Notfall & Hausarztmedizin 2006; 32(6): 279
DOI: 10.1055/s-2006-948533
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Wo ist das Selbstverständnis des Arztes?

Katrin Große, Ulrich Rendenbach
Weitere Informationen

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
14. Juli 2006 (online)

Meine Verordnungen werde ich treffen zu Nutz und Frommen der Kranken, nach bestem Vermögen und Urteil; ich werde sie bewahren vor Schaden und willkürlichem Unrecht ...” Viele Ärzte mögen sich an diesen Schwur erinnern und angetreten sein, diesen auch auszufüllen, ob im praktischen Handeln, in der Grundlagenforschung, der Wissenschaftstheorie und heute auch als evidence based medicine. Immer schon wollten sie dem Menschen dienen, vertrauensvoll, gerecht und selbstlos. Streikende Ärzte, Praxisschließungen und Überdruss passen nicht in dieses Bild. Ist das Selbstverständnis auf den Hund gekommen?

Betrachtet man die heutige Gesellschaft aus systemtheoretischer Sicht, sind deren Funktionssystem wie Recht, Wirtschaft, Erziehung, Gesundheitssystem etc. eher eigenständig. Ihnen ist gemeinsam, dass sie sich für autonom halten und die Welt allein aus ihrer Perspektive sehen. Sie stehen sich mal konkurrierend, mal versöhnlich, oft aber feindlich gegenüber. Der Konflikt ist offenkundig. Je nachdem aus welchem Blickwinkel die „Entscheidungsträger” urteilen, werden die Prioritäten gesetzt. In der Ärzteschaft hat das bereits zu massiven Veränderungen geführt. Der Arzt kann sich nicht mehr allein am bio-psycho-sozialen Hintergrund seines Patienten ausrichten, geschweige denn im hippokratischen Sinne agieren. In die eigendynamischen Strudel der Systeme geraten, ist er gezwungen, Überlebensstrategien zu erfinden.

Dabei hat sich zwangsläufig die Rolle des Arztberufes alter Tradition wie ihn Sturm [1] beschreibt, verändert. Der Arzt wandelt sich zum Unternehmer, Heiltechniker und Kaufmann. Er reagiert im Kampf der Systeme eher ohnmächtig, selbst wenn sich eine „cooperate identity” unter den streikenden Krankenhausärzten bildet [2]. Da diese meist jünger sind, ihr Leben noch einrichten müssen, sind sie eher kampfeslustig, erkennend, dass ihnen vor allem dann unethisches Verhalten vorgeworfen wird, wenn sie nicht umsonst arbeiten wollen. Niedergelassene Ärzte, meist älter, resignieren, sie werden von einer ärztefeindlichen Gerichtsbarkeit in die Zange genommen. Die Summe ihrer Einzelschicksale hat größte zerstörerische Kraft, reicht aber wohl immer noch nicht aus, um das System zu ändern. So arbeiten sie eben weiter, ihr Trost ist das hohe Prestige in der Bevölkerung oder vielleicht gar der Alkohol.

Ärzte rekrutieren ihr Weltbild aus Krankheit, Leid und Tod Einzelner. Dies lässt sich nur schwer unter die Zauberformel „ausreichend, zweckmäßig, wirtschaftlich” subsumieren, ohne zu definieren, was dies im Einzelnen heißt.

Andererseits ist der Ermessensspielraum des Arztes so gering geworden, dass er stets falsch handelt, es kommt nur darauf an, wer urteilt, der Patient oder der Medizinökonom. Perfide bleibt, dass der Arzt zufriedene Patienten braucht. So schreibt Spranger [3] „die Ruhigstellung des Kindes unter Ritalin schafft eine Allianz der Zufriedenheit zwischen Arzt und Eltern.” Er soll aber andererseits alleinverantwortlich bestimmen, ob das kleinste Kind einer Population nur klein ist, oder ob es an einem „idiopathischen Kleinwuchs” leidet und damit einen teuren Anspruch auf Diagnostik und Therapie hat (3). Noch deutlicher wird der Konflikt im Rechtssystem: Handelt der Arzt nicht, klagen die Eltern nach BGB, handelt er, klagen die Kassen nach SGB V. Leicht lässt sich an diesem Beispiel demonstrieren, dass andere als der behandelnde Arzt definieren müssen, was die Solidargemeinschaft finanzieren soll.

Ärzte werden abseits ihrer Arbeit am Patienten eigenes Denken über die Systeme vorlegen müssen, sei es aus Wut, erlittenem Schaden oder Existenznot. Nur eine gesellschaftlich akzeptierte und politisch sauber formulierte Machtzuweisung an die einzelnen Systeme kann die völlige Kapitalisierung der sozialen Sicherung zum Schaden des einzelnen Kranken noch verhindern. Auch muss sich der Einzelne fragen, warum er Arzt ist und warum er welche Therapien anwendet.

Wie möchten Sie - in die Rolle des Patienten geraten - behandelt werden?

Literatur

  • 1 Sturm E. et al. .Hausärztliche Patientenversorgung, Konzepte - Methoden - Fertigkeiten. Stuttgart: Georg Thieme Verlag 2006
  • 2 Nagel E. Revolution in den Kliniken.  Der Spiegel. 2006;  12 160
  • 3 Spranger J. Krankheit und Geld. Gedanken zur Ökonomie in der Medizin; tägliche praxis.  München: H. Marseille. 2005;  171

Dipl.-Psych. Katrin Große

Universitätsklinik Dresden, Carl Gustav Carus

Dr. med. Ulrich Rendenbach

Allgemeinmedizin Universität Leipzig

    >