PiD - Psychotherapie im Dialog 2007; 8(1): 100
DOI: 10.1055/s-2006-952039
Kommentar
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Kommentar zum Interview mit Herrn Professor Dörner

in „Psychotrauma” (PID Heft 4, Dezember 2006)
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Publication Date:
13 March 2007 (online)

Das Interview zwischen Herrn Dörner und Herrn Fliegel zur Frage der Interventionsindikation bei Personen, die invasiver, verletzender Gewalt ausgesetzt sind und unter deren Einfluss stehen, war sehr anregend.

Das Gespräch war breit angelegt, und so wurde die Frage wichtig, ob Psychotherapie Mittel bereitstellen kann, die Übel der menschlichen Existenz, das Fragwürdige und das Böse aufzufangen. Dem Fragwürdigen und Bösen ist etwas entgegenzusetzen, und Zerstörung ist aufzuhalten. Keine Frage. Aber ist krank, wer böse ist, und ist krank, wer schreit aus tiefer Not?

Psychotherapie gegen tragische Lebensverhältnisse? Freud meinte einst, Psychoanalyse könne wirksam werden bei psychodynamischer Selbstsabotage, nicht aber beim Elend, das üble Verhältnisse schaffe. Da ist tätiger Eingriff gefragt und die Aussicht, das Richtige zur rechten Zeit tun zu können.

Dass Lebensverhältnisse aus den Fugen geraten, ist grausam. Und anhaltend interessant. Keine Kunst ohne Grausamkeit.

Grausamkeiten zu erleiden und Grausamkeiten auszuüben, ist furchtbar und von Passion erfüllt, von heißer und von kalter Passion. Zerstörung schafft Entsetzen und schaudernde Ehrfurcht und tragische Größe. Heinrich von Kleist war ein exemplarischer Meister der Darstellung rasender Katastrophenbereitschaft.

Lange vor den fingierten Autobiografien des Schreckens (Ich war Kind in Auschwitz, Ich war Kindersoldatin usw.) schildert Gottfried Keller im Grünen Heinrich ein „Kinderverbrechen”. Sein erzähltes Ich sah als kleiner Junge die Chance gekommen, die Großen in Staunen zu versetzen und die älteren Schulkollegen sprachlos zu machen. Er erzählt den Lehrern eine abenteuerliche und bewegte Geschichte von bösen Schikanen, die er von den Mitschülern erlitten habe. Kein Wort wahr, aber man glaubte ihm. Auch ein Opfer ist ein Held oder wenigstens ein tragischer Held.

Wer verwundet, gemartet, gedemütigt, verhöhnt wurde, der hat die Überschaubarkeiten des Alltags hin zum Kosmos des Schreckens transzendiert. Die Erfahrungswelt dessen, der als Gezeichneter überlebt, ist für immer anders und vielleicht nicht teilbar oder nur teilbar in Ausdrucksformen der Kunst und der Religiösen. Die Erfahrungswelt ist anders geworden durch Passion - in jenem Verständnis des Neuen Testaments: Nicht der gesunde junge Mann trägt die Krone, sondern das Haupt voll Blut und Wunden. Es gibt eben keine Siege, auch nicht die über all das Angegriffene und Angreifende, das einen verbraucht.

Doch, es hat einen gegeben, in der Literatur. Aus der Daseinsmisere wurde die Schöne neue Welt. Gestilltsein, Zufriedenheit, Leistung, Komfort in weiser technifizierter Ordnung. Das Buch war Satire.

Aber die Entwicklung hin zu einer Welt, in der neben der Verringerung gesellschaftlicher Übel auch emotionale und moralische Intelligenz und Engagement für wechselseitiges Wohlergehen an der Tagesordnung sind, wird jeder begrüßen. Kann das, was Psychotherapeuten tun, dafür vorbildlich sein? Nein. Therapeuten können in ihrem Beruf Hervorragendes leisten, sie können misshandelte Kinder entängstigen, verelendeten Müttern aus der Verzweiflung helfen, Angst- und Alarmzustände lindern - all dies bis zu einem gewissen Grad -, aber sie können die Form und Farbe des Lebens nicht prägen und nicht bestimmen, in dem einer zuhause ist, komfortabel oder unwirtlich.

Brigitte Boothe, Zürich

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