Gesundheitswesen 2007; 69(4): 206-215
DOI: 10.1055/s-2007-973091
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Medizinische Entscheidungsfindung im Krankenhaus - Ergebnisse einer explorativen Studie zum Stellenwert des shared decision making aus der Sicht der Ärzte

Medical Decision Making in Hospital - Results of an Exploratory Study on the Value of Shared Decision Making from the Physicians Point of ViewJ. Ernst 1 , S. Holze 1 , C. Sonnefeld 1 , 2 , H. Götze 1 , R. Schwarz 1
  • 1Universität Leipzig, Medizinische Fakultät, Institut für Arbeits- und Sozialmedizin, Selbständige Abteilung Sozialmedizin
  • 2Doktorand an der Selbständigen Abteilung Sozialmedizin der Universität Leipzig
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Publication History

Publication Date:
29 May 2007 (online)

Zusammenfassung

Der Wandel der Arzt-Patienten Beziehung und die Implementierung eines partnerschaftlichen Interaktionsmodells (shared decision making) in den medizinischen Behandlungsverlauf wurden in jüngster Vergangenheit vielfach beschrieben. Überwiegend wurden hierbei die Sicht und die Rolle der Patienten thematisiert. Die vorliegende Studie untersucht die Einstellung der Ärzte zum shared decision making. Auf der Basis von 15 fokussierten Interviews mit Klinikärzten wird sich dem Gegenstand auf der Basis eines explorativen Ansatzes genähert. Den Befragten ist der Begriff shared decision making im allgemeinen nicht geläufig, sie stehen aber einer partnerschaftlichen Arzt-Patient-Beziehung zumeist zustimmend gegenüber. Vielfach wird auch auf Hindernisse für deren Umsetzung hingewiesen. Mitunter weicht der Deutungskontext des Konzeptes von dem der Patienten ab. Es sollten, um die Realisierung partnerschaftlicher Kooperationsmuster im Behandlungsprozess systematisch zu verbessern, weitere differentielle Studien mit standardisierten Instrumenten durchgeführt werden. Neben der Sicht der Ärzte und der Patienten erscheint es wichtig, auch die Rolle anderer in den medizinischen Entscheidungsprozess integrierter Personengruppen aufzugreifen wie z. B. die der Pflege bzw. der Patientenangehörigen.

Abstract

The changes in the relationship between doctors and patients and the transfer of shared decision making into medical treatment has often been discussed. The role and the perspective of the patients are primarily described. The aim of our study is to examine the attitudes of physicians regarding the shared decision making concept, based on 15 interviews with clinical doctors. Our findings show that most doctors know the content of the concept and mostly agree with it. Practical barriers for the realisation of shared decision making are often stressed. The meaning of the concept of shared decision making for the physicians is in some respects different from the meaning of this concept for the patients. It is important to examine this concept more particularly with standardised instruments. It will be necessary to explore not only the role of patients and physicians in the medical decision making process but also the position of other relevant persons like the relatives of the patients or the nursing staff.

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1 Erinnert sei an die Gründung eines speziellen Förderschwerpunktes beim BMGS im Jahr 2000 [10], und auch im Koalitionsvertrag der Bundesregierung (2005) ist zu lesen, dass der begonnene Weg zu einer stärkeren Patientenpartizipation fortgesetzt werden soll [14, S.101].

2 Eine weitere, hier nicht weiter behandelte Ebene betrifft die kollektiven Beteiligungs- und Mitspracherechte von Patienten bzw. ihren Vertretern (z. B. auf administrativer Ebene im Gemeinsamen Bundesausschuss seit 1.1.2004).

3 Integriert sind im Folgenden Ergebnisse eines Promotionsvorhabens, das auf der Basis eines Projektes der Deutschen Krebshilfe e. V. durchgeführt wurde (Förderkennzeichen 70-2903).

4 Der Grundgedanke des Modells wurde im Zusammenhang mit der Stu-dienvorstellung vor Beginn des Interviews kurz umrissen.

5 Auf Grund der kleinen Stichprobe wurden die Antworten der Befragten vollständig anonymisiert. Der Buchstabe nach dem Zitat kennzeichnet lediglich einen zufällig vergebenen internen Zuordnungscode. Eckige Klammern innerhalb der Zitate verweisen auf größere Kürzungen durch die Autoren (Wortgruppen oder Sätze), Punkte ohne Klammern hingegen auf das Weglassen überflüssiger Füllwörter oder Wiederholungen.

6 Der zuletzt genannte Punkt dürfte sich infolge neuer Haustarifverträge zum Jahresende 2006 zumindest etwas entschärft haben.

Korrespondenzadresse

Dr. J. Ernst

Universität Leipzig Medizinische FakultätInstitut für Arbeits- und Sozial-medizin

Selbständige Abteilung Sozialmedizin

Riemannstr. 32

04107 Leipzig

Email: Jochen.Ernst@medizin.uni-leipzig.de

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