PPH 2005; 11(3): 121
DOI: 10.1055/s-2005-858346
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Editorial

U. Villinger
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Publication Date:
02 June 2005 (online)

Vor knapp drei Monaten ist Terry Schiavo in einem Hospiz in Florida/USA gestorben, nachdem in langem vor Gerichten ausgetragenen und von den Medien dargestellten Streit zwischen Eltern und Ehemann der Patientin die Entscheidung zuungunsten des Lebens gefallen war. Sie selbst konnte nicht nach ihrer Meinung gefragt werden, weil sie sich seit mehr als einem Jahrzehnt im Wachkoma befand, einem Bewusstseinszustand, von dem keiner von uns genau weiß, was der Patient fühlt und wahrnimmt, ob er etwas wollen kann oder nicht.

In der Berichterstattung kamen die Mitarbeiter des Heims, in dem Terry Schiavo gestorben ist, nicht zu Wort; was hatten die Menschen, die Frau Schiavo jahrelang betreut und gepflegt haben, dazu zu sagen? Sind sie zu ihrer Haltung befragt worden? Betrachten sie das Entfernen einer PEG-Sonde als aktive oder passive Sterbehilfe? Diese Fragen beschäftigen mich seither: Kann ich als Leiterin eines Wohn- und Pflegeheims für seelisch behinderte Menschen zusammen mit den Mitarbeitern irgendwann von einem Gericht dazu gezwungen werden, aufgrund einer alten Patientenverfügung oder der von Angehörigen als Wunsch des Klienten vertretenen Auffassung zu Leben und Sterben einen Bewohner nicht mehr zu ernähren, auch wenn dies meinem Gewissen widerspricht? Werden wir Pflegekräfte möglicherweise zu Erfüllungsgehilfen anderer Interessen ohne eigene Haltung degradiert?

In einem Nebensatz einer ZEIT-Diskussion im April 2005 zwischen zwei Juristen zur Patientenverfügung stand zu lesen: Auf die Pflegekräfte, die den Tod nicht ertragen könnten, könne keine Rücksicht genommen werden; sie seien dazu verpflichtet, den Willen dessen auszuführen, der seine Verfügung schriftlich und rechtsgültig niedergelegt hat.

Bei der Novellierung des § 218 zum Schwangerschaftsabbruch Mitte der 1970er-Jahre hat der Gesetzgeber u. a. festgelegt, dass Einrichtungen des Gesundheitswesens selbst entscheiden können, ob sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen oder nicht. Damit sollte sichergestellt werden, dass kein Arzt und keine Krankenschwester dazu gezwungen werden kann, sich gegen das eigene Gewissen an der Tötung eines werdenden Kindes zu beteiligen, das nicht gefragt werden kann. Seinerzeit war ich von der Notwendigkeit einer solchen Aussage im Gesetz nicht überzeugt.

Inzwischen habe ich anhand der verschiedenen bekannt gewordenen Serienmorde durch Pflegekräfte z. B. in Wuppertal, Lainz oder Gütersloh gelernt, dass unsere Berufsgruppe gefährdet ist, unter bestimmten Bedingungen den Schutz des Lebens von Patienten als oberste Maxime des Handelns aufzugeben und „aus Mitleid” zu töten. Alle in der Literatur beschriebenen Täter haben nach dem ersten Mord immer schneller und häufiger getötet. Das heißt, wenn der Widerstand gegen das Töten erst einmal gebrochen ist, gibt es kein Halten mehr. Dies bedeutet auch, dass die Barriere des sechsten Gebots „Du sollst nicht töten” einen starken Schutz für Patienten aufrichten muss vor dem „tödlichen Mitleid” von sie pflegenden und betreuenden Menschen. Alle nationalen und internationalen Kodizes der Pflege betonen den Lebensschutz, und dies aus gutem Grund.

Zurück zu den Ausgangspunkten Terry Schiavo, Patientenverfügung und Berufspflichten der Pflege. Solange ein Patient nach seinem Willen gefragt werden, solange also ein Gespräch zwischen Patient, Angehörigen und beruflichen Helfern stattfinden kann, können die unterschiedlichen und sich häufig widersprechenden Güter der Wünsche des Patienten und der Angehörigen und der Möglichkeiten und Grenzen der Helfer zu einem für beide Seiten tragbaren Ergebnis führen. Wenn aber ein Gespräch nicht mehr möglich ist? Kann der Wunsch eines Klienten in seiner Patientenverfügung nach Nichtanwendung lebensverlängernder Maßnahmen oder nach Einstellung der Ernährung wirklich für mich verbindlich sein, wenn er bewusstlos und hilfsbedürftig vor mir liegt? Ich meine nein. Auch eine Patientenverfügung kann mein Gewissen und die für mich geltenden berufsethischen Maßstäbe nicht außer Kraft setzen. Und ein Gericht darf es nach meinem Dafürhalten auch nicht.