PiD - Psychotherapie im Dialog 2007; 8(2): 171-172
DOI: 10.1055/s-2007-970880
Interview
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Wie gestaltet ein Verhaltenstherapeut seinen Ruhestand?

Eibe-Rudolf  Rey
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Publication Date:
01 June 2007 (online)

Vorbemerkung der Herausgeber:
Beim Thema „Wann ist zu Ende therapiert” hatten die Herausgeber die Idee, Therapeuten zu bitten, Gedanken zur Beendigung ihrer therapeutischen Tätigkeit zu Papier zu bringen. Deswegen fragten wir eine Reihe von Therapeuten an, die gerade ihre Berufstätigkeit beendet hatten und baten sie um eine kurze Beschreibung ihrer inneren Situation und der möglichen Schwierigkeiten beim Aufhören. Leider hat uns nur ein Kollege geantwortet - ein Umstand, über den man lange nachdenken könnte. Ist dies vielleicht als ein Indiz zu werten, dass das Aufhören der therapeutischen Tätigkeit und ein „Sich-damit-auseinander-setzen” gar nicht so leicht ist?
Umso schöner ist es, dass Herr Prof. Rey uns seine Gedanken zur Verfügung stellt.

Kann man als ehemals aktiver Verhaltenstherapeut im Ruhestand auf die aktive Ausübung verhaltenstherapeutischer Tätigkeit verzichten?

Mir, der ich seit Oktober 2003 im Ruhestand bin, wurde diese Frage gestellt. Ich will sie sehr persönlich beantworten:

Zunächst sei angemerkt, dass ich nie während meiner Berufstätigkeit ausschließlich als psychologischer Verhaltenstherapeut tätig war. Meine Tätigkeit am Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim war stets geprägt durch drei zentrale Aufgabenbereiche, nämlich die Beteiligung an der Patientenversorgung in der Praxis, die Lehre und Ausbildung von Studenten, jungen Diplom-Psychologen oder Ärzten in Verhaltenstherapie und die wissenschaftliche Forschung mit Vorträgen und Publikationen. So habe ich während meiner 40-jährigen Berufstätigkeit eigentlich niemals nur eine 5-Tage-Woche mit nur einem 8-Stunden-Tag erlebt. Trotzdem ist mir der Übergang in den Ruhestand relativ leicht gefallen, weil ich einige Aufgaben aus dem Berufsleben in reduzierter Form in den Ruhestand übernommen habe, so bin ich beratend in der Leitung eines VT-Ausbildungsinstitutes in Frankfurt, als Verhaltenstherapiegutachter für die Krankenkassen, in der Ethikkommission der Fakultät, der ich angehört habe, intensiv tätig und pflege deshalb nach wie vor einen geregelten und strukturierten Tagesablauf.

Aber neben dieser Weiterführung alter Tätigkeiten habe ich mir auch ein paar neue Betätigungsfelder gesucht, für die ich in der Vergangenheit niemals Zeit hatte und mit denen ich endlich verborgene Neigungen und Interessen verwirklichen konnte, nämlich ein Seniorenstudium an der Universität Heidelberg in deutschsprachiger Literaturwissenschaft. Man lernt hier z. B. durch die Interpretation großer und großartiger Romane, von Novellen oder Balladen des 19. Jahrhunderts, dass die Wurzeln der modernen wissenschaftlichen Psychologie, wie sie sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt hatten, wesentlich früher in der Denkweise des gelehrten Bürgertums zu suchen sind. Als weitere neue Betätigungsfelder könnte ich das Hören und die Auseinandersetzung mit der Musik, besonders der klassischen Kammermusik, oder Kultur- und Studienreisen in Europa nennen.

Ich komme aber zurück zur konkreten Beantwortung der Eingangsfrage. Therapeutische Tätigkeit hat auch viel zu tun mit der Beziehungsgestaltung zwischen Klient und Therapeut. Der Therapeut ist immer auch Identifikationsfigur, Modell oder Vorbild für den Klienten. Wenn die Distanz zwischen Therapeut und Klient aufgrund lebensgeschichtlicher Entwicklung, Interessen oder Lebensalter zwangsläufig größer wird, dann sollte man rechtzeitig seine eigenen therapeutischen Grenzen erkennen und das Feld jüngeren, unverbrauchten Therapeuten überlassen, die noch fest von ihren Idealen überzeugt sind, dass sie mit ihrem therapeutischen Wissen und ihren therapeutischen Interventionen einen uneingeschränkt positiven Einfluss auf die spätere Lebensgestaltung eines Klienten ausüben können. Wenn man selbst als Therapeut wie auch als Person viele Höhen und Tiefen in seiner Berufstätigkeit, in seiner Partnerschaft und/oder in seiner Erziehung der Kinder erlebt hat, dann urteilt man gegenüber Problemen, die ein Klient an einen älteren Therapeuten heranträgt, vielleicht manchmal ungerecht oder allzu streng, nimmt sie vielleicht nicht genügend ernst. Spätestens dann sollte der Zeitpunkt gekommen sein, seine therapeutischen Ambitionen zu beenden. Man kann zwar als Älterer, als Senior noch eine große Zahl hilfreicher, gut gemeinter Ratschläge, Hinweise, Anregungen geben, man kann aber nicht mehr problemlos das therapeutische Grundprinzip, nämlich einem Klienten bei seiner individuellen Selbstverwirklichung eine Hilfestellung zu geben, realisieren. Man kann sich, wie ich fest glaube, von seiner eigenen Lebenserfahrung, die man (un-)bewusst auf die Form einer Selbstverwirklichung überträgt, nicht mehr ausreichend distanzieren, man wird eben doch, ob man will oder nicht, ein „nörgeliger Alter”.

Abgesehen davon kann man nicht permanent auf dem neuesten Stand der wissenschaftlichen Weiterentwicklung bleiben. Also die Loslösung von seinen psychotherapeutischen Aufgaben als ehemaligem Schwerpunkt seiner Berufstätigkeit fällt einem dann umso leichter, wenn es gelingt, sich mit solchen Reflexionen im Hinterkopf, wie ich sie als persönliche Meinung dargestellt habe, neue Betätigungsfelder zu suchen, mit denen man seine alten, früheren Interessen, Wünsche und Neigungen verwirklichen kann, dabei aber nicht alle Aufgaben aus der früheren Berufstätigkeit von heute auf morgen abrupt aufgibt.

Korrespondenzadresse:

Prof. Dr. Eibe-Rudolf Rey

Gerbergasse 5

69469 Weinheim

Email: e-r.rey@web.de

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