PiD - Psychotherapie im Dialog 2007; 8(3): 205-206
DOI: 10.1055/s-2007-970979
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Psychotherapie und betriebliche Organisationsprozesse: Chancen und Risiken der Grenzgängerei

Arist  von Schlippe, Julika  Zwack, Jochen  Schweitzer
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Publication Date:
14 September 2007 (online)

Welche Metapher könnte das Verhältnis von Psychotherapie und Coaching beschreiben? Schwestern vielleicht - unterschiedlich alt, die eine schon erwachsen - und stolz darauf, die andere(n) gerade der Pubertät entwachsen. Sie konkurrieren, sind jeweils „einzigartig” und doch einander ähnlich. Und wie Schwestern so sind, sind sie darauf bedacht, die Unterschiedlichkeit zu betonen, auch wenn, oder gerade weil die Umwelt die Ähnlichkeit hervorhebt. Manchmal werden sie verwechselt und je nach Umfeld, kommen sie auch unterschiedlich gut an.

Es waren vor allem zwei Gründe, die uns veranlassten, dieses Heft herauszugeben. Zum einen die unübersehbare „Verwandtschaft”, die sich auch darin äußert, dass eine nicht gerade kleine Zahl von Psychotherapeutinnen und -therapeuten „nebenher” oder in einem späteren Laufbahnabschnitt auch in Tätigkeitsfeldern tätig ist, die nichts mit „Heilbehandlung” zu tun haben. Dass sie dafür angefragt werden, lässt vermuten, dass ein Teil ihrer Kompetenzen dort nützlich verwendet werden kann. Dazu gehören neben der Fallsupervision anderer Fachkollegen und der Teamsupervision psychotherapeutisch ausgerichteter Versorgungsteams auch

die berufsbezogene Beratung einzelner Fachleute, häufig Führungskräfte, in beruflichen Konflikten, Entscheidungen und Umbrüchen (in der Regel „Coaching” genannt), die einzelfallübergreifende Beratung von Arbeitsteams bei Neugründungen, Umstrukturierungen oder Konflikten (meist spricht man hier von Teamberatung oder Teamsupervision), die Beratung kleiner und großer Organisationen, wenn diese bei sich wandelnden Umweltanforderungen ihre Abläufe und Strukturen verändern wollen oder müssen (Organisationsberatung, Unternehmensberatung oder Change-Management-Beratung).

Für diese Kolleginnen und Kollegen will dieses Heft aufzeigen, wie die eigenen psychotherapeutischen Kompetenzen in diesen anderen Arbeitsfeldern nutzbar gemacht werden können. Ebenso wichtig dürfte jedoch die Frage danach sein, wie psychotherapeutisches Wissen im Organisationskontext auch geradezu schädlich sein kann - dann nämlich, wenn die Perspektive vorschnell verengt wird, wo der Blick eigentlich weiter gestellt bleiben müsste: Was muss also auch „verlernt” werden, d. h. welche Praktiken sind im Organisationskontext unangemessen? Welches Wissen über Unterschiede zwischen formalen Organisationen und privaten Beziehungsformen ist zu respektieren? Wie viel „Expertenwissen” über Betriebswirtschaft, Technik, Arbeitsabläufe muss man sich aneignen und wann ist eine gewisse „Dummheit” in diesen Fragen im Sinn einer „Position des Nicht-Wissens” sogar vorteilhaft? Wie sieht es in berufs- und betriebsbezogenen Beratungen aus mit therapeutischen Werthaltungen wie Abstinenz, Neutralität, Nondirektivität? Wo kann dort ein Denken in psychodynamischen, familiendynamischen, psychopathologisch-störungsspezifischen, gruppendynamischen u. ä. Kategorien hilfreich sein, wo wird es zum Stolperstein?

Ein zweiter Anlass für dieses Heft ist die Tatsache, dass fast alle Psychotherapeuten selbst ihrerseits in organisationsförmigen Strukturen arbeiten. Für die in privater Praxis Niedergelassenen zeigt sich dies in Quartalsabrechnungen, Richtlinien und Qualitätssicherungsprozeduren. Die in Institutionen Beschäftigten merken dies in ihrer Zusammenarbeit mit Chefs, Kollegen, Verwaltungen.

Wer die „Wanderungen” seiner Patienten durch das regionale Versorgungsnetz studiert, bevor sie den Weg zu ihr/ihm fanden oder nachdem die Therapie bei ihm/ihr zu Ende war, kann sich selbst als Teil eines größeren, institutionsübergreifenden Organisationszusammenhanges begreifen. In diesem Sinne will das Heft an einigen Beispielen aufzeigen, wie Coaching und Organisationsberatung auch in psychosozialen Einrichtungen helfen kann, die Rahmenbedingungen für die psychotherapeutische Arbeit im Einzelfall zu verbessern.

Das hier umrissene Arbeitsfeld liegt in einem - erstaunlich großen - Feld zwischen Betriebswirtschaft und Psychotherapie, zwischen formalen Entscheidungsprogrammen und sehr konkreten zwischenmenschlichen Beziehungen, zwischen Öffentlichkeit und Intimität. Wir drei Herausgeber sind in der Psychotherapie ebenso wie in Coaching und Organisationsberatung tätig (derzeit überwiegend in Letzterem). Wir konnten für dieses Heft Kolleginnen und Kollegen als Autoren gewinnen, die fast alle diesen „Spagat” aus eigener Anschauung kennen und daher - wie wir hoffen - spannende und sehr persönliche Antworten formulieren.

Einige Fragen haben uns bei der Planung dieses Heftes besonders beschäftigt:

Wie klar oder verschwommen sind die Abgrenzungen? Wie viel Psychotherapie steckt im Coaching, wie viel Coaching in der Psychotherapie? Wo liegen die Grenzen von Neutralität - Abstinenz - Nondirektivität? Wann sind die eigenen Meinungen, Werthaltungen, Lebenserfahrungen der Berater gefragt? Wie sorgen Coaches und Organisationsberater für sich selbst, besonders in konflikthaften Prozessen rund um z. B. Rationalisierungen, Entlassungen, Mobbing? u. v. a. m. Die Autorinnen und Autoren dieses Heftes haben auf sehr unterschiedliche Weise versucht, Antworten auf all diese Fragen zu formulieren. Wir wünschen Ihnen beim Lesen ähnlich viele erhellende und klärende Momente, wie wir sie selbst in der Auseinandersetzung mit den Autoren erleben konnten.

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