konkret, aber behutsam erfragen – Patient*innen dabei Kontrolle geben, immer Konsens erfragen – Ressourcen aktivieren – Behandlungsauftrag/-wunsch klären – aktuelle Belastungen/Gewalt in der Beziehung bearbeiten. Die Psychologische Psychotherapeutin Annika Flöter widmete sich anschließend dem Thema „Lustvoller Schmerz – eine klinische Perspektive auf BDSM und Masochismus“. Im Workshop „Praktische Schmerztherapie“ ging die Schmerztherapeutin Iris Eichler auf den chronischen Unterleibsschmerz ein. Sie schilderte medikamentöse, physiotherapeutische und weitere Therapieansätze und stellte das Konzept einer multimodalen Schmerztherapie vor, das am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) ambulant angeboten wird. Der speziellen Schmerztherapie bei Neugeborenen widmete sich ein weiterer Workshop (Susanne Schmidtke). Ruth Gnirss-Bormet, ärztliche Sexualtherapeutin, ging auf das Thema „Dyspareunie – wenn die Liebe schmerzt“ ein und berichtete anhand einer Kasuistik, dass auch langjährige Symptome durch einen therapeutischen Prozess „verabschiedet werden“ können. Um wirksame Interventionsstrategien ging es im Workshop „Vulvodynie – ein Symptom unserer Zeit?“, gestaltet von den Gynäkolog*innen Sophia Holthausen-Markou und Markus Valk. Der Workshop „Und was mache ich jetzt damit?“, jeweils im Anschluss an die Hauptvorträge, hat Tradition auf DGPFG-Tagungen. Er bietet die Chance, Anregungen und Anstöße zu vertiefen. Erfreulich war der lebendige Austausch zwischen unterschiedlichen Fach- und Altersgruppen. „So viel Raum zur Selbstreflektion, so viel Offenheit – das habe ich noch nie auf einem Medizin-Kongress erlebt“, war die begeisterte Rückmeldung einer Medizinstudentin.

Eine Frühvorlesung eröffnete den zweiten Kongresstag. Die Gynäkologin Friederike Siedentopf, von Beginn an federführend beteiligt an der Leitlinie „Chronischer Unterbauchschmerz der Frau“, stellte deren fünftes Update vor. Sowohl körperliche Veränderungen/Störungen als auch emotionale Konflikte oder psychosoziale Belastungen seien ursächliche Faktoren. Endometriose und Vulvodynie gehörten zu den typischen Krankheitsbildern. Es gebe einen Zusammenhang zwischen chronischem Schmerz und häuslicher/sexueller Gewalt, wobei die Studienlage dazu nicht eindeutig sei. Entsprechend sollten traumatische Erfahrungen und sexueller Missbrauch als mögliche Risikofaktoren angesehen und vorsichtig angesprochen werden, andererseits eine Gewalterfahrung nicht als vorschnelles Erklärungsmodell dienen. Neben der umfassenden Anamnese gebe die ausführliche körperliche Diagnostik mit der Chance des Get in Touch die Möglichkeit, eine belastbare Beziehung zur Patientin aufzubauen. Wenn Ärzt*innen der Patientin „Interesse, Sorgfalt und Zuwendung schenken“, seien sie „schon mittendrin in der Therapie“. Mit dem Satz „Ihre wichtigster Behandlungspartnerin ist die Patientin selbst“ schloss die Vortragende nahtlos an die Berichte aus den Selbsthilfegruppen an, da schloss sich ein Kreis!

Die folgenden Vorträge zentrierten auf den Schmerz am Lebensende und Lebensanfang. Andrea Petermann-Meyer, erfahrene ärztliche Psychoonkologin, stellte die vier Komponenten des Abschiedsschmerzes dar: sozialer, psychischer, körperlicher und spiritueller Schmerz. Die Komponenten könnten sich gegenseitig in der Bewältigung einer bedrohlichen Erkrankung behindern. Eindrucksvoll war ihr Bild eines Flusses, in dem Baumstämme treiben. Wenn sich nur einer querstelle, dann stellten sich auch die anderen quer. Diesen einen Baumstamm gelte es zu finden. Mit dem CALM (Managing Cancer and Living Meaningfully)-Konzept stellte sie eine psychotherapeutische Intervention vor, die in wenigen Sitzungen auch bei Schwerstkranken nachweisbar noch Erleichterung bringen könne.

Und dann die Geburt, der Geburtsschmerz, geschildert in drei Sichtweisen, um erneut die Mehrdimensionalität zu betonen. Erst kam eine „Betroffene“ zu Wort, eine Mutter, Kristin Graf, die authentisch das unterschiedliche Erleben ihrer drei Geburten darstellte. Nach den ersten beiden schmerzvollen Geburten, die sie nachhaltig traumatisiert hätten, sei die dritte Geburt ein wunderbares Erlebnis gewesen, möglich durch selbst angewandte Hypnosetechniken. Daraus habe sie die Methode der „Friedlichen Geburt“ entwickelt, die sie in Fortbildungen weitergebe. Viresha J. Bloemeke, Hebamme und Traumatherapeutin, schilderte ihre Arbeit bei der Begleitung von Frauen und Paaren, die sie wegen seelischen Belastungen und Traumatisierung rund um die Geburt aufsuchen. Oft gehe es um die Diskrepanz von Erwartungen und Erlebtem. Gefühle von Hilflosigkeit, Einsamkeit und Ausgeliefertsein könnten eine Frau traumatisieren, auch wenn die Fachleute von einer „normalen Geburt“ reden würden. Zuletzt kam der Gynäkologe Wolf Lütje zu Wort, der sich als Geburtshelfer und Mann bewusst darauf beschränkte, viele Fragen zu stellen: Ist die Wehe eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, wenn wir schon als Kinder „weh“ mit Schmerz und Drohung verbinden? Sind die Belastungen der Geburt der Schnellkurs fürs Elternsein? Geht der Schmerz weg, wenn man sich auf ihn einlässt? …. Viele offene Fragen, individuell unterschiedlich. Wichtig sei immer das Angebot eines Nachgesprächs, bei dem dann manches integriert werden könne. Schmerzen kann aber auch das Gegenteil, der unerfüllte Kinderwunsch. In einem Podiumsgespräch wurde darauf eingegangen und es wurden die Hilfsangebote der modernen Medizin diskutiert, den Schmerz durch Assistierte Reproduktionstherapie (ART) zu bekämpfen. Ein aktuelles gesundheitspolitisches Thema: Sollen Eizellspende und Leihmutterschaft legalisiert werden? Die Positionen dazu, dargestellt von den Gynäkologinnen Silke Koppermann und Julka Weblus und der Sozial- und Familientherapeutin Petra Thorn, waren kontrovers, auf dem Podium wie im beteiligten Plenum.

Ein breites Spektrum, das viel Anregung zum Nachdenken bot, zum Hinterfragen eigener Konzepte und Vorurteile. Wie vom Tagungspräsidenten angekündigt, war es kein traurig-depressiver, sondern ein „intensiver, inspirierender, liebevoller, ja sogar fröhlicher Kongress“! Vom 14. Bis 16. März 2024 wird die 53. Jahrestagung in Bonn zum Thema „Trauma und Frauengesundheit“ stattfinden.



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Article published online:
26 September 2023

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