PiD - Psychotherapie im Dialog 2007; 8(1): 3-4
DOI: 10.1055/s-2006-951991
Standpunkte
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„Ich habe etwas gefunden, was mir entsprach”

Wolfgang  Senf
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Publication Date:
13 March 2007 (online)

Auf einen PiD-typischen Standpunkte-Beitrag zu dem Thema verzichten wir in diesem Heft. Zum einen würde es zu Wiederholungen von Inhalten anderer Beiträge kommen, in denen die Grundlagen, Methoden und die verschiedenen Perspektiven zur stationären Psychotherapie dargestellt sind. Zum anderen ist Stationäre Psychotherapie kein einheitliches Konzept und hat unterschiedliche Wurzeln. Es sollen daher nur einige einleitende Bemerkungen gemacht werden, bevor im nachfolgenden Artikel als weiterer Standpunkte-Beitrag das Verhältnis von Krankenhausbehandlung und Rehabilitation kontrovers diskutiert wird.

Von den Anfängen an lassen sich für die Psychotherapie im Krankenhaus zwei grundsätzliche Wege unterscheiden:

der Einbezug psychotherapeutischer Ansätze und Methoden in das klinische Handeln traditioneller somatischer oder psychiatrischer Kliniken die Errichtung eigenständiger psychotherapeutischer Abteilungen bzw. Kliniken mit einem speziellen psychotherapeutischen Milieu als eine eigenständige Therapieform mit spezifischen Zielsetzungen, Methoden und Indikationen.

Diese beiden Wege sind ursprünglich mit den Namen Viktor von Weizsäcker und Ernst Simmel verbunden, und sie weisen auf die Wurzeln, aus denen sich die Psychotherapie im Krankenhaus entwickelt hat: Die anthropologische Medizin und die Psychoanalyse haben die stationäre Psychotherapie vor allem vor dem Zweiten Weltkrieg und unmittelbar danach geprägt. Erst in den 60er-Jahren sind dann die Einflüsse aus der Bewegung der Therapeutischen Gemeinschaft sowie die Einflüsse aus der Entwicklung und raschen Ausbreitung der Gruppendynamik hinzugekommen. Ab den 70er-Jahren wurde dann die Verhaltenstherapie zur Alternative und zur „Konkurrentin”, was die Entwicklung der Stationären Psychotherapie ungemein beflügelt und gefördert hat, auch wenn es unter Psychoanalytikern keine Begeisterung ausgelöst hat. Der dann in den 80er-Jahren folgende Einbezug systemischen Denkens hat die Praxis stationärer Psychotherapie zwar beeinflusst, nicht jedoch zu eigenständigen systemisch-therapeutisch ausgerichteten Abteilungen bzw. Kliniken geführt.

Psychoanalytisch-psychodynamisch oder verhaltenstherapeutisch - das waren lange Zeit die konkurrierenden Alternativen, auch was die therapeutische Theorie und die konkrete therapeutische Ausrichtung betrifft, was in mancher Auseinandersetzung eher an einen Glaubenskrieg denn an eine sachlich-wissenschaftliche Auseinandersetzung denken ließ. Auch wenn es manchmal heute noch so ist, ist es insgesamt zu weitgehenden Annäherungen zwischen den unterschiedlichen theoretischen Perspektiven gekommen (Senf u Broda 1997[1]). Zumindest für spezielle Störungen, wie z. B. die Essstörungen, sind multimodale und methodenübergreifende Therapieansätze Norm und Leitlinie, auch wenn die „schulische” Zuordnung im offiziellen Sprachgebrauch oft aufrechterhalten wird.

Allerdings ist in den letzten Jahren eine andere heftigere Kontroverse hinzugekommen, nämlich die zwischen stationärer Psychotherapie als Krankenhausbehandlung einerseits bzw. als Rehabilitation andererseits. Diese Kontroverse ist in vollem Gang, ihr Ausgang wird die weitere Entwicklung der stationären Psychotherapie nachhaltig beeinflussen. Deshalb wird ihr in diesem Heft ein eigenes Forum gegeben, auf der Suche nach überzeugenden Standpunkten und in der Hoffnung, eine konstruktive Diskussion auszulösen.

Stationäre Psychotherapie ist zwar kein einheitliches Konzept, dennoch gibt es allgemeingültige Essentials und Leitlinien. Dazu bemühen wir nochmals Viktor von Weizsäcker, der schon vor dem Zweiten Weltkrieg eine enge Verflechtung zwischen Psychotherapie und Krankenanstalt suchte, als er ab 1928 im Rahmen der Nervenabteilung der Medizinischen Universität Heidelberg eine besondere „Neurotiker-Abteilung” eröffnete. Neben psychotherapeutischen Ansätzen wurden auf dieser Station neuartige Formen rehabilitativer Betreuung entwickelt. Von Weizsäcker dachte schon in Arbeitskonzepten, wie sie später von anderen unter dem Begriff der therapeutischen Gemeinschaft entwickelt, ausgestaltet und bekannt wurden. Aus dem Werk von Weizsäckers lässt sich schon ein grundsätzliches Ziel für die stationäre Psychotherapie erkennen, nämlich die genaue Kenntnis und die ständige Reflexion der Wirkung des gesamten Therapeutenteams, des stationären Milieus und des ganzen Settings auf den aktiv einbezogenen Patienten, entgegen dem Bemühen, einen passiven Patienten mit verschiedenartigen Methoden ändern zu wollen.

„Wird ein Patient bei seiner Entlassung gefragt, warum es ihm besser geht, dann erhält man häufig die vage Antwort: ,Ich weiß nicht warum. Ich habe etwas gefunden, was mir entsprach. Ich fand einige nette Leute. Vielleicht hat das geholfen‘”. Das Zitat stammt von T. Main (1946), der mit diesem Beispiel das entscheidende „Essential” stationärer Psychotherapie aufzeigt, das Prinzip der dynamischen Therapieeinheit einer Psychotherapiestation. Die Anfänge dazu sind das sog. Northfield-Experiment am Northfield-Military-Hospital, wo der Psychiater W. Bion (1943, 1961) Kriegstraumatisierte in Gruppen statt in Einzeltherapie zu behandeln begann, später zusammen mit T. Main im Cassel-Hospital bei London. Es ging ihnen darum, die klinische Situation so umzustrukturieren, dass sie als „therapeutische Gemeinschaft” alternativ zur bisherigen „pathogenen Umwelt” den therapeutischen Prozess ermöglicht und fördert. Dieses Konzept ist komplexer und differenzierter als die „Herausnahme aus dem pathogenen Milieu”, was ein Indikationskriterium für stationäre Behandlung ist. Die von Main und Bion implizit schon erstellten Leitlinien sind:

Die Klinik ist das therapeutische Feld. Der therapeutische Prozess wird wesentlich von der Gruppensituation getragen. Die Bedeutung der therapeutischen Zweierbeziehung tritt im gesamten Therapieraum (Übertragungsgefüge im psychoanalytischen Sinne) zurück. Psychotherapie in der Klinik ist deswegen nicht auf die therapeutische „Stunde” mit dem Arzt oder Psychologen beschränkt. Therapie findet durch eine Gruppe therapeutisch Tätiger statt. Das therapeutische Feld wird durch die enge Zusammenarbeit und durch ein koordiniertes therapeutisches Vorgehen aller therapeutisch Tätigen geschaffen und aufrechterhalten. Das macht eine freie Kommunikation zwischen allen Beteiligten und eine größtmögliche Toleranz gegenüber jedem Mitglied notwendig. Eine wichtige Voraussetzung dabei ist die Kontinuität der Therapeutengruppe. Patienten inszenieren im therapeutischen Feld einer psychotherapeutischen Klinik ihre Konfliktpathologie. Alle Patienten verhalten sich in dem sozialen Mikrokosmos einer Station entsprechend ihren inneren Motiven und ihrem Erleben. Sie inszenieren die interpersonellen Konflikte, die Teil ihrer psychischen oder psychosomatischen Erkrankung sind. Das therapeutische Potenzial und die Ressourcen der Patienten werden optimal gefördert. Die Patienten sind aufgefordert, sich aktiv und selbstverantwortlich an dem therapeutischen Prozess zu beteiligen, um die Entwicklung ihrer Autonomie zu fördern. Jeder Patient ist gefordert, sich in der Gemeinschaft darzustellen, sich mit seinen Motiven, Bedürfnissen, Wünschen, Ängsten etc. in den Beziehungen zu inszenieren. Durch diese Kommunikation und Interaktionen in der Gemeinschaft kommt es zu Neuerfahrungen, die zu Korrekturen eingefahrener Verhaltens- und Erlebensweisen führen. Die Reflexion allen Geschehens in der therapeutischen Gemeinschaft ist die Grundlage für soziales Lernen. Die Lebensrealität der Patienten außerhalb der Klinik wird in die Therapie miteinbezogen.

Diese Grundprinzipien erweitern die individualpsychologische Perspektive durch eine sozial-psychologische Perspektive, zwar orientiert am Gruppenmodell, aber weit darüber hinausgehend. Das unterscheidet die Stationäre Psychotherapie als eine eigenständige Therapieform von der einfachen Anwendung von Psychotherapie in der Klinik und von der Ambulanten Psychotherapie.

Bei Patienten, die einer stationären oder teilstationären Behandlung bedürfen, handelt es sich um chronische Erkrankungen in schwerer Ausprägung und nahezu regelhaft mit klinischer oder psychosozialer Komorbidität. Diese Patienten können primär ambulant nicht ausreichend behandelt werden. In früheren Zeiten war man der Meinung, durch eine stationäre psychotherapeutische Behandlung eine Heilung auch bei schwerer Erkrankung zu erreichen. Entsprechend lang waren die stationären Aufenthalte. Heute besteht Konsens darüber, dass eine optimale Behandlung dieser Patienten nur im Rahmen eines ambulant-stationär-ambulanten Gesamtbehandlungsplanes erfolgen kann. Die Aufstellung eines Gesamtbehandlungsplanes nach einer standardisierten Diagnostik sollte heute als Goldstandard der Behandlung angesehen werden. Dabei stellt die stationäre/teilstationäre Psychotherapie „nur” eine, wenn auch wichtige Episode in dem gesamten Behandlungsablauf dar. Bedenkt man die Länge dieser Behandlungen, so sind die sechs bis zwölf Wochen stationäre Behandlung in der Tat nicht die längste Therapiephase der Behandlung insgesamt.

Auf die Notwendigkeit der Integration stationärer, teilstationärer und ambulanter Versorgung, also die Überwindung der bestehenden Sektoralisierung psychotherapeutischer Behandlung, um die durch die verhinderte Behandlungskontinuum im System erzeugten Brüche zu überwinden, sind wir früher schon eingegangen (www.thieme.de/pid). Diese Thematik wird auch in diesem Heft ausführlich behandelt.

1 Die Literaturangaben finden sich auf der PiD-Website (www.thieme.de/pid).

Korrespondenzadresse:

Prof. Dr. med. Wolfgang Senf

Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik
Rheinische Kliniken am Universitätsklinikum Essen

Virchowstr. 174

45147 Essen

Email: wolfgang.senf@uni-essen.de

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