Klinische Neurophysiologie 2004; 35(4): 260-261
DOI: 10.1055/s-2004-828383
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Professor Dr. med. Kenneth Ricker (1935 - 2004)

Professor Dr. med. Kenneth Ricker (1935 - 2004)K.  Reiners
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06 December 2004 (online)

Professor Dr. med. Kenneth Ricker (1935 - 2004).

In der Ruhe seines Hauses und Gartens in der Nähe von Würzburg zu weilen, war der Wunsch von Professor Kenneth Wilhelm Ricker, als er, schon gezeichnet von der Schwere der Krebserkrankung seiner letzten Jahre, sein Vermächtnis für die Nachwelt ordnete. Am 7. Juli 2004 ist er dort im Alter von 69 Jahren verstorben. Von wenigen deutschen Neurologen kann man nach deren aktiver Zeit behaupten, dass ihr Wirken bleibende Spuren hinterlassen hat. Kenneth Ricker ist einer dieser Forscher und Ärzte, deren lebenslange Anstrengungen Zeichen setzten, die bei Patienten und Kollegen gleichermaßen haften bleiben.

Kenneth Ricker wurde am Neujahrstag 1935 in Harrisburg/USA geboren, ein Zeitpunkt, dem er zeitlebens wenig Vorteilhaftes abgewinnen konnte: „Kaum ist das neue Jahr da, bin ich auch schon wieder ein Jahr älter” war sein selbstironischer Kommentar dazu. Nach dem frühen Tod des Vaters siedelte er mit seiner deutschstämmigen Mutter nach Deutschland um und wuchs in Hamburg, Bremen und Fritzlar auf. Er studierte Medizin in Marburg und Hamburg, wo er auch seine spätere Frau Helly kennen lernte. Nach dem Examen 1962 drückte sich sein Bestreben, die wissenschaftlichen Grundlagen der Medizin bearbeiten zu wollen, schon in seiner Promotionsarbeit über „Untersuchungen zur Beendigung des hypoglykämischen Komas durch Glucagon” aus. Er wählte jedoch als Gebiet für die Weiterbildung die Neurologie und arbeitete in der Klinik von Professor H.-G. Mertens, der 1968 dem Ruf auf das Ordinariat nach Würzburg folgte. Kenneth Ricker zog mit an den unterfränkischen Main, wo er sich 1973 mit der Arbeit „Muskelkontraktion und Elektromyographie bei Myotonien” habilitierte. Im Jahr 1978 wurde er zunächst außerplanmäßiger, 1980 C3-Professor und leitender Oberarzt der Klinik. Neuromuskuläre Erkrankungen, speziell die mit besonderen EMG-Phänomenen einhergehenden Myotonien fesselten ihn weit über das Ende seiner aktiven Zeit an der Klinik (1991) hinaus.

Kenneth Rickers Arbeitsstil war gekennzeichnet durch eine minutiöse Beobachtung und Untersuchung der Patienten. Er stellte präzise Fragen und erwartete ebensolche Antworten, oft mit langem und wiederholtem Nachbohren. Dieselben Anforderungen stellte er an die Befunderhebung; es wurde so lange untersucht und nachgedacht, bis Klarheit bestand. Klinische und physiologische Phänomene an erregbaren biologischen Membranen waren sein Generalthema. Beschreibungen mit verschiedenen Koautoren über myotone Krankheitsbilder, spezielle Formen der Natrium-Kanal-Erkrankungen, seltene Muskelstörungen wie die Rippling-muscle-Erkrankung und Syndrome mit muskulärer und spinaler Übererregbarkeit gehören zu den Klassikern der myologischen und klinisch-physiologischen Weltliteratur.

Auf dem Hintergrund seiner detailgenauen Beobachtung und Beschreibung bemerkte er Unterschiede, die anderen verborgen blieben; so gelangte er zu der Erkenntnis, dass einige Patienten mit scheinbarer myotoner Dystrophie eine ungewöhnliche Konstellation der Symptome aufwiesen: Paresen waren eher proximal nachzuweisen, die klinische Myotonie eher schwach ausgeprägt, auch elektromyographisch waren repetitive Entladungen spärlicher und die Serien kürzer. Mentale Einschränkungen waren kaum festzustellen, aber die Patienten klagten über ganz ungewöhnliche regionale Schmerzen besonders in den Oberschenkeln, nicht einmal sicher auf die Muskulatur beschränkt und nahezu unbeeinflussbar durch Analgetika und Antirheumatika. Er fertigte handgeschriebene Listen und Tabellen von der Dimension einer Tapetenrolle. Am stärksten beeindruckt waren die meisten der zahlreichen in- und ausländischen Kooperationspartner von seiner Bereitschaft, den erblichen Erkrankungen dadurch gerecht zu werden, dass er ganze Familien in deren häuslicher Umgebung befragte und untersuchte. Darin folgte er der Forderung von Prof. Peter-Emil Becker, bei erblichen Erkrankungen immer die ganze Familie zu untersuchen. So konnte er einen unschätzbar wertvollen Einblick in die phänotypische Variabilität erblicher Muskelerkrankungen gewinnen, weil er auch Familienmitglieder zu Gesicht bekam, die sich selbst keineswegs für Erkrankte hielten oder aber so alt und krank waren, dass sie einer Aufforderung zur Untersuchung in der Klinik nie gefolgt wären. Foto- und Filmdokumentationen dieser Expeditionen in die deutsche Provinz mit dem EMG-Gerät im Auto gehören zu den Schätzen, die er gerne demonstrierte, um Partner für weitere Studien zu motivieren. Für die Familien wurde er ein verlässlicher Fürsprecher und Partner in der Bewältigung der Probleme, die durch die Muskelstörungen hervorgerufen waren.

Nach seiner Pensionierung widmete er sich mit noch größerer Inbrunst der Erforschung der Erkrankung, die er phänotypisch bescheiden „Proximale myotone Myopathie (PROMM)” nannte; dabei war die namentliche Kennzeichnung als „Rickers Erkrankung” mehr als gerechtfertigt. Mit großem Eifer rekrutierte er wissenschaftliche Partner, um seinem Ziel näher zu kommen, analog der Entdeckung der molekulargenetischen Grundlagen der myotonen Dystrophie auch die genetische Grundlage von PROMM zu erkunden. Nach der Erstbeschreibung der CCTG-4-Basen-Repeats auf dem Chromosom 3 bei Patienten mit myotoner Dystrophie Typ 2 (DM2) durch die mit ihm kooperierende Arbeitsgruppe aus Minnesota/USA konnte er mit den Mitarbeitern der Würzburger neurologischen und humangenetischen Arbeitsgruppe zeigen, dass fast alle Patienten in den mehr als 300 von ihm untersuchten PROMM-Familien in die einheitliche Krankheitskategorie PROMM/DM2 gehörten.

Kenneth Rickers Arbeiten wurden gewürdigt durch zahlreiche nationale und internationale Preise, Ehrenvorlesungen und Auszeichnungen, zu deren Entgegennahme er auch gerne verreiste, immer bereit, seine Erkenntnisse mitzuteilen, aber auch dort Patienten und Familien zu untersuchen und zu einer fundierten Diagnose zu verhelfen. Sein bescheidenes, zurückhaltendes, manchmal scheues Auftreten stand immer im Gegensatz zu dem überwältigenden Ausmaß an Kenntnissen, die er vermitteln konnte. Er genoss es, im wissenschaftlichen, klinischen und auch privaten Bereich seine Meinung provokativ vorzutragen und auch fest zu vertreten. Immer aber hatte er das notwendige Quantum selbstkritischer Einstellung, die einen respektablen Rückzug bis kurz vor die Verteidigungslinie erlaubte. Häufig kamen die Kontrahenten in den Genuss seiner leise-ironischen Fragen, mit denen er auch gestandene Referenten zu verunsichern wusste. Autoritäten waren ihm suspekt, und er suchte und fand deren Schwächen. Er forderte Einsatz und Leistung von jedem seiner Mitarbeiter ebenso wie von sich selbst. Junge Wissenschaftler zur Weiterführung seiner Arbeiten angeregt zu haben, erfüllte ihn am Ende seines Lebens mit Zufriedenheit und Ausgeglichenheit.

Er hinterlässt seine Frau Helly, die als Nervenärztin Anstrengungen und Erfolge mit ihm teilte und an vielen selbst beteiligt war. Seine beruflich und privat im Ausland engagierten Kinder gaben ihm Anlass zu weiten Reisen und lebhaften Gesprächen auch fernab des Fachlichen. Seine Enkelkinder erfüllten ihn mit Stolz und Freude.

Kenneth Ricker hat bei jedem seiner Mitarbeiter und Mitstreiter einen bleibenden Eindruck hinterlassen als ein allem Neuen gegenüber aufgeschlossener, innovativer, kritischer Wissenschaftler und akademischer Lehrer. Seinen Patienten war er ein zuhörender, respektvoller und fürsorglicher Arzt und Anwalt ihrer Interessen. Mit ihm verlieren wir einen der großen Entdecker der deutschen Neurologie, Neurophysiologie und Myologie. Seine Ziele weiter zu verfolgen, ist uns Ehre und Verpflichtung.

K. Reiners, Würzburg

Prof. Dr. med. Karlheinz Reiners

Neurologische Klinik und Poliklinik des Universitätsklinikums

Josef-Schneider-Straße 11

97080 Würzburg

Email: k.reiners@mail.uni-wuerzburg.de

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