Nervenheilkunde 2023; 42(11): 763-772
DOI: 10.1055/a-2145-9136
Schwerpunkt

Regionalbudget oder Selektivvertrag?

Ein integratives Review über die Beziehung von Budgetumfang, Implementierung und Outcomes in psychiatrischen Modellvorhaben nach § 64b SGB VRegional budget or selective contract?An integrative review of the interrelations between budget share, implementation and outcomes in flexible and integrative psychiatric treatment (FIT) models in Germany
Julian Schwarz
1   Hochschulklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Immanuel Klinik Rüdersdorf, Medizinische Hochschule Brandenburg
2   Fakultät für Gesundheitswissenschaften, gemeinsame Fakultät der Universität Potsdam, der Medizinischen Hochschule Brandenburg Theodor Fontane und der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg
,
Anne Berghöfer
3   Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie, Charité – Universitätsmedizin Berlin
,
Sebastian von Peter
1   Hochschulklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Immanuel Klinik Rüdersdorf, Medizinische Hochschule Brandenburg
2   Fakultät für Gesundheitswissenschaften, gemeinsame Fakultät der Universität Potsdam, der Medizinischen Hochschule Brandenburg Theodor Fontane und der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg
› Author Affiliations
 

ZUSAMMENFASSUNG

Hintergrund Seit Einführung des § 64b SGB V im Jahr 2013 haben 22 Kliniken ein globales Behandlungsbudget (GBB) auf Basis eines psychiatrischen Modellvorhabens (MV) verhandelt. An der Budgetbildung sind einzelne, mehrere oder alle in einer Versorgungsregion vertretenen Krankenkassen beteiligt und je nach Standort wurden unterschiedliche Maßnahmen zur Förderung einer sektorenübergreifenden Leistungserbringung umgesetzt.

Ziel Es wird untersucht, ob und inwiefern der Umfang der Krankenkassenbeteiligung an MV, die Implementierungsprozesse, die Umsetzung von Versorgungsmerkmalen und die Evaluationsergebnisse zusammenhängen.

Methode Mittels systematischer Suche wurden Studien ausgewählt, die MV mit unterschiedlichen Budgetanteilen vergleichend in Bezug auf die Implementierung sowie

Ergebnisparameter untersucht haben. Um die methodische Heterogenität der Studien und die Komplexität der Fragestellung angemessen zu erfassen, wurde die integrative Übersichtsmethode genutzt.

Ergebnisse Es wurden Originalarbeiten (n = 8) aus 3 multizentrischen Studien identifiziert, wobei qualitative (n = 2) und quantitative Methoden (n = 3) sowie Mixed-Methods (n = 3) zum Einsatz kamen. Kliniken, die ihr gesamtes Budget als MV (= Regionalbudget) verhandelt haben, weisen einen durchgängig höheren Umsetzungsgrad modellspezifischer Merkmale auf, die stärker von Patienten wahrgenommen werden als Kliniken mit einem selektivvertraglichen MV. Kliniken mit Regionalbudget sind überwiegend in ländlichen, Kliniken mit partiellen GBB eher in städtischen Regionen umgesetzt.

Diskussion Die Ergebnisse stärken die Annahme eines positiven Zusammenhangs zwischen Budgetumfang sowie der Ausprägung von Struktur- und Prozessmerkmalen der Modellversorgung. Aufgrund der geringen Anzahl eingeschlossener Studien sind die Befunde als vorläufig zu betrachten.


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ABSTRACT

Background Since the introduction of § 64b German Social Code Book V in 2013, 22 hospitals have negotiated a Global Treatment Budget (GTB) based on a psychiatric model project (MP). Depending on the MP, one, more, or all health insurances are involved in the formation of this budget. As a result, various measures to promote cross-sectoral service delivery, including complex forms of in-, outpatient, and home treatment are being implemented.

Aim Building on the evidence of previous research, this review article examines whether and to what extent the volume of health insurance coverage in MP is associated with implementation processes, the degree of implementation of MP’s specific components and evaluation outcomes.

Methods A systematic search was conducted to select studies that examined MPs with different budget shares comparatively in terms of the degree and processes of implementation, as well as outcomes. To adequately capture the methodological heterogeneity of the available evidence and the complexity of the research question, results were summarized using the integrative review methodology.

Results Original research (n = 8) from three studies was identified, using qualitative (n = 2) and quantitative methods (n = 3) and mixed-method approaches (n = 3). The studies show that mental health care departments that negotiated their entire budget as a MP (= regional budget) consistently had a higher degree of implementation of model-specific components, also being experienced more strongly by service users, than in departments with a selective MP contract. Departments with regional budgets are more likely to be implemented in rural regions, while those with partial GTBs are more likely to be implemented in urban regions.

Discussion The results strengthen the assumption of a positive relationship between budget size and the expression of structure- and process-related components of model care. Due to the small number of included studies, the findings should be considered preliminary.


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Hintergrund

Seit 2008 werden in Deutschland globale Behandlungsbudgets (GBB) an ausgewählten psychiatrischen Kliniken und Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern erprobt, die eine flexible, integrierte und gemeindenahe psychiatrische Krankenhausversorgung ermöglichen. Bisher wurden 23 GBB bundesweit verhandelt, zunächst als regionale Psychiatriebudgets (RB) nach § 24 Bundespflegesatzverordnung (BPflV) und seit 2013 als psychiatrische Modellvorhaben nach § 64b SGB V (MV). Gesetzlich definiertes Ziel der MV ist „eine Verbesserung der Patientenversorgung oder der sektorenübergreifenden Leistungserbringung […], einschließlich der komplexen psychiatrischen Behandlung im häuslichen Umfeld”. Anders als z. B. bei der stationsäquivalenten Behandlung (StäB) [1], [2], wo es sehr konkrete Umsetzungsempfehlungen und Leistungsbeschreibungen gibt, können MV unter Berücksichtigung regionaler Besonderheiten klinikindividuell umgesetzt werden. Neben diesen Versorgungszielen sind mit den Krankenkassen zu vereinbarende Steuerungsziele, z. B. Erreichen eines bestimmten Ambulantisierungsgrads, d. h. des Anteils der stationsersetzend oder -verkürzend ambulant oder aufsuchend versorgten im Verhältnis zu stationär behandelten Patienten durch die Modellversorgung, zu erreichen.

Während MV als RB, d. h. unter Beteiligung sämtlicher in einer Region vertretenen Krankenkassen vereinbart werden können, ist auch der Abschluss von Selektivverträgen (SV) mit einzelnen Krankenkassen möglich. In diesem Fall ist die Modellversorgung nur für Versichterte ausgewählter Krankenkassen zugänglich. Von den bestehenden 22 MV sind 17 als RB und 5 als SV verhandelt [3]. Aus Erfahrungsberichten sowie Evaluationsstudien gibt es Hinweise, dass MV mit RB und SV sich qualitativ voneinander unterscheiden [4]–[6]. Die Unterschiede beziehen sich z. B. auf die jeweils umgesetzten Versorgungsmerkmale (z. B. Home Treatment, settingübergreifende Behandlerkontinuität), deren Implementierungsgrad sowie das Ausmaß, in dem MV von Patienten, aber auch Mitarbeitenden einer Modellklinik (als wirksame Versorgungsform) wahrgenommen wird. Dies zu untersuchen ist von hoher Relevanz für die Weiterentwicklung der Versorgung, da die Zahl der Kliniken mit MV seit ca. 2021 leicht stagniert. Darüber hinaus wird die vorliegende Evidenz zur Wirksamkeit, den Prozessen und zur Evaluation der MV aus Sicht des Innovationsausschusses des Gemeinsamen Bundesausschusses als nicht ausreichend eingestuft, um eine Empfehlung auszusprechen [7].Bisher gibt es erst ein Review aus dem Jahr 2013, welches den Implementierungsstand der integrierten Versorgung und von RB – dem Vorläufermodell der MV – in Deutschland untersucht [8]. Eine Übersichtsarbeit zu MV gibt es nicht. Ziel der vorliegenden Literaturübersicht ist es daher, die bestehende Evidenz zu integrieren, um etwaige studienübergreifende Effekte und Zusammenhänge zu den Unterschieden zwischen als Regionalbudget und selektivvertraglich vereinbarten MV sichtbar zu machen. Im Einzelnen werden folgende Forschungsfragen untersucht.

Inwiefern unterscheiden sich die

  • Rahmenbedingungen,

  • Implementierung,

  • Versorgungseffekte von als Regionalbudget versus Selektivvertrag verhandelten Modellvorhaben sowie

  • Machbarkeit der beiden Varianten aus Sicht von Experten?

Grundlegend zur Beantwortung dieser Fragestellung ist eine Zusammenschau von Versorgungseinflüssen, -strukturen, -prozessen und daraus resultierenden Outcomes, wie dies durch das in der Versorgungsforschung übliche Through-put-Modell angeraten wird [9].


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Methoden

Integratives Review

Aufgrund der Komplexität der Fragestellung sowie der Heterogenität der Evidenz wurde die Methode des integrativen Reviews gewählt. Nach Whittemore et al. kann die integrative Übersichtsmethode die „bisherige empirische und theoretische Literatur zu einem Thema zusammenfassen und dabei verschiedene Methoden einbeziehen, um den Kontext, die Prozesse und die subjektiven Elemente des Themas zu erfassen” [10]. Die zentrale methodische Problemstellung der Arbeit ist es, die nur fragmentiert vorliegenden Befunde zum Umfang der Krankenkassenbeteiligung an MV, deren Implementierungsgrad im Hinblick auf die Versorgungsstrukturen, -prozesse und -effekte zu diskutieren und so die bestehende Theory of Change der komplexen Intervention „Modellvorhaben” zu erweitern [11], [12]. Um die Reproduzierbarkeit und Nachvollziehbarkeit zu gewährleisten, erfolgte das Reporting entsprechend der PRISMA-Leitlinien (Preferred Reporting Items for Systematic Reviews and Meta-Analyses) [13].


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Informationsquellen und Suchstrategie

Eine systematische Literaturrecherche wurde am 2. Mai 2023 durchgeführt. Dazu wurden Titel und Abstracts in 6 elektronischen Literaturdatenbanken durchsucht: Medline, Embase, Scopus, PsycINFO, Web of Science und Google Scholar. Trotz der stark begrenzten Fragestellung wurde die Suchstrategie breit gewählt, damit möglichst sämtliche wissenschaftliche Literatur zu MV aufgefunden wird. Es wurden 3 Schlüsseldimensionen Modellvorhaben, Globales Budget und Psychiatrie in verschiedenen Variationen in englischer und deutscher Sprache mit den booleschen Operatoren UND/ODER zu einem Suchausdruck verbunden. Zusätzlich wurde eine Rückwärtssuche der gefundenen Referenzen durchgeführt, um vorangehende Arbeiten zu dem Thema zu identifizieren [14]. Es folgte eine weitere Vorwärtssuche mit Google Scholar, um Publikationen aufzufinden, die die in die Untersuchung einbezogenen Arbeiten zitieren.


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Auswahlkriterien, Screening und Selektion

Einschluss- und Ausschlusskriterien wurden im initialen Screening-Prozess entwickelt und zur Studienauswahl angewendet. Eingeschlossen wurden ausschließlich Veröffentlichungen, die

  • original-empirisches Material enthalten,

  • psychiatrische Modellvorhaben nach § 64b SGB V als Gegenstand fokussieren,

  • RB und SV in mehreren Studienzentren untereinander vergleichen (Multicenter-Studie),

  • Struktur-, Prozess- und/oder Outcome-bezogene Studienergebnisse enthalten.

Demnach wurden ausschließlich Studien ausgewählt, welche einen potenziellen Zusammenhang des Budgetumfangs einerseits sowie Prozessen, Strukturen und/oder Ergebnisparametern andererseits an verschiedenen Kliniken der Modellversorgung vergleichend untersucht haben.

Publikationen, die sich auf Vorläufermodelle (RB nach § 24 BPflV) oder die integrierte Versorgung (nach § 140a SGB V) beziehen, wurden aus den folgenden Gründen ausgeschlossen: Erstens wurden das RB nach § 24 BPflV lediglich mit 100 % Budgetumfang vereinbart. Somit existierten zum Zeitpunkt der Gültigkeit dieses Paragrafen keine Versorgungsmodelle, die als Teilbudget verhandelt wurden, sodass der Vergleich eines differierenden Budgetumfangs nicht möglich ist. Zweitens handelte es sich im Fall der integrierten Versorgung um Modelle, die überwiegend im kassenärztlichen bzw. ambulanten Nichtkrankenhaussektor entwickelt wurden. Ein Vergleich zwischen den eher krankenhauszentrierten MV (sowie deren Vorläufer) mit der ambulanten integrierten Versorgung wäre aufgrund dieser konzeptuellen Differenzen zwischen den Versorgungsmodellen nicht sinnvoll.


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Datenextraktion, -analyse und -synthese

Das Forscherteam (JS, AB, SvP) entwickelte eine standardisierte Vorlage, um relevante Daten aus den Studien zu extrahieren und zu erfassen. Die folgenden Parameter wurden dabei detailliert erfasst: Referenz-ID, Jahr, Studie, Methode, Stichprobe, Fragestellung und Zusammenfassung der für die Fragestellung relevanten Ergebnisse. Aus Kapazitätsgründen wird die Tabelle als elektronischer Anhang online bereitgestellt (Online-Suppl. [ Tab. 1 ]). Um die Qualität der eingeschlossenen Studien zu erfassen, wurden die Publikationen von JS und SvP hinsichtlich der Kriterien (1. methodische und 2. theoretische Strenge sowie 3. Relevanz der enthaltenen Daten) auf einer 3-Punkt-Skala (hoch, mittel, gering) bewertet. Eine vollständige Darstellung der Bewertung der Kriterien ist ebenfalls dem elektronischen Anhang (Online-Suppl. [ Tab. 1 ]) zu entnehmen [10]. Es wurden relevante Ergebnisse sämtlicher eingeschlossener Veröffentlichungen ausgewertet und thematisch zusammengefasst (Hauptthemen: Budgetumfang, Implementierungsprozesse und -grad sowie Outcomes der MV). Hierzu wurden in den Publikationen enthaltene klinikbezogene Struktur- und Leistungskennzahlen sowie Daten zur Einstufung des Implementierungsgrades der MV in 2 Gruppen zusammengefasst (RB vs. SV) und reanalysiert. Im Einzelnen wurden die Gruppenmittelwerte für die vorgenannten Parameter berechnet, um grundsätzliche Unterschiede zwischen MV mit RB versus SV darzustellen. Auf eine Bestimmung der statistischen Signifikanz der Unterschiede wurde aufgrund der nur geringen Stichprobengrößen verzichtet.

Tab. 1

Übersicht spezifischer Merkmale der Modellversorgung (nach Daten aus [18])

Nr.

Merkmal

I

Ambulantisierung; Verlagerung Behandlungsplätze von voll- nach teilstationär und/oder ambulant

II

Flexibilität Settingwechsel; unproblematischer Wechsel des Behandlungssettings (zeitnah, bürokratiearm etc.)

III

Behandlerkontinuität; Umsetzung team- und personenbezogener Kontinuität

IV

Berufsgruppenübergreifende Zusammenarbeit; enge Kooperation zwischen verschiedenen Berufsgruppen

V

Settingübergreifende therapeutische Gruppenangebote; behandlungssetting-heterogene therapeutische Gruppen

VI

Zuhause-Behandlung; stationsersetzende, berufsgruppenübergreifende Behandlung, zuhause ≥ 1 Woche

VII

Systematischer Einbezug von Bezugspersonen; Bezugspersonen als therapeutisches Mittel

VIII

Erreichbarkeit von Leistungen; räumliche Erreichbarkeit und Erreichbarkeit der Teams

IX

Freie Steuerung therapeutischer Maßnahmen; Freiheit für therapeutische Entscheidungen

X

Sektorübergreifende Kooperation; Kooperation über das Krankenhaus hinweg

XI

Erweiterung der professionellen Expertise; Professionalisierung der Mitarbeiter


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Ergebnisse

Studienauswahl

Insgesamt wurden 695 Einträge ermittelt – 681 (97,99 %) aus der Datenbankrecherche, 14 (2,01 %) aus der Handsuche. Nach Entfernen von Duplikaten verblieben 82,44 % (573/695) der Einträge für die Titel-, Abstract- und Stichwortsuche. In diesem Schritt wurde die Auswahl um 530 auf 43 Einträge reduziert, die dann einer Volltextprüfung unterzogen wurden. Hierin enthalten sind 30 Originalarbeiten zu psychiatrischen MV (n = 23) sowie deren Vorläufermodellen (nach § 24 BPflV; n = 7) [4]–[6], [12], [15]–[40]. Von den verbleibenden 23 konnten 8 Publikationen (1,15 %) identifiziert werden [5], [6], [12], [15]–[19], die empirisches Material zu der untersuchten Fragestellung enthalten. Sie bilden die Grundlage dieser Übersichtsarbeit. Der Studienauswahlprozess ist im PRISMA Flussdiagramm ([ Abb. 1 ]) dargestellt.

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Abb. 1 PRISMA (Preferred Reporting Items for Systematic Reviews and Meta-Analyses) Flussdiagramm (nach Daten aus [41]).

Die Veröffentlichungen lassen sich 2 Mixed-Method basierten Multicenter-Studien, EvaMod64b (Laufzeit: 2014–2016), PsychCare (Laufzeit: 2017–2021) sowie einer weiteren an mehreren MV durchgeführten qualitativen Studie (Untersuchung der Innovationsdiffusion, Laufzeit: 2018–2020) zuordnen [4]–[6], [12], [15]–[19]. Zu den aufgrund eines fehlenden Vergleichs zwischen RB und MV mit SV nicht eingeschlossenen Studien gehören u. a. die Evaluationen der MV in Berlin-Mitte [27], Hamm [29], [38] sowie die gesetzlich verpflichtende Begleitforschung nach § 65 SGB V (EVA64-Studie) [42]. Die Ergebnisse werden entlang folgender thematischer Schwerpunkte vergleichend für MV mit RB und SV dargestellt:

  • Rahmendaten zu Struktur und Vertrag,

  • Implementierungsprozesse,

  • Implementierung modellspezifischer Merkmale,

  • Effekte auf die Versorgung.


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Rahmendaten zu Struktur und Vertrag

Vergleichbare Daten zur Versorgungsregion und Struktur liegen aus der EvaMod64b-Studie für 12 Kliniken mit MV vor (Datenjahr: 2016) [18]. Demnach können 75 % (6 von 8) der Kliniken mit RB auf Erfahrungen mit einem Vorläuferprojekt zurückgreifen, während dieser Anteil bei selektivvertraglich verhandelten MV bei 25 % (1 von 4) lag. Kliniken mit RB wurden zu 75 % etwas früher (1/2013–6/2014) und Kliniken mit SV – ebenfalls zu 75 % – etwas später gestartet (7/2014–1/2016). Die Anzahl der Einwohner der Versorgungsregion betrug bei Kliniken mit RB durchschnittlich ca. 202 Tsd. versus ca. 317 Tsd. bei Kliniken mit SV. Kliniken mit SV sind überwiegend (zu 75 %) in einer größeren Stadt (> 80 000 Einwohner), während Kliniken mit RB ausschließlich in einer kleineren Stadt lokalisiert sind. Der Umfang der Kassenverträge bei selektivvertraglichen MV lag durchschnittlich bei 19,1 % (SD: 10,3 %). Bei einem orientierenden Vergleich weiterer Struktur- und Leistungsdaten der Kliniken, z. B. zur Trägerschaft, Bettenkapazitäten und tagesklinischen Behandlungsplätzen finden sich keine wesentlichen Unterschiede zwischen den Gruppen.


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Implementierungsprozesse

6 Publikationen aus 3 Studien enthalten qualitative Ergebnisse zu der Frage nach Unterschieden bei den Implementierungsprozessen sowie der Machbarkeit von selektivvertraglichen oder MV, die als RB verhandelt wurden. Afraz et al. konnten zeigen, dass es kontroverse Meinungen bezüglich des Vorrangs von RB oder SV unter den Stakeholdern gibt [4], [15]. So sprachen sich Behandler und Medizincontroller dafür aus, dass RB gegenüber MV mit SV vorzuziehen seien, da der Parallelbetrieb von Regelversorgung und MV eine größere Herausforderung darstelle als eine Umstellung des Gesamtsystems [4], [15]. Nach Ansicht einiger GKV-Vertreter hätten Teilbudgets, die als Zwischenstufe auf dem Weg zu einem GBB gesehen werden, gewisse Vorteile, da sich weniger Akteure an den Budgetverhandlungen beteiligen müssen [4], [15].

Eine weitere im Rahmen der PsychCare-Studie durchgeführten Expertenbefragung zu den Anreizen, Voraussetzungen und Herausforderungen der Implementierung eines GBB kamen Schwarz et al. zu ähnlichen Ergebnissen [5]: Die Studienteilnehmer waren gespalten bzgl. der Frage, inwiefern es für die Machbarkeit von MV eine Rolle spielt, ob ein GBB mit allen oder nur einzelnen Krankenkassen verhandelt wird. In Versorgungsregionen mit RB wurde ein „selektivvertragliches“ MV als nur bedingt machbar eingestuft, während Befragte aus Kliniken mit SV hierin eine Chance sahen, die neue Versorgungsform unter nur begrenztem ökonomischem Risiko zu erproben. Es bestand Konsens unter Controllern der MV mit SV, dass eine minimale Krankenkassenbeteiligung notwendig sei, um einzelne Merkmale (z. B. Home-Treatment) kostendeckend implementieren zu können. Darüber hinaus sei es herausfordernd, die unterschiedlichen Leistungen der Regelversorgung und der MV gesondert, zum Teil sogar in 2 parallelen IT-Systemen, voneinander zu erfassen und abzurechnen. Klinisch tätige Mitarbeitende fanden es herausfordernd, die Routinen der Modelle neben der Regelversorgung aufrechtzuerhalten. Einerseits sei es organisatorisch schwierig, zwischen Patienten der beiden Versorgungsformen zu unterscheiden, andererseits wurden ethische Bedenken geäußert, da Patienten ausgewählter Krankenkassen Zugang zu modernen Versorgungsaspekten erhielten.


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Implementierung modellspezifischer Merkmale

In 5 Publikationen werden (semi-)quantitative Ergebnisse dargestellt, die allesamt auf der Einstufung spezifischer Struktur- und Prozessmerkmale der Modellversorgung beruhen [12], [17]–[19]. Diese Merkmale ([Tab. 1]) wurden in der EvaMod64b-Studie entwickelt und erfassen semiquantitativ deren Umsetzung in Bezug auf Strukturen und Prozesse [17], [18]. Der Implementierungsgrad fasst die Ausprägung sämtlicher Merkmale an einer Klinik in einem Wert zusammen [17]. Johne et al. konnten in ihrer Analyse zeigen, dass MV mit RB sowie einer Laufzeit von mehr als 2 Jahren eine statistisch signifikant stärkere Umsetzung des Merkmals II (Flexibilität im Settingwechsel) sowie einen statistisch auffällig höheren Gesamtimplementierungsgrad (GIG) aufwiesen, als jene Kliniken mit SV und kürzerer Implementierungsdauer [17]. Die in den Methoden beschriebene Reanalyse der Daten aus Johne et al. zeigt einen höheren GIG bei MV mit RB gegenüber jenen mit SV (Mittelwert GIG = 1,24 vs. 0,97).

Ebenfalls im Rahmen der EvaMod64b-Studie wurden vorbeschriebene Merkmale an MV in Schleswig-Holstein (SH; n = 3) gegenüber MV im übrigen Bundesgebiet (n = 4) untersucht. Erstere waren mit 100 % und letztere mit durchschnittlich 47,31 % Krankenkassenbeteiligung verhandelt. Zusammenfassend erzielten die MV in SH bei allen Merkmalen höhere Werte als die übrigen Kliniken. Diese Unterschiede verhielten sich in Bezug auf 3 Merkmale statistisch auffällig (p < 0,1): Behandlerkontinuität (III), settingübergreifende therapeutische Gruppen (V) und Erreichbarkeit von Leistungen (VIII) erreichten jeweils deutlich bessere Werte bei den Studienkliniken in SH gegenüber dem Vergleich.

Im Rahmen der PsychCare-Studie wurden im Jahr 2020 die Merkmale erstmals an 9 MV sowie 7 Kontrollkliniken der Regelversorgung eingestuft [6], um diese zu validieren und zu prüfen, inwiefern sich deren Ausprägung an den beiden Klinikgruppen unterscheidet. In dem Zusammenhang wurde ein Subgruppenvergleich innerhalb der Studienkliniken mit MV durchgeführt, wobei der GIG an MV mit < 30 % (n = 2), 30 bis 90 % (n = 3) und > 90 % (n = 4) Umfang der Krankenkassenbeteiligung gegenübergestellt wurde. Es zeigte sich ein mit zunehmendem Umfang der Modellverträge steigender GIG, wobei die Unterschiede signifikant sind und eine hohe Effektstärke aufweisen [6].

In der Prozess- und Outcome-Evaluationsstudie EvaMod64b wurden die Veränderungsprozesse bei Einführung von MV im Sinne einer Theory of Change beschrieben [12], wobei auf Implementierungsunterschiede zwischen RB und SV eingegangen wurde: Demnach tendieren Klinik mit SV dazu, traditionelle Teamstrukturen beizubehalten und zusätzliche spezielle Teams einzurichten, die sich ausschließlich um die Versorgung der Versicherten bestimmter Krankenkassen kümmern. An Kliniken mit RB wurden hingegen überwiegend settingspezifische Teams zu flexiblen Teams umstrukturiert, die settingübergreifend arbeiten. Daher wurden Prozesse und klinische Routinen, z. B. die Planung von Therapien, nicht mehr nur innerhalb eines bestimmten Settings durchgeführt, sondern auf andere Settings ausgedehnt. Hierdurch wurde ein erhöhter Arbeitsaufwand aus Sicht von Mitarbeitenden beschrieben. Die Unterschiede zwischen MV mit RB vs. SV wurden zu 2 Implementierungstypen zusammengefasst ([ Tab. 2 ]).

Tab. 2

Implementierungstypen der Modellversorgung (nach Daten aus [12])

Parameter

Regionalbudget

Selektivvertrag

Anzahl der Studienkliniken

4

3

Bevölkerungsdichte

gering

hoch

Zeitpunkt des Vertragsabschlusses

2013

2016

Umfang des MV am Klinikbudget

100 %

< 33 %

Vorerfahrungen mit GBB1

+

-

Verringerung der Anzahl der Krankenhausbetten seit Einführung des GBB[ 1 ]

+

-

Strukturelle bzw. räumliche Integration von Tagesklinik, Station und Ambulanz[ 2 ]

+ + +

+

Anteil der Mitarbeitenden, die in mehr als einem Behandlungssetting arbeiten

> 66 %

> 33 %

Aufsuchende Behandlung durch stationäre und tagesklinische Behandlungsteams[ 1 ]

+

-

Orientierendes Versorgungsmodell zur aufsuchenden Behandlung

ACT

CRT/HT

1: Maximale Ausprägung des Parameters = “ + ” ; 2: Maximale Ausprägung des Parameters = “ + + + ”; ACT: Assertive Community Treatment; CRT/HT: Crisis Resolution Team/Home-Treatment; GBB: Globales Behandlungsbudget; MV: Modellvorhaben

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Effekte auf die Versorgung

Bislang liegen nur 2 Publikationen vor, welche im Zusammenhang von Budgetumfang und Implementierungsgrad auch die Outcomes untersucht haben [19]: Im Rahmen jener Studie, welche MV in SH gegenüber dem übrigen Bundesgebiet vergleicht, konnte gezeigt werden, dass Patienten in SH häufiger ambulant (39,0 % vs. 34,2 %) oder zuhause (11,6 % vs. 1,3 %) behandelt wurden, während sich Patienten der MV in den anderen Bundesländern häufiger in stationärer (28,8 % vs. 33,8 %) oder teilstationärer Behandlung (26,7 % vs. 31,2 %) befanden. Dieser Unterschied ist in Bezug auf die Zuhause-Behandlung signifikant (p < 0,0001). Die Behandlungsdauer der in SH behandelten Patienten war gegenüber der Vergleichsgruppe signifikant kürzer (p = 0,0021).

Patienten, die in SH behandelt wurden, gaben an, mehr Erfahrung mit Versorgungsmerkmalen der MV zu haben (p = 0,0697). Dies trifft in besonderem Umfang auf die Behandlerkontinuität (III) zu: 33 % der befragten Patienten in SH gaben an, bei einem Settingwechsel von dem gleichen therapeutischen Team weiter betreut worden zu sein, während in den Vergleichszentren nur 24,8 % diese Angabe machten (p = 0,0765). Unterschiede zeigten sich auch bezüglich der Patientenbewertung. So wurden die Merkmale Zuhause-Behandlung, Flexibilität im Settingwechsel und settingübergreifende therapeutische Gruppenangebote von Patienten der MV in SH signifikant, oder zumindest statistisch auffällig besser bewertet.


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Diskussion

Zusammenfassend zeigen die Ergebnisse dieser Übersichtsarbeit, dass ein selektiver Budgetvertrag dazu führt, dass die Versorgung für einen Teil der behandelten Patienten (bestimmter Krankenkassen) verändert werden kann und nur in Hinblick auf einzelne Versorgungsmerkmale, bspw. durch die Einführung von Home-Treatment oder unterschiedlichen Formen der akut-ambulanten Behandlung. Komplexere und umfangreichere Veränderungen des Versorgungsangebots für nicht nur ausgewählte Patientengruppen lassen sich nur durch einen Modellvertrag mit allen in einer Region vertretenen Krankenkassen umsetzen. Im letzteren Fall können die Umstrukturierungen weitreichend sein, wie die Modellprojekte in SH zeigen, z. B. in Itzehoe, Heide und Geesthacht, die oft auf lange Laufzeiten und Entwicklungen im Rahmen von Vorläufermodellen aufbauen [19], [35].

Regionalbudget oder Selektivvertrag?

Selektivverträge haben sicher auch Vorzüge: Die mit den Umstrukturierungen und der immer noch ungewissen Zukunft von Modellprojekten entstehenden Risiken halten sich in Grenzen und sind weniger aufwändig in der Verhandlung [5], [15]. So wurden MV mit SV oft dazu genutzt, die Möglichkeiten von MV auszuprobieren mit dem Ziel, diese bei positiven Erfahrungen Patienten weiterer Krankenkassen zugänglich zu machen. Letzteres ist unserem Wissen nach jedoch in keinem einzigen Fall geschehen: Alle SV sind hinsichtlich ihres Umfangs beschränkt geblieben, eine Ausweitung im Verlauf der Jahre ist nicht erfolgt. Ähnlich wie bei der Versorgung nach § 140a SGB V liegt dies sicher auch an einem fehlenden Kontrahierungszwang [43]: Vertragsabschlüsse sind weiterhin gänzlich freiwillig und in den letzten Jahren, trotz umfangreicher Verhandlungen, in vielen Fällen auch gescheitert.

Gleichzeitig ist ein hoher Implementierungsgrad der MV nicht kausal auf eine hohe Krankenkassenbeteiligung zurückzuführen: Insbesondere jene MV aus SH zeigen, dass die langjährigen Vorerfahrungen mit IV-Versorgung nach § 140a SGB V und dem RB nach § 24 BPflV zu einem umfassenden Implementierungsergebnis in Kliniken dieses Bundeslandes beigetragen haben. Und umgekehrt gibt es auch einzelne MV mit RB, welche einen eher geringen Implementierungsgrad modellspezifischer Struktur- und Prozessmerkmale aufweisen.

Zusammenfassend zeigen die Ergebnisse dieser Übersichtsarbeit, dass selektivvertraglich vereinbarte MV die Versorgung für einen Teil der behandelten Patienten, nämlich jene bestimmter Krankenkassen, verändern. Diese Veränderungen beziehen sich überwiegend auf einzelne Versorgungsmerkmale, wie z.B. die Einführung von Home-Treatment oder unterschiedliche Formen der akut-ambulanten Behandlung.

FAZIT

Eine zentrale Stärke dieser Arbeit liegt in ihrem Überblickcharakter, der eine integrative Betrachtung von qualitativer und quantitativer Evidenz über die Modellversorgung erlaubt: Bisher gibt es nur ein Review zu Vorläufermodellen der MV [8]. Eine weitere Literaturübersicht, die möglichst alle Studien zur Modellversorgung einschließlich der Ergebnisse der gesetzlich verpflichtenden Evaluation nach § 65 SGB V (EVA64-Studie) einschließt, ist in Arbeit.

Wie in diesem Themenheft mehrfach erwähnt, steht die Entscheidung über die Zukunft der MV aus. Im Hinblick darauf lässt sich nicht abschließend beurteilen, in welche Richtung sich MV entwickeln werden, die auf einem Selektivvertrag gründen. Derzeit scheinen diese weniger starke Veränderungschancen für die psychiatrische Versorgung zu bieten und führen aufgrund ihrer Parallelführung zu den Strukturen der Regelversorgung zu deutlichem Mehraufwand. Aus diesen Gründen und aufgrund der Tatsache, dass Modellleistungen nur einem Teil der Patienten zur Verfügung stehen, sollten vor Abschluss eines selektivvertraglichen MV keine Bemühungen außer Acht gelassen werden, um ein RB zu verhandeln.


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Interessenkonflikte

Erklärung zu finanziellen Interessen

Forschungsförderung erhalten: nein; Honorar/geldwerten Vorteil für Referententätigkeit erhalten: nein; Bezahlter Berater/interner Schulungsreferent/Gehaltsempfänger: nein; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an Firma (Nicht-Sponsor der Veranstaltung): nein; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an Firma (Sponsor der Veranstaltung): nein.

Erklärung zu nicht finanziellen Interessen

Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Dr. med. Julian Schwarz
Hochschulklinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Brandenburg
Immanuel Klinik Rüdersdorf
Seebad 82/83
15562 Rüdersdorf bei Berlin
Deutschland   

Publication History

Article published online:
06 November 2023

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Abb. 1 PRISMA (Preferred Reporting Items for Systematic Reviews and Meta-Analyses) Flussdiagramm (nach Daten aus [41]).