ZFA (Stuttgart) 2006; 82(11): 502-516
DOI: 10.1055/s-2006-942307
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Früherkennung auf Karzinome

Early Detection on CarcinomaH.-H. Abholz1
  • 1Abteilung fÏr Allgemeinmedizin, Universitätsklinikum Düsseldorf
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Publication Date:
21 November 2006 (online)

Es wird Grundsätzliches und Spezielles der Früherkennung auf Karzinome dargestellt. Das Grundsätzliche ist - mit gewissen Adaptationen - auf jegliche Früherkennung, also z. B. auch auf die in Bezug auf Diabetes, Toxoplasmose in der Schwangerschaft, Eisenspeicherkrankheit, Bauchaorten-Aneurysma, etc. übertragbar.

Grundlagen der Früherkennung auf Karzinome

Die Naturgeschichte eines Karzinoms

In Abb. [1]

Auf allen, zumindest aber auf allen frühen Stufen der „Karzinom-Pathogenese” kann die Kaskade der zellulären Entartung durch Abwehrmechanismen des Körpers unterbrochen und beendet werden, sodass es nicht zum klinisch manifesten Karzinom kommt.

ist die so genannte Naturgeschichte (natural history) eines Krebses - ganz allgemein gesprochen - dargestellt [1]. Es ist insbesondere darauf aufmerksam zu machen, dass zu allen, zumindest aber zu allen frühen Stufen der „Karzinom-Pathogenese” Abwehrmechanismen des Körpers, die nur zu Teilen bekannt sind, dazu führen können, dass die Kaskade der zellulären Entartung unterbrochen und beendet wird, es also nicht zum klinisch manifesten Karzinom kommt. Der Körper - ähnlich wie bei einem Infektions-Befall - wehrt sich gegen „das Andere” und vernichtet es nicht selten erfolgreich.

Abb. 1 Krebs als ein mehrschrittlicher Prozess, der nich fortschreiten muss.

Nicht alle der in Abb. [1] angegebenen Entartungsstufen können mit den heute zur Verfügung stehenden diagnostischen Mitteln überhaupt entdeckt werden. Damit ist dem Ansatz von Früherkennung eine Grenze in der zeitlichen Vorverlegung einer Diagnose - genannt Früherkennung - gegeben.

„Je früher, desto besser”?

Der Grundsatz von Früherkennung scheint in dem Satz zusammenfassbar: Je früher eine Diagnose gestellt wird, umso effektiver kann ein Karzinom bzw. können die Auswirkungen desselben verhindert werden. Hierfür wird angeführt: Frühe Herde von Krebs lassen sich total entfernen, in der frühen Phase gibt es keine Metastasierungen. Dies aber setzt voraus, dass Krebs eine lokale Erkrankung ist - was aber zumindest für einen Teil der Karzinome heute bezweifelt werden muss. Und es setzt voraus, dass Handeln in der frühen Phase einer Karzinomentstehung unproblematisch, d. h. ohne Nebenwirkungen ist.

Betrachtet man aber die in Abb. [1] dargestellte formale Naturgeschichte des Karzinoms, dann fällt in diesem Zusammenhang mehrerlei Problematisches auf [15]:

Sehr früh entdeckte Tumoren werden möglicherweise aggressiv behandelt, obwohl sie der Körper alleine in den Griff bekommen hätte.

1. „Sehr früh entdeckt” kann auch dazu führen, dass man Dinge - teilweise sehr eingreifend - behandelt, die der Körper alleine repariert hätte. Die Früherkennung auf Neuroblastom, dem häufigsten kindlichen bösartigen Tumor mit hoher Aggressivität, ist hierfür Beispiel: Eine solche Früherkennung musste aufgrund mehrerer, methodisch sehr verlässlicher Studien [12] [17] abgebrochen werden, weil man zwar viele frühe Formen entdeckt und dann in sehr eingreifender Weise behandelt hatte, insgesamt aber feststellen musste, dass für die so versorgte Gruppe der Kinder - im Vergleich zu einer Gruppe, die keine Früherkennung bekam - man eher Schaden, denn Nutzen erreicht hatte: In den Gruppen mit Früherkennung verstarben mehr als in den Vergleichsgruppen ohne eine solche - zu nennenswertem Teil an den Folgen einer „aggressiven” Krebstherapie. Man hatte zwar mehr frühe, aber kaum mehr aggressive Tumoren gefunden. Erstere aber werden vom Körper ganz offensichtlich selbst vernichtet. Die schnellwachsenden, aggressiven Formen hingegen entziehen sich mehrheitlich einer solchen Früherkennung.

In der Früherkennung entdeckte und behandelte Tumoren wären eventuell aufgrund anderer biologischer Gegebenheiten, z. B. der Lebenserwartung eines Menschen, ohne Folgen geblieben.

2. „Früh entdeckt” kann auch beinhalten, dass man etwas entdeckt, was aufgrund anderer biologischer Gegebenheiten - z. B. der Lebenserwartung eines Menschen - ohne Folgen geblieben wäre. Das Prostatakarzinom etwa entsteht über Jahrzehnte und wird mehrheitlich erst im sehr hohen Lebensalter klinisch manifest. Das durchschnittliche Alter der Patienten ist um die 77 Lebensjahre (bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung deutscher Männer von 77 Jahren!) [3]. Eine sehr sensible Methode, die des PSA-Screenings, lässt viele Patienten erkennen, die erdrückend mehrheitlich entweder ihr Karzinom weiterhin mittels eigener „Abwehr” „in Schach gehalten hätten” oder die aufgrund ihres hohen Lebensalters vor Erreichen einer klinischen Manifestation des Karzinoms an anderen Krankheiten versterben.

Man sollte also die Naturgeschichte eines Karzinoms sowie die biologischen Bedingungen von Menschen kennen, die mittels Früherkennung untersucht werden sollen, bevor man ein Programm installiert. Denn es gibt auch Probleme damit, dass man „zu früh” mit der geplanten Früherkennung tätig wird. Umgekehrt aber ist es auch so, dass man mit Früherkennung „zu spät” kommen und damit ebenfalls menschliches Leid auslösen kann.

Früherkennung lässt auch „zu spät” entdecken

Eine „Nebenwirkung” der Früherkennung sind früher gestellte Diagnosen ohne größere Therapiechance für die Patienten.

Früherkennung entdeckt alle Stadien der Tumorentwicklung, die entweder asymptomatisch sind oder bei denen der Untersuchte bewusst oder unbewusst Symptome nicht bemerkt hat bzw. nicht bemerken wollte. Im letzten Fall ist die Früherkennung häufig zu spät für eine optimale Therapie - also dem Ziel von Früherkennung. Aber auch unter den noch asymptomatischen Formen gibt es selbstverständlich solche, die schon „zu spät” oder zumindest häufig zu spät für eine bessere Therapierbarkeit sind. Man entdeckt also neben den Tumorstadien, die mit besserer Therapierbarkeit assoziiert sind, auch solche, die es nicht sind. Hier bedeutet Früherkennung faktisch dann, dass der Patient früher von seinem Leide erfährt, was mehrheitlich objektiv nicht besser als zu noch späterem Zeitpunkt behandelbar ist. Früherkennung hat also die „Nebenwirkung” von früher gestellten Diagnosen ohne größere Therapiechance.

Früherkennungsintervalle

Aus dieser Überlegung heraus sollten die Intervalle der einzelnen Früherkennungsuntersuchungen optimal gewählt sein. Sie sollten eng genug sein, um nicht zu viele Tumoren in zu später Phase zu entdecken. Intervalle können umgekehrt aber auch zu eng sein, nämlich dann, wenn darüber zu frühe Formen mit hoher Chance der „körpereigenen Abwehr” übermäßig häufig erfasst werden.

Je nach Naturgeschichte des jeweiligen Tumors sind unterschiedliche Früherkennungsintervalle sinnvoll.

Da Karzinome eine unterschiedlich schnelle Naturgeschichte von wenigen Monaten bis Jahrzehnten (Kolonkarzinom und Zervixkarzinom in der Regel über Jahrzehnte) haben, muss auch jede Früherkennung unterschiedliche Intervalle beinhalten. Um diese festlegen zu können, muss man die Naturgeschichte des jeweiligen Tumors einigermaßen kennen. Die Früherkennung auf ein Bronchialkarzinom z. B. müsste man nach Studienlage eher alle 4 als alle 6 Monate durchführen, wohingegen die Früherkennung auf ein Dickdarmkarzinom alle 10 Jahre erfolgen kann. Bei einem Zervixkarzinom kann man - unter der Voraussetzung von bisher unauffälligen Früherkennungsbefunden - auch auf ein 3-jähriges Intervall von Früherkennung übergehen [8].

Die Sicherheit von Früherkennungstests

Screeningtests sind oft relativ sensitiv, erfassen also einen hohen Prozentsatz der Kranken. Häufig sind sie aber weniger gut in ihrer Spezifität, d. h. es werden auch relativ viel Gesunde fälschlich als krank identifiziert.

Unter „Test” wird hier jede Früherkennungsuntersuchung verstanden - vom Labortest bis zum bildgebenden Verfahren oder auch zur körperlichen Untersuchung. Ein Test gilt als „sicher”, wenn er möglichst viele der Kranken als krank und möglichst viele der Gesunden als gesund zu identifizieren hilft. Dies ist in der Sensitivität (Prozentsatz der Kranken, die als krank erkannt werden) und der Spezifität (Prozentsatz der Gesunden, die auch als gesund erkannt werden) festgehalten. Screeningtests sind häufig relativ sensitiv, erfassen also einen hohen Prozentsatz der Kranken, sie sind aber eher weniger gut in ihrer Spezifität, d. h. es werden auch relativ viel Gesunde fälschlich als krank dargestellt. Eine weitergehende Abklärungsdiagnostik muss dann helfen, diese von den wirklich Kranken zu trennen.

Sicherheit der Vorhersage bei krankhaftem Befund

Ob ein positives Ergebnis wahrscheinlich richtig- oder wahrscheinlich falsch-positiv ist hängt davon ab, wie häufig die Erkrankung auftritt, auf die untersucht wurde.

Nun gibt es jedoch auch eine andere, im Alltag weitaus bedeutendere Form der Betrachtung: Hat man ein positives, also auf Krankheit hinweisendes Ergebnis in einem Screeningtest, so stellt sich die Frage an, ob hier ein falsch- oder ein richtig-positives Ergebnis vorliegt. Eine Antwort kann nur eine Antwort in Wahrscheinlichkeiten sein: Ist die gesuchte Erkrankung - wie beim Screening üblich - relativ selten (in Bezug auf die Zahl der Untersuchten), dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Befund falsch-positiv ist, recht hoch. Ist hingegen das Vorliegen der Erkrankung - wie bei Diagnostik bei Krankheitsverdacht - eher wahrscheinlich, so ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass ein krankhafter Befund in einem diagnostischen Test auch richtig-positiv ist, ziemlich hoch. Dies ist in Tab. [1] gezeigt.

Tab. 1 Präventive Wertigkeit von Untersuchungen - Unterschiede im FrüherkennungseinsatzDas gesuchte Krankheitsbild ist selten in der untersuchten Population (A) - anders als bei der Verdachtsdiagnostik (B). Dies führt bei identischer Test-Sensitivität und Spezifität zu unterschiedlichen Ergebnissen. In folgenden Beispielen: Sensitivität 90 %, Spezifität 90 % Beispiel A: 300 von 1 000 sind krank (Prävalenz: 30/100) Test positiv Test negativ krank 300 270 30 gesund 700 70 630 alle Positiven 340 270 von 340 positiven Befunden sind richtig positiv. Positive prädikative Wertigkeit (ppV) rund 80 %. Beispiel B: 3 von 1 000 sind krank (Prävalenz: 3/1 000) Test positiv Test negativ krank 3 3 0 gesund 997 100 (genau 99,7) 897 alle Positiven 103 Somit sind von 103 positiven Befunden 3 richtig positiv. ppV liegt bei 3 %.

Selbst Tests, die eine hohe Spezifität und Sensitivität haben sind meist mehrheitlich falsch-positiv, da im Screening häufig nach seltenen Erkrankungen gesucht wird. Die positive prädiktive Wertigkeit ist also gering.

Es wird damit deutlich, dass nicht allein die Testsicherheit, ausgedrückt in Sensitivität und Spezifität, sondern auch die Wahrscheinlichkeit des Vorliegens einer gesuchten Erkrankung, also der Prävalenz, entscheidend für die Relation von richtig- zu falsch-positiven Befunden ist. Da im Screening seltene und sehr seltene Erkrankungen - immer bezogen auf die Teilnehmer - gesucht werden, ist in der Regel davon auszugehen, dass die überwiegende Zahl positiver Befunde falsch-positiv ist, also weitergehender Abklärungsdiagnostik bedürfen.

Screeningbefunde haben also - wie man es nennt - eine geringe positive prädiktive Wertigkeit in Bezug auf das wirkliche Vorliegen einer gesuchten Erkrankung. Z. B. ist bei der Screening-Mammographie von 10 pathologischen Befunden nur einer - dann geklärt über Abklärungsdiagnostik - wirklich Hinweis auf ein Karzinom. Die zu erwartende Häufigkeit eines Befundes (Prävalenz) stellt bei der Diagnostik im Rahmen von Früherkennung das größte Problem dar. Selbst Untersuchungen (Tests), die eine hohe Spezifität und Sensitivität haben - letzteres ist hierfür weniger wichtig - sind meist mehrheitlich falsch-positiv [1].

Notwendigkeit besonderer Diagnostikfähigkeiten bei der Früherkennung

Diagnostische Tests sind besonders sicher, wenn es um die Unterscheidung zwischen eindeutig krank und eindeutig gesund geht. Bei sehr frühen Stadien ist die Grenze dazwischen jedoch fließend.

Über die geschilderte Problematik hinausgehend, aber teilweise sich mit ihr auch überlappend, besteht ein weiteres Problem von Diagnostik im Rahmen einer Früherkennung: Diagnostische Tests sind immer dann besonders sicher, d. h. in Sensitivität und Spezifität hoch, wenn es um die Unterscheidung zwischen eindeutig Kranken und eindeutig Gesunden geht. „Schwarz” und „weiß” lassen sich treffsicher unterscheiden, „weiß” und einige „weißlich-graue” Töne hingegen schon weniger gut - so könnte man vergleichend sagen. Um einen großen Tumor in einem Röntgenbild zu erkennen, bedarf es keiner großen Leistung des beurteilenden Radiologen. Geht es aber um die Beurteilung von sehr frühen Formen, gar Vorformen eines Tumors, dann ist die Grenze zwischen krank und gesund fließend. Entsprechend schwieriger wird die Sicherheit der Einordnung und damit nehmen die Sensitivität und Spezifität der Untersuchung ab. Aber gerade diese „Übergänge” sollen im Zentrum von Früherkennung stehen. Diagnostik im Rahmen von Früherkennung ist also etwas anderes als im Rahmen von Abklärung bei einer symptomatischen Erkrankung.

Nutzen von Krebsfrühererkennung

Für nur sehr wenige Früherkennungen ist ihr Nutzen durch ausreichende, methodisch gute Studien belegt, etwa das Mammographie-Screening oder den Hämocculttest.

Für nur sehr wenige Früherkennungen gibt es ausreichende, methodisch gute Studien, also randomisierte Vergleichsstudien, die ihren Nutzen belegen. Einen Nutzenbeleg gibt es für die Mammographie-Früherkennung bei 50-Jährigen und Älteren mit 2-jährlichen Screeningintervallen, für den Hämocculttest bei der Früherkennung auf Kolonkarzinom oder seiner Vorstufen in Form großer Polypen. Ein Nutzen ist sehr wahrscheinlich, wenn auch nicht mit randomisierten Vergleichsstudien belegt, bei der Früherkennung auf Zervixkarzinom und bei der Koloskopie-Früherkennung auf Dickdarmkarzinom. Bisher unklar ist der Nutzen einer Früherkennung mittels PSA-Test auf Prostatakarzinom. Er ist - wenn überhaupt - allerdings für jüngere Altergruppen (50-65) aufgrund derer noch bevorstehenden langen Lebenserwartung eher wahrscheinlich.

Für die meisten Früherkennungen auf Karzinome gibt es keinen Nutzennachweis.

Keinen Nutzennachweis gibt es für die folgenden möglichen Krebs-Früherkennungen: Melanom, Ovarialkarzinom, Magenkarzinom, Rachen-Mundboden-Karzinom, Nierenkarzinom.

Keinen Nutzen hat bei Vorliegen guter methodischer Studien die Früherkennung auf Bronchialkarzinom mittels Röntgenuntersuchung. Nur bei 4-monatigem Röntgen in Hochrisikogruppen von Rauchern über dem 45. Lebensjahr scheint ein Nutzen vorzuliegen. Allerdings ist diese Häufigkeit der Untersuchungen auch zugleich Limitierung für deren Anwendung im Rahmen von Screening. Die Früherkennung mittels Spiral-Computertomographie auf Bronchialkarzinom erscheint vielversprechend, jedoch ist sie als Früherkennungsprogramm sehr aufwändig und teuer. Auch hier liegen keine Nutzenstudien in Bezug auf eine Verbesserung in der Mortalität am Bronchialkarzinom vor.

Größenordnung des Nutzen

Der relative Nutzen liegt bei allen den meisten Früherkennungsmaßnahmen zwischen 20 und 30 %, der absolute Nutzen ist dagegen gering.

In Tab. [2] sind Nutzenangaben aus den großen randomisierten Studien sowie einmal angenommene Nutzeneinschätzungen - wenn keine Studien vorliegen - dargestellt. Man sieht, dass der relative Nutzen bei allen hier aufgeführten Früherkennungsmaßnahmen zwischen 20 und 30 % liegt. Da aber die Auftretenswahrscheinlichkeit des Todes aufgrund dieser Karzinome selbst in den für Früherkennungsprogramme definierten Risikogruppen (nach Alter) eher gering ist, ist jedoch der absolute Nutzen (letzte Spalte) auffällig gering. Die absolute Reduktion entspricht der Differenz zwischen Todesrate mit und ohne Screening.

Tab. 2 Reduktion des Risikos von Krebssterblichkeit durch Screening Krebsart Todesrate pro 1 000 Personenjahre* Risikoreduktion in Screening kein Screening % Raten Mamma 0,16 0,23 31 0,07 Kolon/FOBT 0,45 0,68 34 0,23 Zervix, kalkuliert für „vor” und „nach” dem Screening 0,04 0,08 50 0,04 Melanome, postulierte Reduktion von 50 % 0,01 0,02 50 0,01 * Personenjahre = Personen × Jahre; z. B. 100 Personen × 10 Jahre = 1 000 Personenjahre.

Vor Durchführung einer Früherkennung sollten die Patienten über den absoluten Nutzen und mögliche Nebenwirkungen derselben aufgeklärt werden und ausreichend Zeit bekommen, sich die Teilnahme zu überlegen.

Der oder die Patientin, die den Arzt fragt, ob sie etwas davon habe, wenn sie regelmäßig zur Früherkennung gehe, fragt aber nach ihrem absoluten, nicht nach ihrem relativen Nutzen! Für eine ausreichende Aufklärung wird daher verlangt, dass Teilnehmer an der Früherkennung vor Durchführung derselben über den absoluten Nutzen, den sie von dieser Maßnahme zu erwarten haben aufgeklärt werden müssen, ebenso wie zu den möglichen Nebenwirkungen der Früherkennung. Dann erst - idealerweise nach einigen Tagen des Überlegens - sollten sie entscheiden, ob sie teilnehmen wollen oder nicht. Diese Prozedur, die eher umständlich erscheint, ist aus dreierlei Gründen aber sehr berechtigt:

  • Der Nutzen - der absolute Nutzen für den einzelnen Teilnehmer - ist eher gering.

  • Der Schaden von Früherkennung ist aber - als absoluter Schaden - zahlenmäßig deutlich größer. Allerdings steht hier nicht lebensbedrohlicher Schaden gegen lebenserhaltenden Nutzen (s. folgender Absatz).

  • Wir haben es bei Früherkennung mit Gesunden zu tun - zumindest in Bezug auf die in der Früherkennung gesuchte Erkrankung. Hier sind immer, ähnlich wie bei Impfungen, sehr strenge Maßstäbe zu Nutzen/Schadens-Relation und Aufklärung darüber gefordert.

Schaden von Früherkennung

In Tab. [3] ist am Beispiel des Mammographie-Screenings und der größten hierzu vorliegenden randomisierten Studie, einer aus Schweden, der Nutzen dem Schaden gegenüber gestellt. In Abb. [2] ist zudem ein Überblick über die erklärenden Momente für den Schaden und den Nutzen gegeben.

Tab. 3 Mammographie-Screenings: Nutzen und Schaden (schwedische Studie) Art des Nutzens oder Aufwandes Auswirkungen pro 100 000 Frauenjahre pro verhütetem Krebstodesfall verhütete Brustkrebstodesfälle 6,2 - Verminderung von fortgeschrittenen Stadien (Stadium II-IV) 29 - Todesfälle an allen Ursachen 7 - Krebsfallzunahme durch Überdiagnose 52 8,4 Screening-Mammographien ca. 39 000 6 300 Krebsverdacht nach Screening-Mammographie ca. 1 500 250 Krebsverdacht nach Zusatzmammographie, Zytologie, Biopsie ca. 600 100 Frühentdeckung mit Verlängerung der Krankheitsphase ca. 180 30 Abb. 2 Mögliche Ergebnisse von Früherkennung.

Schaden durch Früherkennung entsteht durch Erkennung von Tumoren, die trotz früher Erkennung nicht besser therapierbar sind, von Präkanzerosen, die sich von selbst zurückgebildet hätten oder Karzinomen, die insofern irrelevant sind, als andere Ursachen zum Tod führen, bevor der Tumor zum Tragen kommt.

Der zahlenmäßig größte Schaden von Früherkennung entsteht dadurch, dass im Rahmen von Früherkennung zahlreiche Tumore entdeckt werden, die objektiv gesehen nicht oder irrelevant wenig besser aufgrund der früheren Erkennung zu therapieren sind. Hinzu kommen die Fälle von Vorstufen von Karzinomen - große Polypen, zelluläre Entartungen bei Abstrichen etc. oder Carcinoma-in-situ, die sich mehrheitlich wieder aus einer „Präkanzerose” zurückgebildet hätten. Dies aber ist für den einzelnen Patienten nicht vorher zu entscheiden. Also führt es dazu, dass alle Patienten mit diesem Befund operiert bzw. gegebenenfalls chemotherapiert werden - obwohl man weiß, dass nur ein kleinerer Teil davon Nutzen hat. Schließlich ist auch Schaden dadurch gegeben, dass Patienten über ein Karzinom informiert werden, das - selbst wenn es besser therapierbar durch die Früherkennung ist - nicht zu relevanter Krankheit oder gar Tod geführt hätte, weil eine andere Todesursache - im Alter meist kardiovaskulär - vorher zu Tode führt.

Ärzte erleben mehr Nutzen, als aus Studiendaten zu erwarten ist

Jeder Arzt hat das Erlebnis, dass Patienten, bei denen Tumoren früh erkannt wurden, in der Tat eher geheilt erscheinen, d. h. länger leben, weniger von ausgeprägten Tumoren in der Folgezeit betroffen sind etc. Betrachtet man jedoch den in Studien nachweisbaren Nutzen von Früherkennung, so sind dies so seltene Ereignisse, dass man - insbesondere bezogen auf eine einzelne Praxis - diesen Nutzen kaum als erlebbar ansehen kann. Was erklärt diese Diskrepanz im Erleben? [1] [15] [16].

Vorverlegung der Diagnose (lead time bias) Wird ein Karzinom früher entdeckt, so erscheint die Überlebenszeit länger, auch wenn sich der Zeitpunkt des Versterbens des Patienten tatsächlich nicht verschiebt. In Abb. 3 ist schematisch dargestellt, wie sich ein Karzinom von Beginn (A) bis zu Beginn einer Symptomatik/eines Befundes (B) entwickelt. Bei C ist angegeben, ab wann es mit Mitteln der Früherkennung erkennbar wäre. Bei D dann führt es zum Tode. Nehmen wir an, ein Früherkennungsprogramm hat gar keinen Nutzen oder nehmen wir an, eine Früherkennung hat für einen bestimmten Patienten keinen Nutzen, dann gilt der 2. Teil der Abbildung: Es findet die Früherkennung (S) in der Phase zwischen B, der Erfassbarkeit mittels des Früherkennungsinstrumentes, und den ersten Symptome (C) statt, im Mittel wird es in der Mitte zwischen B und C sein. Aufgrund unserer Annahme fehlenden Nutzens als Programm oder für den einzelnen Patienten stirbt der Patient im 1. und 2. Teil der Abbildung zum gleichen Zeitpunkt (D). Vom Zeitpunkt seiner Früherkennungsdiagnose - also von S bis zu D - ist jedoch ein längerer Abschnitt als im ersten Teil der Abbildung: Hier lebt er mit der Diagnose nur für den Zeitraum C zu D, also kürzer. Dies entspricht unserem Eindruck als Arzt. Realiter aber lebt er - zumindest im Beispiel - genauso lange - nur können wir dies nicht „erleben”. Abb. 3 Vorverlegung der Diagnosestellung. Selektion der günstigen Verläufe (length time bias) Langsam wachsende Tumoren werden in der Früherkennung häufig bereits in präklinischen Stadien erfasst. Von Hause aus günstig verlaufende Tumoren werden so selektiert, und es entsteht der Eindruck, dass die Früherkennung die Lebenserwartung verlängert. Wir wissen, dass es zu jeder Krebslokalisation unterschiedlich schnell (aggressiv) wachsende Karzinome gibt. Dies ist vom Zelltyp, weiteren Tumoreigenschaften und den Abwehreigenschaften des jeweiligen Patienten abhängig. Langsam wachsende Tumore lassen den Menschen länger leben und weisen meist auch später Metastasierungen und andere Komplikationen auf. In der Abb. 4 ist ein langsam und ein schnell wachsendes Karzinom (langer und kurzer Strich = von Beginn des Entstehens bis zur Symptomatik Ende des Striches) dargestellt. Im dargestellten Modell sind dies im Zahlenverhältnis von 1 : 1 zueinander. Macht man nun zu bestimmten Zeitpunkten - häufig ja in 1- oder 2-jährigen Abständen - eine Früherkennungsuntersuchung, dann ist es logisch, dass man übermäßig viele langsam wachsende Tumore (lange Striche) noch in ihrer präklinischen Phase (also vor Symptomatik) erfasst. Man hat also bei jedem Screening von einer Selektion der eher günstig verlaufenden Tumoren auszugehen. Dies wiederum schlägt sich in der von uns erlebten längeren Lebenserwartung bei in Früherkennung erkannten Patienten nieder - selbst wenn die Früherkennung keinen Nutzen für den Patienten hätte. Abb. 4 Selektion der „gutartigen” Formen im Screening. Weitere Erklärungsansätze Früh entdeckte Fälle von Präkanzerosen, die sich von selbst zurückgebildet hätten, werden als Langzeitüberlebende nach Früherkennung wahrgenommen. Oben wurde dargestellt, dass bei jeder Krebsfrüherkennung auch Vorformen von Krebsen - große Polypen, Carcinoma-in-situ etc. - entdeckt werden, die sich nur zu einem Teil, meist zum geringsten Teil, zu einem Karzinom weiter entwickeln würden. Die Patienten mit diesen Vorformen wären dann meistens auch gar nicht am Krebs erkrankt und verstorben. Er wirkt aber auf den Betrachter als Langzeitüberlebender bei gestellter Krebsdiagnose.

Systematische Früherkennungsprogramme

Unter systematischer Früherkennung versteht man eine Früherkennung, die in Bezug auf mehrere Faktoren nach bestimmten, vorher festgelegten, meist nach Sinn und Nutzen untersuchten Regeln erfolgt. Dies sind insbesondere:

  • Intervalle der Untersuchung

  • Definition der zu untersuchenden Bevölkerung (Anspruchsberechtigte)

  • Methode und Art der Untersuchung und Befundung; Qualitätssicherung hierzu

  • Festlegung, ob Doppelbefundung

  • Qualitätssicherung

  • Definition der Maßnahmen zur Abklärung von Verdachtsbefunden (Assessment).

Anders als in der kurativen Medizin ist für den einzelnen Arzt bei der Früherkennung keine „Rückkoppelung” bezüglich Nutzen oder Schaden über Erfahrungen zu erreichen. Um den Nutzen zu sichern, wird der optimale Ablauf daher auf Basis großer Studien in Form eines Programms genau festgelegt.

Systematische Früherkennung macht zu all diesen Dingen Vorgaben, weil bei Früherkennung für denjenigen, der sie durchführt, der Nutzen und auch der Schaden, den er damit erreicht, nicht mehr erlebbar ist. Anders als in vielen Bereichen kurativer Medizin ist damit nicht mehr eine „Rückkoppelung” über Erfahrungen zu erreichen. Grundsätzlich liegt der Unterschied darin begründet, dass ja nur verschwindend wenige Personen von sehr vielen, die untersucht werden müssen, einen Nutzen oder auch einen Schaden erleiden. Macht man im Ablauf, der Abklärung von Befunden etc. anders als im „Programm” vorgesehen, dann weiß man nicht, was man erreicht: Mehr Nutzen, mehr Schaden oder eine ungünstigere Relation der beiden zueinander? Früherkennungsprogramme im Rahmen systematischer Früherkennung sind so konzipiert, dass aus den Befunden großer Studien ein Optimum im Ablauf abgeleitet wurde. Jeder, der an systematischer Früherkennung teilnimmt - also der Untersuchte, aber auch der Untersucher - sollten wissen, dass sie sich einem solchen Programm unterziehen, dessen Nutzen nur bei Einhaltung des Programms gesichert ist [9].

Bei Abweichungen von den festgelegten Abläufen des systematischen Screenings ist der Nutzen desselben infrage gestellt.

Entsprechend gilt auch: Macht jemand ein „unsystematisches Screening” darüber, dass er sich - gegründet auf Plausibilitäten - ein Untersuchungsgang ausdenkt oder bei einem vorgegebenen mit Varianten arbeitet, dann muss er sich im Klaren sein, dass er damit überhaupt nicht sagen kann, ob er mit Nutzen für den Versorgten arbeitet oder Schaden anrichtet. Dies hat an sich dramatische Konsequenzen: Wenn wir als Ärzte bei bestimmten Symptomen bestimmte Diagnosewege aufgrund unserer Erfahrung gehen, wenn wir - ebenfalls aufgrund von Erfahrung - es im einen Fall anders als im anderen machen, dann lässt sich dies häufig auch juristisch rechtfertigen: Die Feinstruktur des Handelns wird in diesen Bereichen nicht durch Leitlinien diktiert, sondern es wird lediglich ein Handlungskorridor benannt. Anders bei Screenings, bei denen aufgrund des oben skizzierten Hintergrunds Abweichungen eigentlich schon Kunstfehler sind! (Wohlgemerkt wird hier nicht von Abklärungsdiagnostik bei Beschwerden gesprochen).

Systematische Früherkennung existiert in Deutschland bisher nur in Ansätzen.

Die Mehrzahl der Länder, die Früherkennungen durchführen, führen aus den genannten Gründen systematische Früherkennung durch. In Deutschland gibt es Früherkennungsprogramme, die von der gesetzlichen Krankenkasse übernommen werden. Formal handelt es sich hier um Früherkennung, bei der ebenfalls einiges zur Durchführung vorgegeben ist. Aber für diese Früherkennung ist administrativ nur das Berechtigungsalter vorgegeben. Die real eingehaltene Frequenz der Untersuchung, ein Teil der Durchführung der Untersuchung und die entsprechende Abklärungsdiagnostik im Falle eines positiven Befundes sind nicht ausreichend vorgegeben bzw. werden variiert. Damit gibt es in Deutschland selbst im GKV-Programm keine systematische Früherkennung. Im Rahmen der Mammographie und beim Kolonkarzinom wird jedoch in Richtung eines systematischen Screenings gegangen.

Früherkennungsmaßnahmen, die von der GKV aufgrund fehlenden Nutzennachweises abgelehnt wurden, können auch vom einzelnen Arzt nicht plausibel begründet werden.

Zudem findet neben einer Früherkennung im Rahmen des GKV-Früherkennungsprogramms noch zusätzliche Früherkennung nach Gutdünken der durchführenden Ärzte und der Wünsche der Patienten statt. Dies ist deswegen so problematisch, weil keiner der Durchführenden weiß, ob bei der so durchgeführten Früherkennung mehr Nutzen als Schaden resultiert. Wird dann sogar bewusst etwas an Früherkennung gemacht (z. B. im Rahmen von IGEL), was nach einem Entscheidungsgang im Rahmen der GKV für die Versorgung abgelehnt wurde, weil kein Nutzennachweis vorgelegt werden konnte, dann bewegt man sich auf höchst problematischem Boden. Man könnte es nur rechtfertigen, wenn man jemanden davon überzeugen könnte, dass man es als durchführender Arzt besser weiß, als mittels Studien. Das Problem ist zudem, dass man dann einem Patienten nicht mit Aufrichtigkeit sagen kann, dass das, was man durchzuführen vorschlägt, wirklich einen Nutzen hat. Entsprechend könnte bei Auftreten von Schaden es auch einmal dazu kommen, dass Patienten den Arzt verklagen, sei ihnen doch nicht die Wahrheit gesagt worden und sie hätten nur aufgrund falscher Informationen eingewilligt.

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Prof. Dr. med. H.-H. Abholz

Abteilung für Allgemeinmedizin · Universitätsklinikum Düsseldorf

Moorenstraße 5

40225 Düsseldorf

Email: abholz@med.uni-duesseldorf.de

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