Z Sex Forsch 2021; 34(01): 59-60
DOI: 10.1055/a-1367-9154
Buchbesprechungen

Sexueller Missbrauch in der Psychotherapie. Fallgeschichten und Psychodynamik

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Marga Löwer-Hirsch. Sexueller Missbrauch in der Psychotherapie. Fallgeschichten und Psychodynamik. Überarbeitete Neuauflage der Ausgabe von 1998 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht). Gießen: Psychosozial 2017 (Reihe: Bibliothek der Psychoanalyse). 153 Seiten, EUR 19,90

In den 2010er-Jahren ist sexueller Missbrauch verstärkt ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Das Bekanntwerden einer großen Zahl an Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche und in pädagogischen Einrichtungen führte zu einer breiten öffentlichen Debatte. Die Politik hat darauf reagiert: In Deutschland ist seit 2010 der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) tätig (www.beauftragter-missbrauch.de). Seit 2015 untersucht eine unabhängige Aufarbeitungskommission den sexuellen Kindesmissbrauch in Institutionen und Familien. Ebenfalls im Jahr 2015 hat sich der Betroffenenrat als 14-köpfiges politisches Gremium konstituiert. Im Zuge dieser Aktivitäten wurden auch die Informations- und Unterstützungsangebote ausgebaut, etwa durch eine niedrigschwellige erste Anlaufstelle im Internet (www.hilfeportal-missbrauch.de). Im Herbst 2017 wurden durch die #MeToo-Bewegung in großer Zahl sexuelle Übergriffe – einschließlich sexuellen Kindesmissbrauchs – in Hollywood bekannt. Diese Fälle wurden sowohl in den Massenmedien als auch in den Sozialen Medien weltweit aufgegriffen, da es sich bei den Betroffenen sowie bei den Täter:innen um Prominente handelt, an deren Leben definitionsgemäß großes öffentliches Interesse besteht.

In diesem Debattenklima ist die hier besprochene Monografie „Sexueller Missbrauch in der Psychotherapie“ erschienen. Es handelt sich um die überarbeitete Neuauflage der Erstveröffentlichung aus dem Jahr 1998. Die Autorin Marga Löwer-Hirsch ist als psychologische Psychotherapeutin, Supervisorin und psychodynamisch arbeitende Beraterin im Business Coaching tätig und publiziert auch zu diesen Themen (www.loewer-hirsch.de).

Gegliedert ist das Buch in vier Teile: Im ersten Teil (Einleitung) wird Missbrauch in der Psychotherapie vor dem Hintergrund der Berufsethik, der rechtlichen Lage, der Verbreitung und Folgen umrissen. Es folgen im zweiten Teil zwölf Fallgeschichten von Patientinnen sowie eine von einem Therapeuten. Der dritte Teil des Buches vergleicht die Fallgeschichten hinsichtlich ihrer Ähnlichkeiten und Unterschiede und arbeitet psychodynamisch heraus, welche Faktoren zum Einlassen auf den Missbrauch führen, wodurch die Missbrauchsphase aufrechterhalten und wie sie schließlich beendet wird. Der vierte und letzte Teil des Buches (Diskussion) kontrastiert den sexuellen Missbrauch in der Psychotherapie mit dem Missbrauch in Familien und reflektiert die Bedeutung von tradierten Geschlechterrollen im Kontext von Missbrauch.

Die Monografie ist leicht lesbar und bietet durch die Fallgeschichten und ihre vergleichende Interpretation einen guten Einblick in die Dynamik der präsentierten „Missbrauchstherapien“ (d. h. Psychotherapien, in denen sexueller Missbrauch begangen wurde). So wird deutlich, dass die Patientinnen in den Fallgeschichten häufig die ersten Grenzverletzungen vonseiten des Therapeuten durchaus als solche bemerkten, aber aufgrund der Asymmetrie des Therapiekontextes und der Vulnerabilität durch frühere Missbrauchserfahrungen oft nicht in der Lage waren, sich den Manipulationen sofort zu entziehen. Eine Reihe der Patientinnen in den Fallgeschichten beschreiben, dass sie das sexuell grenzverletzende Verhalten des Therapeuten einerseits als beunruhigend erlebten, gleichzeitig aber auch als besondere Zuwendung, von der sie sich in ihrer Lage bewusst oder unbewusst Hilfe versprachen. Die vermeintliche Aussicht auf eine echte Liebesbeziehung mit dem idealisierten Therapeuten scheint einigen Patientinnen zunächst Hoffnung gegeben zu haben, ihre Probleme zu lösen und frühere Traumatisierungen zu überwinden. So berichten sie nicht selten auch von Symptomverbesserungen am Anfang. Doch im Verlauf der Missbrauchstherapien kam es dann unweigerlich zu Symptomverschlechterungen und/oder zu neuen Symptomen (S. 199 f.). Die Ablösung vom sexuell missbrauchenden Therapeuten wurde in den vorgestellten Fällen vor allem dann möglich, wenn die Patientin feststellte, dass sie nie einen besonderen Stellenwert für ihn hatte, womöglich nur eine von mehreren missbrauchten Patientinnen war.

Die Autorin geht ausführlich auf die narzisstische Komponente im Missbrauchsgeschehen ein, auf den Wunsch, für den Therapeuten „etwas Besonderes“ zu sein, auf den Autoritätskomplex, auf das gleichzeitige Wahrnehmen und Nicht-Wahrhaben-Wollen von Missbrauch („Doppeldenk“), auf eine typische Rollenumkehr, in deren Zuge sich die Patientin am Ende um die Bedürfnisse des Therapeuten kümmern muss. Verdeutlicht wird auch, inwiefern frühere Missbrauchserfahrungen in der Kindheit das Risiko für Missbrauch in der Therapie erhöhen. Hinzu kommt der doppelte Schaden, der aus einer Missbrauchstherapie resultiert: Nicht nur wird für viele Patientinnen die Beziehung zum sexuell missbrauchenden Therapeuten bald zu einem neuen zentralen Lebensproblem, ihr ursprüngliches Therapieanliegen und die früheren Missbrauchserfahrungen bleiben gleichzeitig unbearbeitet.

Im Zusammenhang mit der allgemeinen Missbrauchsdebatte ist es sicher hilfreich für die Profession, auch den Missbrauch in der Psychotherapie (sowie in anderen therapeutischen Kontexten) genauer in den Blick zu nehmen. Insofern ist das Buch als Einstiegslektüre empfehlenswert.

Gleichzeitig weist es jedoch im Licht der aktuellen Debatte deutliche Limitationen auf. Die Fallbeispiele sind zeitgeschichtlich leider nicht genau kontextualisiert, stammen aber offenbar überwiegend aus Gestalt- und Primärtherapien der 1960er- und 1970er-Jahre (S. 114). Hier wäre eine entsprechende Einordnung wichtig gewesen. Denn ein psychotherapeutisches Ausbildungsprogramm mit verpflichtendem Nacktbaden, Sitzungen im Whirlpool und offenen sexuellen Aktivitäten zwischen Studentinnen, Patientinnen und Therapeut, wie Ingrid sie erlebt hat, sind heute undenkbar – auch wenn Missbrauch in der Psychotherapie weiterhin ein aktuelles Thema ist. Bedauerlich ist auch, dass der Forschungsprozess nicht transparent gemacht wird: Wie die Autorin die Auskunft gebenden Patientinnen rekrutiert hat, wie und wo die Interviews stattfanden, wie sie im Einzelnen dokumentiert und analysiert wurden, all das bleibt gänzlich unerwähnt. Schließlich ist zu monieren, dass der aktuelle Forschungsstand zu sexuellem Missbrauch in der Psychotherapie nicht ausreichend abgebildet wird: Das Literaturverzeichnis ist dominiert von deutschsprachigen Quellen aus den 1980er- und 1990er-Jahren. Eine Aufarbeitung des empirischen Forschungsstandes hätte es ermöglicht aufzuzeigen, welche Typen von sexuellem Missbrauch in der Psychotherapie es gibt und inwiefern das gesamte Spektrum von Missbrauchskonstellationen durch die Fallbeispiele im Buch abgedeckt oder eben auch nicht abgedeckt ist. So fehlt im Buch z. B. der sexuelle Missbrauch, der mit physischer Gewalt vonseiten des Therapeuten verbunden ist.

Da wir uns aus akademischer und klinisch-praktischer Perspektive nicht nur eine verstärkte, sondern auch eine professionalisierte Auseinandersetzung mit sexuellem Missbrauch wünschen müssen, die den Forschungsstand einbezieht, sind bei der vorliegenden Monografie leider doch Abstriche zu machen. Das Buch endet mit dem wichtigen Appell, das Missbrauchsthema präventiv stärker in der therapeutischen Ausbildung zu verankern. Leider wird nicht systematisch dargestellt, was bei Folgetherapien nach sexuellem Missbrauch in der Psychotherapie und Psychiatrie besonders zu beachten ist.

Ergänzend zu dem hier besprochenen Werk, in dem die Fallgeschichten dominieren, ist die 2012 ebenfalls im Psychosozial-Verlag erschienene Monografie des Analytikers Mathias Hirsch hilfreich („‚Goldmine und Minenfeld‘. Liebe und sexueller Machtmissbrauch in der analytischen Psychotherapie und in anderen Abhängigkeitverhältnissen“). Sie behandelt das Thema mit mehr Hintergrundliteratur und im Kontext der Missbrauchsdebatte der 2010er-Jahre.

Nicola Döring (Ilmenau)



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Article published online:
16 March 2021

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