Rehabilitation (Stuttg) 2008; 47(4): 251-253
DOI: 10.1055/s-2008-1077090
Bericht

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„Das SGB IX in der praktischen Anwendung” – 40. Kontaktseminar des Deutschen Sozialrechtsverbandes e. V. vom 18.–20.2.2008 in Kassel

“The German Social Code Book 9, SGB 9 in Practice” – 40th Contact Seminar of Deutsche Sozialrechtsverband February 18–20, 2008 in KasselK. Piepenstock 1 [*]
  • 1Deutscher Sozialrechtsverband e. V., Essen
Further Information

Publication History

Publication Date:
14 August 2008 (online)

Der Deutsche Sozialrechtsverband e. V. veranstaltete vom 18. bis 20. Februar 2008 in Kassel sein 40. Kontaktseminar. Gegenstand der Veranstaltung war in diesem Jahr das SGB IX in seiner praktischen Anwendung. Eröffnet wurde die Tagung durch den Vorsitzenden des Verbandsvorstandes Prof. Dr. Peter Udsching, Vorsitzender Richter am Bundessozialgericht (BSG) in Kassel, der die Bedeutung des Themas für die Praxis herausstellte. Der Geschäftsführer der Bundesverbände der landwirtschaftlichen Sozialversicherung Dr. Harald Deisler begrüßte im Anschluss daran die zahlreich erschienenen Teilnehmer aus Richter- und Anwaltschaft sowie von Fachverbänden und Beratungsstellen. Insgesamt trugen an drei Tagen acht Referenten vor.

In seinem Eröffnungsvortrag nahm Prof. Dr. Felix Welti von der Hochschule Neubrandenburg grundlegend zur „Systematischen Stellung des SGB IX im Sozialgesetzbuch – Zusammenarbeit der Leistungsträger und Koordinierung der Leistungen” Stellung. Welti ordnete das SGB IX zunächst als ein Gesetz zur Umsetzung des Benachteiligungsverbots ein und wies darauf hin, dass behinderte Menschen selbstbestimmt und gleichberechtigt an Bildung, Arbeit und Gemeinschaft teilhaben sollen. Sondersituationen wie Heime oder Werkstätten seien bei der Integration von behinderten Menschen in die Gesellschaft zu vermeiden. An die Vorschrift des § 7 SGB IX anknüpfend bezeichnete Welti das SGB IX als ein „Leistungsverfahrens-” und „Leistungsinhaltsgesetz” zur Konkretisierung der in den anderen Büchern des Sozialgesetzbuches enthaltenen Ansprüche. Im Weiteren ging er dann auf konkrete Fallgestaltungen dieser Verzahnung von SGB IX zum spezifischen Leistungsrecht der Renten-, Unfall-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung im Einzelnen ein. Im letzten Teil seines Vortrags widmete sich Welti der Zusammenarbeit der Leistungsträger durch die in den ersten Kapiteln des SGB IX enthaltenen Instrumente, welche er als ausbaufähig darstellte. Als noch dringlicher erachtete er die verwaltungsrechtliche Koordinierung der Leistungen z. B. im Wege der frühzeitigen Zuständigkeitsklärung (§ 14 SGB IX). Er forderte daher dazu auf, Konflikte kommunikativ zu führen und zu entscheiden.

In dem sich anschließenden Referat stellte Prof. Dr. Wolfhard Kohte von der Universität Halle-Wittenberg zehn Thesen zu den „Arbeits- und sozialrechtlichen Problemen des Eingliederungsmanagements nach Krankheit oder bei krankheitsbedingter Einschränkung der Leistungsfähigkeit” auf. Dabei plädierte er für einen präventiven Einsatz des betrieblichen Eingliederungsmanagements (§ 84 SGB IX) mit dem Ziel, den Eintritt einer Behinderung einschließlich einer chronischen Krankheit frühzeitig zu vermeiden bzw. deren Fortschreiten aufzuhalten, um auf diesem Weg eine Krankheitskündigung durch rechtzeitige Intervention zu verhindern. Ein effektiver Einsatz der präventiven Maßnahmen könne durch eine betriebsnahe Durchführung gewährleistet werden. Die erforderliche freiwillige und aktive Mitwirkung der Beschäftigten sei im Arbeitsumfeld auch durch die Wahrnehmung von kollektiven Beteiligungsrechten der Betriebs- und Personalräte sowie der Schwerbehindertenvertretungen zu erreichen. Wegen der zahlreichen Überschneidungen zum Arbeitsschutz sollten im Rahmen des betrieblichen Eingliederungsmanagements die betrieblichen Ursachen lang andauernder Arbeitslosigkeit identifiziert und bisher unterlassene Schutzmaßnahmen realisiert werden. Bei jedem Antrag eines Beschäftigten auf Leistungen wegen eines Versicherungsfalls sei von Amts wegen vorrangig auch die Gewährung von Leistungen zur Teilhabe zu prüfen (§ 8 Abs. 1 SGB IX). Gerade die stufenweise Wiedereingliederung (§ 28 SGB IX) zur Überwindung der Arbeitsunfähigkeit dokumentiere die Notwendigkeit und Produktivität einer engen Kooperation aller Beteiligten.

Prof. Dr. Wolfgang Schütte von der Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg konzentrierte sich in seinem Vortrag zur „Umsetzung des Grundsatzes Reha vor Rente, Pflege und anderen Sozialleistungen unter der Geltung des SGB IX” im Wesentlichen auf das Verhältnis von Rehabilitation (Reha) und Pflege. Ausgehend von dem Dilemma, dass mit Reha und Pflege zwei fachlich-therapeutisch geprägte Leistungsbereiche aufeinanderträfen, welche eigentlich vor Ort zum Wohle der Leistungsberechtigten in einer multidisziplinären Leistungsgestaltung zusammengeführt werden müssten, die rechtlich aber aus Gründen der Finanzverantwortung für den einen oder anderen Bereich auseinandergerissen würden, verwies Schütte auf die Strukturprobleme des deutschen Sozialrechts. Zwar lägen die Ziele und Instrumente der beiden Leistungsbereiche nahe beieinander, jedoch gebe es seit Beginn ihrer Verrechtlichung Zuordnungs- und Zuständigkeitsprobleme. Der Gesetzgeber gehe offenbar davon aus, dass die Pflegebedürftigkeit so etwas wie eine letzte Stufe sei und Reha-Maßnahmen daher (zeitlich) vorrangig, anstelle von, aber auch neben Pflegeleistungen zu erbringen seien. In Anlehnung an die klassische Musik beschrieb Schütte das Verhältnis von Reha und Pflege wie ein Stück aus dem „wohltemperierten Klavier” von Johann Sebastian Bach: Dort stimme im Verhältnis der Tonhöhen zueinander fast nichts – außer den Oktaven; man könne aber auch in einer physikalisch gesehen „unsauberen” musikalischen Landschaft sphärenhaft schöne Akkorde hervorbringen. Nach Auffassung des Referenten ist mit einer von der Regierungskoalition angekündigten „großen Lösung”, d. h. einem Gesamtkonzept zur Reform von Pflege und Reha, das eine klare Aufgabenverteilung auf das SGB V und das SGB IX vorsehe, in naher Zukunft nicht zu rechnen. Schütte appellierte daher an Rechtsprechung und Verwaltung, Verantwortlichkeiten pragmatisch zuzuordnen sowie kreativ nach integrierenden Vorschriften und Lösungen zu fahnden.

Richter am BSG Dr. Bernd Schütze trug zu den „Einflüssen des SGB IX auf das Leistungsrecht der GKV (speziell bei der Hilfsmittelversorgung)” vor. Schütze stellte zu Beginn seines Vortrags heraus, dass die Teilhabe eines behinderten Menschen am Leben in der Gesellschaft auch immer von der notwendigen Mittelausstattung für einen angemessenen Umgang mit den Behinderungsfolgen abhänge. Im Folgenden beschäftigte er sich dann maßgeblich mit der Frage, welche Solidargemeinschaft (z. B. Beitragszahler der gesetzlichen Kranken-, Renten-, Unfall- oder Arbeitslosenversicherung) für welches Risiko aufkommen sollte und welche Risiken die Allgemeinheit aus dem Steueraufkommen als Sozialhilfe absichern bzw. was in das Lebensrisiko des Einzelnen fallen sollte. Das neue aktive Leitbild der Teilhabe behinderter Menschen am Leben in der Gesellschaft nach dem SGB IX wirke auf die Interpretation der Ansprüche aus den spezifischen Leistungsgesetzen des Sozialgesetzbuchs zurück. Die gesetzlichen Krankenkassen könnten nur für solche Teilhabeleistungen in Anspruch genommen werden, für die im Bereich der medizinischen Rehabilitation eine entsprechende leistungsrechtliche Verpflichtung ihrerseits bestehe. Entsprechenden Leistungsbegehren seien indes durch das Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 12 SGB V) sowie eine Abgrenzung zwischen dem Bereich der medizinischen Rehabilitation auf der einen und der beruflichen und sozialen Rehabilitation auf der anderen Seite Grenzen gesetzt. Schütze nahm ausführlich zur Abgrenzungsproblematik bei der Hilfsmittelversorgung Stellung und prophezeite auch zukünftig eine weitere Suche nach tauglichen Abgrenzungskriterien.

Ausdrücklich nicht seine Antrittsvorlesung haltend informierte der seit Anfang 2008 amtierende Präsident des BSG Peter Masuch die Teilnehmer über das „SGB IX und Eingliederungshilfe nach dem SGB XII”. Mit dem Instrument der Eingliederungshilfe (§§ 53 ff. SGB XII), welche behinderte Menschen erhalten, die wesentlich in ihrer Fähigkeit eingeschränkt sind, an der Gesellschaft teilzuhaben, reagiere der Sozialstaat auf den Umstand, dass die moderne Leistungsgesellschaft Menschen in Starke und Schwache sortiere. Die Eingliederungshilfe sei an dem Hauptziel auszurichten, Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken. Dieses Ziel sei ohne den Einfluss des SGB IX nicht zu verwirklichen, dessen umfassender Ansatz sich darin zeige, dass neben behinderten auch die von Behinderung bedrohten Menschen in den Anwendungsbereich einbezogen seien (§§ 1 Satz 1, 2 Abs. 1 Satz 2 SGB IX). Unter Berücksichtigung des Verhältnisses des SGB IX zum SGB XII als eigenständigem Leistungsgesetz ging Masuch schließlich näher auf das Wunsch- und Wahlrecht der Betroffenen (§ 9 Abs. 2 SGB XII) sowie den Vorrang ambulanter Leistungen (§ 13 Abs. 1 SGB XII) im Rahmen der Eingliederungshilfe ein. Dabei stellte er fest, dass das Wunsch- und Wahlrecht behinderter Menschen im SGB IX (§ 9 Abs. 1 Satz 1 SGB IX) sozialhilferechtlich geprägt ist. Unter Anwendung der zuvor eingehend erläuterten gesetzlichen Vorschriften kam er zu dem Ergebnis, dass aufgrund der Wünsche behinderter Menschen auch eine mehrkostenträchtige Versorgung möglich ist, soweit im Rahmen eines Kostenvergleichs nicht unverhältnismäßige Mehrkosten verursacht werden.

Richterin am BSG Sabine Knickrehm behandelte in ihrem Vortrag zu „ Aktuellen Fragen des Schwerbehindertenrechts im SGB IX” die Feststellungen nach § 69 SGB IX im Lichte des „modernen” Behinderungsbegriffs. Nach den Ausführungen von Knickrehm hat das hinter dem „modernen” Behinderungsbegriff des § 2 Abs. 1 SGB IX stehende Teilhabekonzept zur Folge, dass – anders als noch nach § 3 Schwerbehindertengesetz – nur solche Auswirkungen von Funktionsstörungen als Behinderung anzusehen sind, die zu einer Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft führen. Dies mache eine Änderung der Spruchpraxis in Bezug auf die Feststellung einer Behinderung nach § 69 SGB IX jedoch nicht erforderlich. Das BSG und ihm folgend die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit hätten bereits unter der Geltung des Schwerbehindertengesetzes mit dem medizinisch-pathologischen Behinderungsbegriff bei der Feststellung einer Behinderung auf die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigung in Arbeit, Beruf und Gesellschaft abgestellt. Auf diese Feststellungspraxis hat nach Knickrehm auch ein ggf. weitergehender europäischer Behinderungsbegriff, der möglicherweise nicht auf das Abweichen vom alterstypischen Zustand abstellt, keine Auswirkungen. Schließlich stellte Knickrehm anhand der Teilhabebeeinträchtigung durch Diabetes mellitus und der sich hier stellenden Frage, ob allein der Therapieaufwand Maßstab für die Höhe des Grads der Behinderung sein kann, eingängig dar, dass der Behinderungsbegriff durch das „moderne” Teilhabekonzept durchaus enger geworden ist.

Harry Fuchs, Berater der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, zeigte den Teilnehmern die „Auswirkungen des SGB IX auf die Leistungserbringung unter Berücksichtigung des Vertragsrechts, der Qualitätssicherung und des persönlichen Budgets” auf. Ausgehend von dem Ziel des SGB IX, eine einheitliche Leistungserbringung durch alle Reha-Träger sicherzustellen, betonte Fuchs die umfassende Verantwortung der Reha-Träger für die Gestaltung und Ausführung der Leistungen. Unter Bezugnahme auf die einschlägigen Vorschriften zeigte er auf, dass die zuständigen Reha-Träger Leistungen zur Teilhabe unter Inanspruchnahme von geeigneten Reha-Diensten und -Einrichtungen ausführen können (§ 17 Abs. 1 SGB IX). Diese seien bei ihrer Inanspruchnahme danach auszuwählen, ob sie die Leistung in der am besten geeigneten Form ausführen könnten (§ 19 Abs. 4 Satz 1 SGB IX), und es seien die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit zu berücksichtigen (§§ 35 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4, 19 Abs. 4 Satz 2 SGB IX). Im Rahmen seines Vortrags stellte Fuchs plastisch die im System der Leistungserbringung nach dem SGB IX bestehenden Rechtsbeziehungen zwischen dem Leistungsberechtigten (Versicherter), dem Rehabilitationsträger und dem Leistungserbringer (Dienst oder Einrichtung) dar. Deutsches Wettbewerbsrecht (Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen und Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb) sowie europäisches Wettbewerbsrecht (Art. 81 ff. EG-Vertrag) seien wegen des öffentlich-rechtlichen Charakters der Rechtsbeziehung und der fehlenden Unternehmerqualität der Reha-Träger auf das Rechtsverhältnis zu den Diensten und Einrichtungen nicht anwendbar. Das Leistungserbringungsrecht schaffe insoweit einen abschließenden Wettbewerbsrahmen. Im letzten Teil seines Vortrags ging Fuchs ausführlich auf die Instrumente einer Qualitätssicherung und die Leistungsgewährung in Form eines persönlichen Budgets (§§ 17 Abs 2 SGB IX, 2 Abs. 2 SGB V, 35a SGB XI, 57 SGB XII) ein.

Zum Abschluss der Tagung behandelte Steffen Luik, Richter am Sozialgericht Ulm, „Interdependenzen von SGB IX und Arbeitsförderungsrecht sowie der Grundsicherung für Arbeitssuchende”. In der Einleitung zu seinem Vortrag stellte Luik heraus, dass auch nach der Neuordnung des Behindertenrechts im Jahr 2001 weiterhin ein gegliedertes System beibehalten wurde und die Vorschriften des SGB II und des SGB III, welche die berufliche Rehabilitation behinderter Menschen betreffen, daher im Lichte des SGB IX auszulegen seien. Im Anschluss daran differenzierte Luik zwischen dem im SGB IX enthaltenen Behinderungsbegriff (§ 2 Abs. 1 SGB IX) und dem speziellen Behinderungsbegriff im SGB III (§ 19 SGB III), welcher die beruflichen Auswirkungen einer Behinderung berücksichtige. Als Träger von beruflichen Reha-Leistungen sowohl im Arbeitsförderungsrecht als auch im Recht der Grundsicherung für Arbeitssuchende benannte Luik die Bundesagentur für Arbeit. Bei der Abgrenzung der Leistungsgewährung nach dem SGB III von derjenigen nach dem SGB II verwies der Vortragende zunächst auf die Subsidiarität der Leistungen zur Arbeitsförderung (§ 22 Abs. 1 SGB III) und behandelte anschließend Fallkonstellationen, in denen sich die Hilfebedürftigkeit während einer laufenden Maßnahme zur Teilhabe am Arbeitsleben verändert. Bei Wegfall der Hilfebedürftigkeit während der Leistungsgewährung nach dem SGB II komme eine Weitergewährung als Darlehen gemäߧ 16 Abs. 4 SGB II in Betracht. Bei Eintritt der Hilfebedürftigkeit während der Leistungsgewährung nach dem SGB III bestehe ein intendiertes Ermessen für die Weiterförderung nach dem SGB II. Zentrale Anspruchsnorm für die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben seien sowohl im SGB III als auch im SGB II über § 16 Abs. 1 Satz 3 SGB II die §§ 97 ff. SGB III. Schließlich stellte Luik zu den Struktur- und Prozessänderungen in der beruflichen Rehabilitation nach Einführung des SGB II eine qualitative Implementationsstudie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (IAB) in Zusammenarbeit mit der Universität Halle-Wittenberg 2006/2007 vor.

1 Die Autorin ist Richterin am Sozialgericht Dortmund und derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bundessozialgericht in Kassel.

Korrespondenzadresse

Dr. Karola Piepenstock

Bundessozialgericht

34114 Kassel

Email: karola.piepenstock@bsg.bund.de

    >