PiD - Psychotherapie im Dialog 2004; 5(4): 319-320
DOI: 10.1055/s-2004-828534
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Therapeutische Beziehung

Wolfgang  Senf, Michael  Broda
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Publication Date:
07 December 2004 (online)

Was ist das überhaupt, was wir „therapeutische Beziehung” nennen, und warum sprechen wir diesem Element, das in jedem psychotherapeutischen Geschehen vorkommt, eine so zentrale Bedeutung zu? Was für eine Beziehung kann das sein, wenn der Patient beispielsweise auf der Couch liegt und der Therapeut dahinter sitzt? Wie entsteht „therapeutische Beziehung” und wie wird sie gehandhabt? Ist „Beziehung” überhaupt zu handhaben, oder ist davon auszugehen, dass sie schlicht da ist und sich der Handhabung entzieht?

Das Thema wirft viele Fragen auf, und deren Bearbeitung wäre geeignet, Hefte zu füllen. Mit diesem Heft wollen wir den Dialog darüber eröffnen, was Psychotherapeuten unterschiedlicher Orientierung darunter verstehen. Zur Einstimmung auf die Thematik dieses Heftes zitieren wir die folgende Beschreibung des berühmten Kollegen Sigmund Freud.

„Die Beziehung, die Freud zu seinen Patienten aufnahm, war immer von einem intensiven Interesse für den anderen gekennzeichnet. Freud ging ohne professionelle Zurückhaltung, professorale Distanz und ohne eigene Schutzbedürfnisse zu signalisieren, auf den anderen zu. Er holte seine Patienten im Wartezimmer ab, konnte dabei freundlich mit den Armen winken, er begrüßte den Kommenden, indem er ihm die Hände drückte, zog ihn dabei ein wenig an sich heran. Seine Haltung wird als freundlich, ja herzlich und zugleich distanziert beschrieben. Er vermittelte das Gefühl der Ruhe und Sicherheit. Die so Angesprochenen sind sich einig, dass Freud Autorität und Kraft ausstrahlte, unbeschränktes Vertrauen einflößte und dass er ihnen gegenüber selbstsicher, einfach, ungezwungen und natürlich auftrat.
Alle Analysanden betonten aber auch, dass er stets eine große Sachlichkeit vermittelte. Der Umgang war auf die gemeinsame Aufgabe des Erkenntnisprozesses ausgerichtet. Die Patienten berichteten übereinstimmend von einer wohltuenden Distanz, die ihnen selbst Freiheit ließ.
Es ist aber auch deutlich, dass Freud in vielen Einzelheiten weit über das hinausging, was Analytiker heute mit ihren Patienten tun oder zumindest darüber berichten. Freud war großzügig mit Lob und Anerkennung, schrieb manchem Analysanden vor Beginn der Analyse, er glaube, es würde interessant sein, mit ihm zu arbeiten. Während der Analyse teilte er in vielfältiger Form seine persönliche Hochschätzung mit, sagte dem Wolfsmann, er sei ein Denker ersten Ranges, zu Kardiner, dass er viel Kampfgeist in sich habe und einmal beruflich und auch finanziell erfolgreich sein werde.
Auch während der psychoanalytischen Sitzungen sparte Freud nicht mit Ermutigungen. Wenn eine Stunde nicht viel gebracht hatte, verwies er tröstend auf die nächste. Freud verbarg aber auch seine Kritik nicht, vertrug es offenbar nicht, wenn der Patient unpünktlich war. Er war bereit, Ehepartner seiner Analysanden zu sprechen, bestätigte dem Wolfsmann dann, dass er eine gute Wahl getroffen habe, sagte Kardiner bei der Verabschiedung, er hoffe jetzt nur noch, dass er eine gute Frau finden werde. Freud empfing nicht nur Geschenke von seinen Patienten, er gab auch selbst großzügig Geschenke und Geld an diese, behandelte manche Patienten und Lehranalysanden unentgeltlich. Dem Rattenmann servierte er 1907, nach drei Monaten Analyse, als dieser hungrig in die Stunde kam, eine Mittagsmahlzeit - was dieser ihm später als Verlust an Analysezeit vorhielt. Nicht nur mit Lehranalysanden, auch mit Patienten pflegte er einen freien Austausch über den Stand der psychoanalytischen Erkenntnisse und Theorien. Er machte sie mit Begriffen wie Verdrängung, Übertragung, Unbewusstes etc. vertraut. Die Patienten rational zu überzeugen und sie bei der gemeinsamen Aufgabe zu Mitarbeitern zu machen, war offenbar sein Ziel. In den Protokollen zum Rattenmann notierte er, der Patient erhalte ,theoretische Belehrung‘, und es taucht dort wiederholt auf, dass der Patient endlich ,einsieht, zugibt, gesteht‘. Er gibt ihm einmal Zolas ,Joi de vivre‘ zum Lesen mit, ist auch sehr freigiebig mit seinen Werken.
Freud hat auch manches aus seinem gegenwärtigen Leben in der Analyse erzählt, vor allem von seinen Kindern scheint er gerne gesprochen zu haben. Andererseits hat Freud seine Patienten und Lehranalysanden nie mit seinen persönlichen Verlusten und Leiden belastet. Die Analysanden der Tage des Jahres 1919, in denen die geliebte Tochter Sophie starb, erfuhren von ihm kein Wort darüber. Er sprach auch nie über seine Krebserkrankung, die dauernden Beschwerden und Operationen, selbst wenn sie zur Unterbrechung der Behandlung zwangen” (Bräutigam 1983).

Konnte Sigmund Freud sich diesen freien Umgang mit seinen Patienten und Analysanden deshalb erlauben, weil er ganz den therapeutisch wirksamen Mechanismen der psychoanalytischen Therapie, der Übertragung und deren Aufdeckung, vertraute, deren Handhabung meisterlich beherrschte? Er hat immer betont, dass die „therapeutische Beziehung” - und damit meinte er eben die Übertragung - als völlig unabhängiger und autonomer Vorgang aufgefasst werden müsse, unbeeinflusst vom Analytiker. Daneben sei aber „nicht jede gute Beziehung zwischen Analytiker und Analysiertem, während und nach der Analyse, als Übertragung einzuschätzen. Es gebe auch freundschaftliche Beziehungen, die real begründet sind und sich als lebensfähig erweisen” (Freud 1937, S. 65).

War Freud nicht nur Meister in der Handhabung der Übertragung, sondern ebenso meisterlich in der Handhabung dessen, was wir heute sehr viel weiter unter den Begriff „therapeutische Beziehung” fassen?

Sicher ist: Die therapeutische Beziehung ist das tragende Element jeder Psychotherapie. In einer ersten Annäherung lassen sich in der Beziehung zwischen Patient und Therapeut als Beziehungsebenen unterscheiden die „normale” zwischenmenschliche Beziehung, die Arbeitsbeziehung und die Konflikt- und Problemebene der Beziehung.

Die „normale” zwischenmenschliche Beziehung spielt unbestritten in jeder Psychotherapie eine Rolle. Sie fällt zu Beginn und dann wieder zum Ende der Behandlung besonders ins Gewicht, eine konfliktfreie Beziehung gilt als ein Zeichen einer geglückten Ablösung aus der Bindung an den Therapeuten. Für diese Beziehungsebene gilt es jedoch beständig zu reflektieren, dass es keine „rollenfreie” Beziehung in der Psychotherapie geben kann, alleine schon wegen der natürlich gegebenen Asymmetrie der Interaktion und der Machtverteilung. Andererseits reflektiert die Anerkennung dieser Beziehungsebene eine Grundhaltung, in der nicht jeder Gedanke, jedes Gefühl, jede zwischenmenschliche Regung von dem Therapeuten problematisiert und immer als Ausdruck z. B. von „Übertragung” verfolgt wird.

Die Arbeitsbeziehung ist durch den therapeutischen Vertrag geprägt, sie beinhaltet die rationalen Abmachungen, legt die Rollen fest, strukturiert die Rahmenbedingungen, innerhalb derer die Therapie stattfindet. Das Verhalten der Patienten ist durch die expliziten und impliziten Bedingungen des Vertrages bestimmt, das Verhalten der Therapeuten durch berufständische Normen und Regeln, aber auch durch „schulisch” geprägte Identifikationen und persönliche Normen und Werte.

Die Konflikt- und Problemebene der Beziehung ist bestimmt durch die Themen und Inhalte, die für den Patienten konfliktreich und problembeladen sind. Die Psychoanalyse hat diese Beziehungsebene konsequent mit dem Konzept der Übertragung und Gegenübertragung konzeptualisiert. Auf dieser Ebene reagiert der Therapeut auf die „Beziehungsangebote” des Patienten, die durch seine individuellen, biografisch vergangenen Beziehungserfahrungen geprägt sind, mit entsprechenden therapeutischen Interventionen. Auf dieser Beziehungsebene kann es zu vielfältigen unbewussten Verstrickungen kommen, was in der Psychoanalyse als Gegenübertragung konzeptualisiert ist.

Könnten wir uns alle auf ein solches Grundmuster einigen? Oder unterscheidet sich „therapeutische Beziehung” in der psychoanalytischen, verhaltenstherapeutischen, systemischen und humanistischen Psychotherapie doch essenziell? Und wie ist es dann bei der Körpertherapie oder bei der psychotherapeutischen Arbeit mit Migranten, wo sind Grenzen und Gefahren auszumachen? Mit diesem Heft, das der „Therapeutischen Beziehung” gewidmet ist, möchten wir den Dialog darüber zwischen den verschiedenen psychotherapeutischen Perspektiven eröffnen. Wir meinen, dass die unterschiedlichen Beziehungskompetenzen der verschiedenen psychotherapeutischen Perspektiven letztlich in einem produktiven Ergänzungsverhältnis gesehen werden können. Vielleicht hat Altmeister Freud uns auch hier schon viel vorausgehabt.

Wolfgang Senf
Michael Broda

Literatur

  • 1 Bräutigam W. Beziehung und Übertragung in Freuds Behandlungen und Schriften.  Psyche. 1983;  37 116-129
  • 2 Freud S. Die endliche und die unendlich Analyse. GW XVI 1937: 57-100